Monthly Archives: August 2017

Lize Spit – Und es schmilzt

Eine Frau fährt mit einem Eisblock in einer Tiefkühlbox durch die flämische Provinz. Wie es dazu kam und was hinter der Aktion steckt, das erklärt Lize Spit in ihrem Debüt Und es schmilzt, das in Belgien sage und schreibe ein Jahr an der Spitze der Bestsellercharts stand.

Spit fährt in ihrem Roman zweigleisig. Die Rahmenhandlung bildet die Kurierfahrt des Eisblocks, die Eva frühmorgens beginnt. Immer wieder springt Spit mit der Angabe der aktuellen Uhrzeit zurück zu dieser Fahrt durch Belgien. Den Hauptanteil nimmt aber ein großer Flashback ins Jahr 2002 ein – es war ein Sommer, der Eva und ihre Freunde immer verändern sollte. Und am Ende dieses Sommers wird dann auch klar, warum sich nun Eva mit dem Eisblock im Gepäck auf den Weg gemacht hat – denn die Vergangenheit zieht ihre Kreise bis in die Gegenwart.

Stellenweise war ich während der Lektüre geneigt, in Lize Spit eine flämische Schwester von Charlotte Roche zu sehen, mit solcher Hingabe blickte sie im Detail auf Bereiche unserer Leben und Körper, die man normalerweise ausspart. Da wird die eigene Sexualität erforscht oder aus abgestanden Pfützen (Kaulquappen inklusive) getrunken. Das Personal ihres Buches sind Metzgersöhne, vernachlässigte Kinder aus dysfunktionalen Familien und generell Menschen, die man gemeinhin mit dem wenig treffenden Ausdruck sozial schwach versieht.

Ein Buch, das herausfordert

Und es schmilzt fordert den LeserInnen vieles ab – die ekligen Szenen sind das eine, zum Ende des Buchs kommen weitere explizite Schilderungen hinzu, auf die hier nicht tiefer eingegangen werden soll, um die Lesefreude nicht zu schmälern. Durch diese Passagen wird das Geschehen dann rund und verfugt die Vergangenheit mit den aktuellen Geschehnissen. Die psychologisch eindringlich gelungenen Szenen berühren und machen nachdenklich – und ließen mich das Buch dann schlussendlich unschlüssig zuklappen.

Stößt das Buch jetzt ab oder fasziniert es? Es ist wohl eine Mischung aus beidem, und darin liegt auch für meine Begriffe der Reiz des Buchs. Die Knausgard’sche Detailfülle entführt den Leser geradewegs zurück in die eigene Teenagerzeit und ruft mannigfaltige Erinnerungen wach. Auch der Kniff um den Eisblock im Kofferraum von Eva ist dazu angetan, den Leser bei der Stange zu halten. Und diese Qualitäten überwiegen für mich in der Endabrechnung trotz einer manchmal zu krassen und plakativen Schilderungswut der jungen Autorin.

Ich prophezeie, dass sich an diesem Buch sicherlich die Geister scheiden werden. Es gibt gute Argumente sowohl für Lobeshymnen als auch für Kritik oder gar Verrisse. Sicherlich ein Buch, das Potential für Debatten hat und das die Diskussionen der Feuilletons in diesem Bücherherbst dominieren könnte – und wie stets empfehle ich gerne, sich auch in diesem Fall einen eigenen Eindruck zu verschaffen und die Meinungen auch gerne hier kundzutun!

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Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

„Meine Güte, was für ein Leben.“, fasste Martha zusammen. „Der reinste Irrsinn“

Zehrer, Klaus Cäsar: Das Genie, S. 480

Das ist es tatsächlich, das Leben von William James Sidis. Dieses Leben beschreibt der 49-jährige Romancier Klaus Cäsar Zehrer in seinem Debüt Das Genie, das sich um jenen genialen Sidis dreht, der heute schon vergessen ist, hier aber ein Denkmal erhält.

Bis das titelgebende Genie das Licht der Welt erblickt, vergehen allerdings 150 Seiten. Auf diesen Seiten wird nämlich zunächst Boris Sidis vorgestellt, ein ukranischen Immigrant, der 1886 aus seiner osteuropäischen Heimat in Richtung Amerika flieht. Dort lebt er den amerikanischen Traum, stößt mit seinem völligen Fehlen von zwischenmenschlichem Geschick aber auch schnell alle Menschen seines Umfelds vor den Kopf . Kein Arbeitgeber will diesen starrköpfigen Mann lange beschäftigen, der sich zwar als hochintelligent erweist, es sich aber über kurz oder lang mit sämtlichen Chefs verscherzt.

Jener Boris Sidis findet im Forschungsgebiet der Psychologie schließlich ein Thema und in der Universität von Harvard ein Zuhause, das ihm die besten Möglichkeiten bietet, um den menschlichen Geist zu erforschen. Nach den 150 Seiten ist Boris nun Vater von William James Sidis geworden, einem Jungen, der zum Versuchsobjekt der Studien seines Vaters wird. Denn mit der von ihm ersonnenen Sidis-Methode kann jedes Kind zum Genie werden, so Boris. Und die Erfolge lassen tatsächlich nicht lange auf sich warten. In Rekordzeit erlernt Willam lesen, schreiben, Logik, Fremdsprachen und hält mit elf Jahren Vorlesungen in Harvard.

Vom Auf und Ab im Leben des James William Sidis

James William Sidis (Quelle: The Sidis Archive)

Doch mit zunehmenden Alter zeigt die Parabelkurve von Williams Leben wieder nach unten und man wird Zeuge, wie sich die Vorstellungen seiner Eltern und William selbst voneinander fortbewegen. Gerade die erste Hälfte des Romans ist noch recht unbeschwert, humorig und typisch Diogenes-rund, ehe dann im zweiten Teil aus der vergnüglichen Geschichte ein zunehmend desillusioniertes Porträt eines Mannes wird, den man obschon seiner Genialität bemitleidet.

Natürlich bietet Williams Leben in der Kindheit die Vorlage für viele Schrullen, die Beschreibungen seiner skurrilen Verhaltensweisen ist voller Komik. Doch immer wieder webt Zehrer Gedanken ein, die viel Raum für Reflektionen bieten. Wie viel Förderung und wie viel Forderung des eigenen Nachwuchses sind gut? Wie wichtig sollte Bildung sein – und was macht eine gelungene Kindheit aus?

All diese Gedanken und Beschreibungen machen Das Genie zu einem interessanten Leseerlebnis und wecken Interesse für dieses wahrlich kuriose Leben. Wer darüber noch mehr lesen möchte, dem sei dann an dieser Stelle noch Morten Brasks vor Kurzem erschienene Titel Das perfekte Leben des William Sidis empfohlen.

Eine weitere kleine Ergänzung auch noch an dieser Stelle: zusammen mit den Titeln Das Floß der Medusa von Franzobel und Justizpalast von Petra Morsbach ist das Buch nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2017. Herzlichen Glückwunsch hierzu!

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Zoe Beck – Die Lieferantin

Drogenhandel 2.0

In Zeiten, in denen Pitches und Start-Ups sogar zur Hauptsendezeit im Fernsehen Menschen fesseln, ist Zoe Becks Roman Die Lieferantin nur konsequent. Denn in diesem Buch entwickelt die Berliner Krimiautorin die Idee des herkömmlichen Drogenhandels weiter und präsentiert in Verbindung mit Drohnen, passender App und Onlineshop eine Vision des Drogenhandel 2.0.

In ihrem Roman drängt nämlich ein neues englisches Start-Up auf den Markt, das den althergebrachten Drogenmarkt revolutioniert. Per App lässt sich ganz einfach die passende Droge im Onlineshop bestellen – und ausgeliefert wird per Drohne. Anonym, schnell und sehr zuverlässig.

Die verschiedenen mit dem Drogen-Start-Up verbandelten Figuren bilden die Rahmenhandlung, die dadurch Drive gewinnt, dass ein Gastronom einen Schutzgelderpresser der Londoner Mafia tötet und damit eine Kettenreaktion lostritt. Die Mafia will wissen, wer hinter dem Verschwinden steckt und stößt bei ihrer Suche auf das Start-Up. Doch wer wirklich in dem Unternehmen die Fäden zieht, das ergibt sich erst nach und nach. Und währenddessen marschieren auf den Straßen nationale, rechtsgerichtete Kräfte, die ein völliges Verbot der Drogen fordern. Schon bald droht die Stimmung überzukochen.

Auch wenn Die Lieferantin laut Zoe Beck irgendwann in der Zukunft angesiedelt ist, wirkt ihr Szenario bedrohlich plausibel und nah. Längst sind die Drohnen am Himmel zu einem Alltagsphänomen geworden, schon lange zeichnet sich ab, dass der herkömmliche Kampf gegen die Drogenflut nicht zu gewinnen ist (man schaue sich nur die Crystal-Meth-Schwemme im Bayerisch-Tschechischen Grenzland an oder die Versuche Kaliforniens, Marihuana zu legalisieren).

In diese Zeit passt Die Lieferantin also ganz hervorragend, auch wenn die ganzen Brexit- bzw. Druxit-Bezüge im Buch für mein Empfinden etwas überstrapaziert waren. Denn auch ohne die klaren Bezüge auf die nationalistischen Brexiteers oder sontigen rechtsgerichteten Kräfte funktionert die Erzählung nämlich ganz hervorragend. Zoe Beck hat erneut ihren Finger am Puls der Zeit und präsentiert mit diesem Krimi einen hochaktuellen, spannenden und originellen Roman, dem man die in einigen wenigen Passagen etwas platten und plakativen Szenen gerne verzeiht. Zudem regt das Buch dazu an, die eigene Haltung zu Drogen und deren (Ent-)Kriminalisierung zu überdenken und lohnt von daher der Lektüre!

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Omar El Akkad – American War

Schon bevor die erste Zeile in diesem Roman des Journalisten Omar El Akkad gelesen ist, weiß man, worauf man sich bei American War einstellen muss. Denn vor dem Prolog des Buches prangen zwei Landkarten, die ein Amerika im Jahr 2075 zeigen, das mit unseren tradierten Vorstellungen kollidiert. Denn von Mexiko aus dem Süden ausgehend zeigt die Karte eine Zone mit dem Titel Mexikanisches Protektorat, die Vereinigten Staaten von Amerika und ein abgetrenntes Territorium mit dem Titel Freie Südstaaten.

Diese verschiedenen Zonen sind Ausgangspunkt für die Welt, die Omar El Akkad in seinem Debüt schildert. Startpunkt ist jenes Jahr 2075, von dem ausgehend die Handlung ihren Verlauf nimmt. Denn in Amerika herrscht zu dieser Zeit gerade Krieg, die Südstaaten haben sich von den USA losgesagt, Tod und Vernichtung landauf, landab. Man könnte meinen, die Zeit der Sklavenkämpfe sei zurück. Der Norden gegen die Blauen, Mexiko als Puffer im Süden und außerhalb des amerikanischen Territoriums die arabischen Staaten, die sich zum sogenannten Bouazizireich zusammengeschlossen haben.

Ein beunruhigende Vision, die wir durch die Augen von Sara T. Chestnut, genannt Sarat, beobachten. Diese wächst mit ihrer Familie in Louisiana relativ unberührt von den Schrecken des Bürgerkriegs auf. Doch schon bald stirbt Sarats Vater durch eine Bombe und die Familie wird zu Flüchtlingen und muss in einem Camp unterkommen. Bei Sarat setzt ein schleichender Prozess der Radikalisierung ein und so nährt sich in der heranwachsenden jungen Frau der Hass – bis es zu fatalen Verwicklungen kommt.

Eine Dystopie reinsten Wassers

Omar El Akkads Buch ist von lobenden Kurzzitaten der New York Times bis zur Washington Post bepflastert. Jene Zeitung hat es sogar mit zwei Zitaten ins Buch geschafft. „Der Roman für alle, die die Trump-Ära umtreibt“, ist auf einem Sticker zu lesen, der das Buch zusätzlich noch bewirbt.

Lässt man all das Marketing-Gedöns, alle vielbeschworenen Verweise auf die aktuelle Situation der USA beiseite und die Trump-Referenzen weg, was bleibt dann von diesem Roman?

American War ist eine astreine, über zwanzig Jahre erzählte Dystopie in klarer Sprache und mit einprägsamer Handlung. Neben der chronologischen, meist aus Sarats Perspektive erzählten Handlung streut El Akkad viele Dokumente wie etwa Protokolle oder Ausschnitte aus fiktiven Biografien ein, die die Hintergründe des amerikanischen Bürgerkriegs erklären.

Das alles vermischt sich zu einer bedrückenden und eindringlichen Vision, von der man sich wünscht, sie möge nie wahr werden. Andererseits realisiert man auch, dass das ganze Leid, das in die Zukunft und in die USA projiziert ist, bereits jetzt an zahllosen Stellen der Welt traurige Realität ist. So ist der Roman Dystopie und Parabel, Warnung und gute Unterhaltung zugleich.

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Kurz und Kompakt

Rebecca Hunt – Everland

Sie erzählt in ihrem Buch von zwei Antarktisexpeditionen, eine davon im Jahr 1913, die andere im Jahr 2012. Mit welchen Schwierigkeiten beide Teams zu kämpfen hatten und welche unerwarteten Probleme bei diesen Expeditionen auftauchten, davon berichtet die Autorin und springt dabei in kurzen Kapiteln immer zwischen den beiden Teams hin und her.

Das Problem, das ich allerdings mit Everland hatte, war, dass es Rebecca Hunt für mein Empfinden nicht schafft, aus dem Stoff eine packende Erzählung und tiefergehende Charaktere zu entwickeln. weder im 20. Jahrhundert noch in der Neuzeit sind ihre Forscher und Abenteurer viel mehr als Namen und Behauptungen. Das ist vor allem schade, da die Grenzerfahrungen im ewigen Eis eigentlich viel Raum für derartige schriftstellerische Unternehmungen böten. Wie man es besser macht, das hat für mich Dan Simmons mit Terror vorgemacht – hier wird aus den existenziellen Trips für mein Empfinden viel zu wenig gemacht (was auch gut daran gelegen haben kann, dass diese sommerlichen Temperaturen mich gerade weniger ins Ewige Eis locken konnten).

 

 

Tore Renberg – Wir sehen uns morgen

Der norwegische Autor Tore Renberg kreist in seinem über 700 Seiten starken Roman um ein Figurenensemble, das in Renbergs Heimatstadt Stavanger beheimatet ist. Da gibt es einen Vater mit Spielschulden, einen jugendlichen Ausbrecher, in den gleich zwei Mädchen verliebt sind, Möchtegern-Gangster und viele Personen mehr.

Drei Tage im September bilden den Rahmen des Buches; innerhalb dieser drei Tage springt der Norweger beständig von Figur zu Figur und knüpft so Fäden zwischen den ProtagonistInnen, dass am Ende ein starkes Beziehungsgeflecht entsteht.

Man muss sich wirklich auf Tore Renbergs Kosmos einlassen – seine Gestalten haben alle ihre Probleme, die Sprache ist derb und grob, die ständigen Anglizismen erfordern Durchhaltevermögen. Und dennoch gelingt dem Autor bei aller Düsternis eine klare Beschreibung und Skizzierung seiner Protagonisten, sodass sie Tiefe und Glaubwürdigkeit erhalten. Wer bereit ist, sich in dieses Geflecht zu verstricken und direkte Sprache über 700 Seiten auszuhalten, der bekommt ein Buch serviert, welches man im Gegensatz zu vielen nordischen Krimis nicht so schnell vergisst.

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