Category Archives: Kriminalroman

Jordan Harper – Alles schweigt

Los Angeles Noir: Stau, Schmutz und düstere Geheimnisse hinter der Hochglanzfassade Hollywoods. Showrunner Jordan Harper legt einen großartigen Großstadtthriller vor, der von der Verkommenheit der Stadt und ihrer Elite erzählt. Wie soll man den mächtigen Netzwerken dort das Handwerk legen, wenn Alles schweigt?


Wenn es einen Begriff gibt, der in den letzten Jahren steile Karriere gemacht hat, dann ist es unzweifelhaft der Begriff des Narrativs. Alles und jeder heute setzt auf ein Narrativ, eine Erzählung oder einen Spin, um Dinge zu erklären oder sich seine Thesen zurechtzuzimmern. Auch Mae, eine der beiden Hauptfiguren in Jordan Harpers Alles schweigt arbeitet mit dem Narrativ. Manchmal mit ihm, manchmal auch dagegen. Denn sie ist eine Art Spindoktor der öffentlichen Wahrnehmung in Los Angeles.

Dort, wo Hollywoodproduzenten, Politiker oder Schauspielerinnen in hoher Konzentration auftreten, ist auch das Risiko ein Fehltritts immer in der Nähe. Und Mae ist im Auftrag ihres Chefs Cyrus von der Agentur Mitnick & Associates darauf spezialisiert, solche Fehltritte auszubügeln oder wenigstens dafür zu sorgen, dass an den Skandalverursacher*innen in der Öffentlichkeit möglichst wenig hängen bleibt. Eine echte Narrativ-Arbeiterin also.

Niemand fragt, ob das wahr ist. Niemanden interessiert’s. Die Aufgabe besteht darin, Verantwortung und Macht zu trennen.

Jordan Harper – Alles schweigt, S. 44

Die Öffentlichkeitsarbeiterin und der Ex-Polizist

Wenn die Manipulation von Journalisten und Instagramfeeds nicht ausreicht, dann kommt in Hollywood der Ex-Polizist Chris Tamburro zum Einsatz. Dieser ehemalige Steroid-Junkie bietet auch nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst immer noch eine imposante Erscheinung, sodass er für seine Auftraggeber immer dann tätig wird, wenn Menschen eingeschüchtert oder mit purer Gewalt Ziele durchgesetzt werden sollen. So ergänzt Chris Maes Tun um eine physische Komponente – und auch früher waren die beiden ein Paar, ehe sie sich voneinander trennten.

Nun bekommen sie es in Jordan Harpers Krimi zunächst unabhängig voneinander mit zwei Fällen zu tun, deren Zusammenfinden aber nur eine Frage der Zeit ist. So beschäftigt die Öffentlichkeitsarbeiterin Mae neben Routinejobs wie der Rückführung einer suchtkranken Schauspielerin in die Erfolgsspur das außergewöhnliche Verhalten ihres Vorgesetzten. Dieser möchte sie unter den Augen der Öffentlichkeit zu einer Nachforschung in eigener Sache überreden. Doch ehe sich Mae genauer mit dem Anliegen ihres Chefs beschäftigen kann, wird dieser erschossen – und Mae wittert alles andere als einen Zufall hinter dem Raubmord auf offener Straße.

Auch Ex-Cop Chris ist besorgt. Denn er folgt den Spuren des Gangmitglieds, das Maes Chef erschossen haben soll. Immer stärker verflechten sich die Spuren der beiden Ex-Geliebten, die schnell die dunkle und gefährliche Seite Los Angeles‘ zu spüren bekommen. Denn zunehmend verdichten sich die Zeichen, dass einzelne, für sich wie Zufall scheinende Ereignisse, doch in größerem Zusammenhang zu stehen scheinen. Die beiden bekommen es mit mächtigen Netzwerken hinter den Kulissen der Traumfabrik zu tun. Netzwerken, denen man kaum beikommen kann.

Macht und Machtmissbrauch in allen Facetten

Jordan Harper - Alles schweigt (Cover)

Alles schweigt ist ein aktueller Thriller, der als Großstadtkrimi ebenso gut funktioniert, wie er auch die unterschiedlichen Facetten von Machtmissbrauch offenlegt. Mittlerweile sind durch die Prozesse um Harvey Weinstein, Jimmy Savile und Co. die (macht)missbräuchlichen Taten einflussreicher Männer im Showgeschäft zwar gut dokumentiert und in der Öffentlichkeit bekannt. Was dieses Treiben aber tatsächlich bedeutet, das führt Jordan Harper hier wirklich eindrücklich und nachvollziehbar vor Augen.

Besonders die Schweigenetzwerke und die stillen Bewahrer der Macht, die dafür sorgen, dass Täter immer wieder trotz Tuscheln hinter vorgehaltener Hand und eigentlich vorhandenem Wissen um die schlimmen Zustände davonkommen, nimmt sein Krimi in den Blick (der in der Kombination des englischen Originaltitels Everbody knows und dem Deutschen Alles schweigt eine bezeichnende Verbindung eingeht).

Zudem widmet sich Harpers Roman neben diesem Machtmissbrauch in der Hochglanzindustrie, bei dem die verschiedenen Zahnräder von großen Playern bis zu Vertuschungskünstlerinnen wie Mae ineinander greifen, auch dem Machtmissbrauch durch Polizeibehörden. Jordan Harper zeigt durch die Figur von Chris eine Welt, bei der sich organisiertes Verbrechen und Polizeibehörden eigentlich nur noch durch das Tragen einer Marke unterscheiden. So erzählt er von selbstherrlichen Polizeigangs, die diverse Gegenden terrorisieren und sich durch Korruption und Schweigen in ihrem Tun unantastbar und sakrosankt fühlen.

Ihm gelingt es beeindruckend, von korrupten Gangs mit tätowierten Erkennungszeichen, abgezweigten Drogen und illegalen Waffen zu erzählen, die eben nicht zum organisierten Verbrechen, sondern dessen eigentlichen Bekämpfern zählen. Ein Zustand, vor dem die Verantwortlichen schon längst kapituliert haben, wenn sie ihn nicht selbst weiter befeuern.

Einmal quer durch Los Angeles

Houchtourig ist dieser Roman, der Mae und Chris an verschiedenste Schauplätze Los Angeles bringt, von Obdachlosenlagern mit ergreifenden Schicksalen bis zu den Hügeln Hollywoods und den Luxusvillen am Mulholland Drive. Immer tiefer verstrickt er seine beiden Helden in die unsichtbaren Netzwerke von Mächtigen und deren Schutztruppen, gegen die ein Kampf aussichtslos erscheint.

Hier zeigt sich die Erfahrung Jordan Harpers als Autor, die er durch seine Tätigkeit als Showrunner für Serien wie Gotham oder The Mentalist zweifelsohne hat. Alles ist sauber gearbeitet, die verschiedenen Schauplätze werden gut beschrieben und der Plot nachvollziehbar und mit stetig anziehender Spannungsschraube entwickelt (der zudem von Conny Lösch wieder einmal sehr souverän ins Deutsche übertragen wurde, Wortneuschöpfungen wie den „Penner-Sprenger“ inklusive).

Mag das Cover mit seiner hellen Anmutung und den pittoresken Hügeln Hollywoods auch schöne Assoziationen an die Stadt der Engel wecken – im Kern ist Alles schweigt ein sozialkritischer Thriller über Machtmissbrauch, den aussichtlosen Kampf dagegen und das vielgestaltige vielgestaltige Stadtporträt Los Angeles‘ in düsteren Farben. In meinen Augen reiht sich das Buch hervorragend neben Ivy Pochodas grandiosem Diese Frauen, Steph Chas Brandsätze und A. G. Lombardos Stadtvermessung Graffiti Palast ein.


  • Jordan Harper – Alles schweigt
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-550-08151-4 (Ullstein)
  • 384 Seiten. Preis: 22,99 €
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Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge

Ein verschlafenes Nest irgendwo in England kurz nach dem Zweiten Weltkrieg- und eine ungeheure Anschuldigung, die nicht nur den lokalen Anwalt Robert Blair aufrüttelt. Josephine Tey erzählt in ihrem ursprünglich 1948 erschienenen Krimi Nur der Mond war Zeuge von der Suche nach Wahrheit zwischen Beschuldigten und Beschuldigerin – und der Sensationsgier der Boulevardpresse.


Es war doch seltsam, dachte Robert, als er in die Runde blickte, dass der Anlass zu dieser so fröhlichen, so warmherzigen, so geborgenen Familienfeier die große Not zweiter hilfloser Frauen sein sollte, die in diesem dunklen, stillen Haus zwischen den endlosen Feldern lebten.

Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge, S. 294

Anrufe, die einen kurz vor Feierabend erreichen, sollte man besser nicht annehmen. Meistens bringen sie nur Arbeit und vergällen einem den ruhigen Feierabend. Das ist eine Erkenntnis, die auch der Anwalt Robert Blair machen muss. Bei ihm ist es ein solcher nachmittäglicher Anruf, der ihn kurz vor seinem Aufbruch aus der Kanzlei erreicht. Versunken in der Behaglichkeit seines Daseins als Anwalt, bei dem nur die Keksauswahl etwas Abwechslung verspricht, macht er sich gerade auf, um die Dorfstraße von Milford hinabzupromenieren, als ihn der Anruf von Marion Sharpe erreicht, die ihn um anwaltlichen Beistand ersucht.

Ihrer Mutter und ihr wird nämlich ein ungeheures Verbrechen zur Last gelegt, was Blair nach seiner widerwilligen Annahme des Mandats direkt bei der Ankunft am einsam gelegenen Häuschen der Sharpes offenbart wird. Scotland Yard ist in Form von Inspektor Grant anwesend (der hier im Gegensatz zu den anderen Krimis der Reihe nur eine kleine Nebenrolle spielt) und die Zeichen stehen auf Sturm. Denn es ist der Vorwurf der Entführung und Misshandlung, der die Polizeibehörden auf den Plan gerufen hat, weswegen nun anwaltlicher Beistand für Mutter und Tochter Sharpe notwendig ist.

Im Gespräch kristallisieren sich rasch die Hintergründe für den Aufruhr heraus. So wurde ein junges Mädchen aufgegriffen, das schwere Anschuldigungen gegen die Sharpes erhebt. Es sei von Mutter und Tochter entführt und im „Franchise“ genannten Haus der beiden gefangen gehalten worden. Misshandlung und Zwangsarbeit seien an der Tagesordnung gewesen, ehe sich das Mädchen aus der Gewalt seiner Peinigerinnen befreien konnte.

Wer spricht hier die Wahrheit?

Josephine Tey - Nur der Mond war Zeuge (Cover)

Schwere Anschuldigungen, die die beiden Frauen weit von sich weisen und sich die Hilfe Roberts ausbedungen haben. Komplizierter wird der Fall dann auch noch, als das Mädchen bei einer Gegenüberstellung sämtliche Details aus dem Inneren des Hauses nennen kann, womit sich der Vorwurf der Entführung und Misshandlung erhärtet.

Obwohl zunächst noch widerwillig, verbeißt sich Robert schon bald in den Fall, der nicht nur in Milford für Aufsehen sorgt. Wer spricht die Wahrheit? Seine beiden Klientinnen oder das junge Mädchen, das sogar die Bespannung der Koffer im Schrank der Sharpes benennen kann? Da ja tatsächlich nur der Mond Zeuge der potentiellen Ereignissen gewesen zu sein scheint, steht es zunächst noch nach Aussage gegen Aussage. Scotland Yard sieht keinen Grund für weitere Untersuchungen, doch dann tritt die Presse auf den Plan. So wird der Fall durch eine Thematisierung in der Boulevardpresse rasch zu einer überregionalen Causa.

Das Ack-Emma genannte Revolverblatt setzt den Fall mit einer Inszenierung des jugendlichen Opfers auf die Titelseite – was für eine erhebliche Beschleunigung und Dynamisierung des Geschehens rund um die Sharpes sorgt. Leserbriefe werden geschrieben, sensationslüsterne Scharen von Besuchern wollen das „Franchise“ sehen, wo sich das Verbrechen mutmaßlich zugetragen hat – und je mehr der Boulevard spekuliert, umso aufgeheizter wird die Stimmung. Dabei sind die Steine, die gegen die Fensterscheiben der Sharpes fliegen, nur der Anfang….

Viel Wirbel in der Kleinstadt

Nur der Mond war Zeuge erzählt von den Kreisen, die eine Anschuldigung ziehen kann. So ist der Anruf, der Blair aus seiner Ruhe reißt, nur ein kleiner Dominostein in einer Kette immer dramatischer werdenden Ereignisse. Vor der Kulisse des kleinen Dorfs zeigt Tey, wie sich die Stimmung durch die skandalisierende Berichterstattung immer weiter aufheizt und wie die eh schon nicht so gut gelittenen Sharpes durch die Anschuldigungen zu Parias werden.

Josephine Tey erzählt mit einem genauen Gespür für die psychologischen und sozialen Mechanismen des Dorfs Milford. Während sich Robert Blair nach dem anfänglichen Hadern mit der Situation immer mehr im Fall verbeißt und selbst vom Anwalt zum Detektiv mutiert, wachsen auch die Zweifel an den unterschiedlichen Versionen der Geschichte. Wie kann es dem Mädchen möglich sein, die Beschaffenheit der Böden und die Anordnung des Dachfensters in der Kammer beschreiben, wenn es nie in dem Zimmer anwesend war? Immer stärker werden die Indizien, die Mutter und Tochter Sharpe und damit auch Robert Blair in die Bredouille nehmen.

Hellsichtig und gut beobachtet

Dabei ist dieser Roman eine genaue Studie des Dorfs, wie er auch die Dynamiken der öffentlichen Meinung in den Blick nimmt. Zwar mag man manche Meinung oder Äußerung eines Dorfbewohners und Polizisten heute mit Verwunderung zu Kenntnis nehmen (generell haben sich doch viele Ansichten deutlich überlebt) und nicht alles im Roman ist plausibel und sauber motiviert. Im Kern aber ist Nur der Mond war Zeuge aber ein sehr hellsichtiges und gut beobachtetes Buch, das auch nach über 75 Jahren immer noch wirklich lesenswert ist.

Nicht nur als ruhiger Kleinstadtkrimi, sondern vor allem als Beobachtung dieser beschriebenen Dynamiken funktioniert Nur der Mond war Zeuge ausgezeichnet, auch wenn man über manche Unplausibilitäten gnädig hinwegsehen sollte.

Schön, dass mit diesem Buch die schottische Autorin wieder neu entdeckt werden kann – ihr Werk ist es wert, Josephine Tey auch heute wieder oder erst recht zu lesen, auch wenn man den in der neuen Version titelgebenden Mond hier wirklich suchen muss. Mit einer passenderen Übertragung des Originaltitels „The Franchise Affair“ als der eher generisch wirkenden Titelwahl hätte man den Kern des Buchs besser getroffen – aber sei’s drum!


  • Josephine Tey – Nur der Mond war Zeuge
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié
  • Mit einem Vorwort von Louise Penny
  • Produktnummer 173832 (Büchergilde Gutenberg)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der beste deutsche Thrillerautor ist zurück – und wie. In Wie Sterben geht lässt Andreas Pflüger die Hochphase des Kalten Kriegs wieder auferstehen und erzählt von toten Briefkästen, hochrahmigen Quellen und einer jungen Frau zwischen den Fronten von BND und KGB. Ganz großes Kino!


Es ist eine „hochrahmige“ Quelle, die beim Bundesnachrichtendienst große Aufregung und Hektik verursacht. Denn die Quelle namens Pilger ist ein KGB-Agent in obersten Führungskreisen, der dem Nachrichtendienst in Pullach Einblicke in den russischen Machtapparat liefern könnte. Das Problem bei der Sache: die Quelle ist führerlos und hat sich ausgerechnet die junge Nina Winter als Führungsoffizierin ausbedungen.

Nina, die bislang als Analystin in Pullach arbeitet und vor einigen Jahren mit ihrer Mutter aus der DDR flüchtete, verfügt über keine nennenswerte Geheimdiensterfahrung, geschweige denn Wissen, wie man eine derart wichtige und sensible Quelle führt und abschirmt – und doch bleibt ihr fast keine Wahl, als in Moskau den Kontakt mit Pilger aufzunehmen.

Denn der BND mit seinem Präsidenten drängt auf die weitere Führung von Pilger, der seine Unverzichtbarkeit mit einem Hinweis auf die Enttarnung Günther Guillaumes als Spion der DDR eindrücklich unter Beweis stellte. Die Quelle muss gehalten werden und so ist es an Nina, die Zusammenarbeit mit der Quelle in Moskau fortzuführen. Damit gerät sie mitten hinein in den Konflikt der Großmächte und Geheimdienste, der Spionage und Gegenspionage. Es ist ein Spiel, das keine Fehler verzeiht, will man in diesem Kampf überleben.

Eine weitere Glanztat Andreas Pflügers

Andreas Pflüger - Wie Sterben geht (Cover)

Andreas Pflüger ist der große Spezialist, was die Welt der Geheimdienste, der Spionage und der hochtourigen Action anbelangt. Das stellte er in der Trilogie um die blinde Jenny Aaron unter Beweis, das zeigte er im trotz seines Alters von knapp zwanzig Jahren immer noch lesenswerten Thriller Operation Rubikon und das bewies er auch im zuletzt erschienen historischen Roman Ritchie Girl. Wie Sterben geht setzt diese eindrucksvolle Publikationsreihe fort, wenn sie sie nicht noch einmal auf ein neues Niveau hebt.

Denn vom actionreichen Beginn mit einem im wahrsten Sinne des Wortes explosiven Agentenaustausch auf der Glienicker Brücke bis zur Beschreibung des winterlichen Moskaus, in dem Nina unter der Bewachung durch KGB und Milizen irgendwie mit Pilger kommunizieren und verkehren muss, gelingt es Andreas Pflüger, große Szenen mit einer Sprache auszukleiden, die ebenso originell wie präzise, poetisch wie stimmungsgenau ist. Er zeigt Nina Werdegang von einer zielstrebigen Analystin bis hin zu einer abgebrühten Agentenführerin als durchdacht konzipierte Heldenreise. Ebenso ist es ganz Pflüger-typisch die Welt der Geheimdienste, die auch hier wieder einen Schwerpunkt bildet und die durch die Geschehnisse in Wie Sterben geht gehörig durcheinandergewirbelt wird und die Welt schlussendlich bis an den Rand einer Katastrophe bringt.

München, Moskau, Berlin

Das Ganze ist höchst abwechslungsreich gestaltet und entspinnt sich in der Handlung zwischen München, Moskau und Berlin, blickt auf die große Welt der Politik ebenso wie auf die überlebensnotwendige Symbiose zwischen Pilger und Nina, hat Raum für Romantik ebenso wie Verfolgungsjagden und besticht durch Spannung und Atmosphäre.

Neben der genau getakteten Action und dem vielschichtigen Spiel um Verrat und Vertrauen sind es auch diverse Geheimnisschichten, die Pflüger in Wie Sterben geht langsam entblättert. So sind Geheimnisse eines fiktiven Bildnisses von Anna Achmatova und in Gedichten versteckte Hinweise nur eine Facette dieses Romans, der bis zu potentiellen Verflechtungen von RAF, KGB und der Machtclique um Helmut Kohl reicht. Die Geschichte der Nachrichtendienste in der Zeit des Kalten Kriegs bekommt man hier ebenso erklärt wie das Spionage-Handwerk und die geheimdienstliche Paranoia, die den Kalten Krieg prägte und die Nina am eigenen Leib erfahren muss.

Besonders frappant sind dabei natürlich auch die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der scheinbar nahezu identischen Lage, in der wir uns nach dem Beginn des Überfalls Russlands auf die Ukraine befinden. Dass Nina Winter als Analystin mit dem sogenannten „Erdgas-Röhrengeschäft“ befasst ist, dass die BRD im Jahr 1982 gegen den Willen der Alliierten mit der Sowjetunion abschloss und die den Grundstein für die heutige Abhängigkeit von russischem Erdgas darstellt, ist nur eine Pointe dieses trotz seines historischen Sujets erschreckend aktuellem Roman.

Fazit

Hervorragend komponiert zwischen Rückblenden auf den Werdegang und die aktuelle Situation nach dem gescheiterten Gefangenenaustausch auf der Glienicker Brücke gibt dieser Roman zu keinem Zeitpunkt Ruhe, jagt hochtourig vor sich hin und verstrickt seine Hauptfigur Nina immer tiefer in das Geheimdienstgeflecht zwischen Zarizyno, Pullach, Boxkämpfen, Elvishits und Patriarchenteich.

Ein großer Wurf, der weder vor Komplexität noch vor spannungstechnischem Anspruch und Ambition zurückschreckt und alle Versprechen einlösen kann. Wieder einmal stellt Andreas Pflüger seine ganze kriminalliterarische Klasse unter Beweis und liefert mit Wie Sterben geht einen der besten Thriller des Bücherherbstes, wenn nicht des ganzen Jahres ab!


Weitere Infos zum Tagebuch Andreas Pflügers, geografischen, inhaltlichen und historischen Informationen gibt es auf der Spezialseite, die der Suhrkamp-Verlag für den Roman eingerichtet hat. Man findet ihn an dieser Stelle. Und auch das Interview, das Alf Mayer mit Andreas Pflüger führte, sollte an dieser Stelle noch Erwähnung finden.


  • Andreas Pflüger – Wie Sterben geht
  • ISBN 978-3-518-43150-4 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
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Don Winslow – City of Dreams

Don Winslow setzt seine Neuinterpretation der großen griechischen Dramenstoffe im Gewand eines Mafiathrillers fort. Erlebte Danny Ryan in City on Fire eine Wiederauflage des Trojanischen Kriegs mit, so sieht er sich nun gestrandet in fernen Gestaden und darf der Verwandlung seines Lebens in einen Kinofilm in der City of Dreams beiwohnen. Hochtourige Mafiaaction, souverän ausgeführt und packend erzählt.


Schon im ersten Teil der geplanten Trilogie um den Mobster Danny Ryan zitierte Don Winslow neben Homers Ilias auch die Aeneis von Virgil. Im zweiten Teil der Reihe wird dieses Epos nun zur Vorlage für die Abenteuer und Irrfahrten, die Danny Ryan erleben muss.

Im 2. Buch [der Aeneis] flieht er [Aeneas] auf Geheiß Jupiters aus der brennenden Stadt, um ein neues Troja zu gründen. Er kann seinen Sohn Ascanius (Iulus), seinen Vater Anchises und die Penaten retten, nicht aber seine Frau Krëusa.

Wikipediaeintrag zur „Aeneis“

So fasst Wikipedia die Handlung des insgesamt aus 12 Bücher bestehenden Epos von Virgil zusammen. Auch Don Winslow kennt das Epos sehr gut, orientiert sich City of Dreams stark an diesem antiken Handlungsbogen. Bei Winslow setzt die Erzählung unmittelbar nach den brutalen Geschehnissen in Rhode Island Ende der 80er Jahre ein. Dort hat der Zwist um eine schöne Frau den bisherigen Frieden zwischen irischer und italienischer Mafia abrupt beendet – und für viele Tote und großes Leid gesorgt.

Von Rhode Island nach Hollywood

Danny Ryan und seine Crew unterlagen im Kampf um Rhode Island und so befindet sich Ryan nun zusammen mit seinem Vater und seinem Sohn auf der Flucht. Ryans Frau Terri hat die Geschehnisse in City on Fire nicht überlebt und so ist es nun an Ryan, für das Überleben seiner Familie und seinen Penaten, seiner Mafiacrew zu sorgen.

Don Winslow - City of Dreams (Cover)

Immer weiter nach Westen führt der Weg der Crew, wobei die Geschehnisse rund um den Konflikt, korrupte Polizisten und die Falle, in die Ryan getappt ist, immer noch in dessen Hinterkopf herumspuken. Auch die DEA macht noch Jagd auf Danny, sodass an ein normales Leben in der Öffentlichkeit nicht zu denken ist.

Doch nach einigen blutigen Volten und einem Königsmord im Kreis der italienischen Mafia könnte nun alles in ruhigere Bahnen kommen. Ryans einflussreiche Mutter kümmert sich in Las Vegas hingebungsvoll um ihren Enkel, Danny gewöhnt sich langsam an sein neues Leben – doch dann steht neuer Ärger in Form der „Messdiener“ Kevin und Sean ins Haus. Die beiden so geheißenen Mitglieder seiner Crew sind nämlich Gerüchte zu Ohren gekommen, dass in Hollywood ein Film über die brutalen Ereignisse in Rhode Island gedreht werden soll – Ereignisse, die sie ja aus erster Hand kennen. Und so heuern sie als „Berater“ am Filmset an und sorgen für viel Aufmerksamkeit, die Danny eigentlich überhaupt nicht gebrauchen kann.

Doch auch er macht es nicht besser – denn als er in Hollywood aufschlägt, um die Probleme zu bereinigen, verliebt er sich in die Hauptdarstellerin seines eigenen Films und schlägt dafür alle bisher geltenden Sicherheitsmaßnahmen in den Wind und wählt nun statt eines Lebens im Schatten nun das Leben im Licht der hellsten Studioscheinwerfer der Traumfabrik. Damit macht er aber auch alte Feinde auf sich aufmerksam und bringt all das, was er sich erabeitet hat, in Gefahr.

Ein moderner Aeneas

Es sind zahlreiche Motive aus der Aeneis-Dichtung, die Winslow ganz organisch in seinen Thriller einwebt. Die Rückblicke auf den Untergang Trojas alias Dogtown, Dannys mächtige Mutter, die ebenso wie Venus im Originalepos die Irrfahrten ihres Sohns durch die Liebe zu einer Frau beenden möchte, der Königsmord in Form der Hinrichtung des italienischen Paten, all das kann man im Abgleich des historischen Stoffs und Winslows Bearbeitung leicht herauslesen.

Man kann sich aber auch einfach nur von der geschmeidig erzählten Prosa mitnehmen lassen. Sein Talent zur Rhythmisierung und filmischen Gestaltung zeigt Winslow hier in City of Dreams einmal mehr. Brutale Morde, Momente aufkeimender Liebe, Ryans Sorge um seinen Sohne und die gleichzeitig Gewalt, derer er sich bedient. Hier vereint Winslow unterschiedliche Tempi und Register zu einem überzeugenden Thriller, der trotz der Vielzahl an Schauplätzen und Beteiligten nie unübersichtlich zu werden droht.

Winslow hält die erzählerischen Zügel souverän in der Hand und leitet durch Ryans Versteckspiel, Machtkämpfe und große Gefühle, was sich in City of Dreams hervorragend miteinander verbindet. Schade einzig und allein, dass nach diesem Thriller nur noch einmal die Irrfahrten und Kämpfe des modernen Aeneas alias Danny Ryan zu erleben sein werden. Denn mit der vorliegenden Trilogie wollte Don Winslow dann seine schriftstellerische Karriere letzten Meldungen zufolge beenden. Man kann nur hoffen, dass er es sich noch einmal überlegt, denn Thrillerautoren dieses Kalibers haben wir zu wenige, als dass man auf Don Winslow einfach so verzichten könnte, besonders hierzulande!


  • Don Winslow – City of Dreams
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-365-00169-1 (Harper Collins)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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