Jon McGregor – Speicher 13

Es beginnt wie bei einer Netflix-Serie – ein junges Mädchen ist verschwunden, Suchmannschaften durchkämmen die mittelenglische Landschaft. Ein Hubschrauber knattert über der Szenerie, die Speicherseen und umliegenden Wälder werden durchsucht – ohne nennenswerte Spuren. Wer nun aber erwartet, einen Thriller über eine Kindesentführung und die verzweifelte Suche von Polizei und Angehörigen zu erleben, der sieht sich schnell getäuscht.

Denn Jon McGregor erzählt in Speicher 13 weniger einen Kriminalfall, denn eine komplexe Gesellschafts- und Naturstudie. Der Auftakt rund um das Verschwinden der jungen Rebecca Shaw legt da noch einige falsche Fährten, aber schon bald muss man als Leser erkennen, dass das Verschwinden kaum zu lösen ist. Immer spärlicher tröpfeln die Erkenntnisse über Rebecca ein, immer mehr Sand gerät ins Getriebe der Ermittlungen. Ganz langsam kehrt wieder so etwas wie Normalität im Dorfleben ein, als absehbar wird, dass das Mädchen so schnell nicht gefunden werden wird. Die Dorfgesellschaft geht langsam wieder zur Routine über, Rebeccas Angehörige müssen verzweifelt erkennen, dass sich die Welt trotz des Verschwindens weiterdreht. Auch die Natur nimmt weiter ihren Lauf, Nachwuchs wird geboren, Flüsse treten über die Ufer und der Kreislauf des Lebens wird immer wieder neu angestoßen.

Über zehn Jahre beobachtet Jon McGregor in seinem Roman (den Begriff Krimi möchte ich trotz des klassischen Einstiegs nicht verwenden) das Dorf und die umgebende Landschaft. Er beschreibt in Schlaglichtern die Veränderungen, die mit dem Verschwinden Rebeccas einhergehen, er interessiert sich für die Fauna genauso wie die kleine Dorfgemeinschaft, die das einschneidende Erlebnis prägt. Kinder werden erwachsen, Menschen sterben und das tragische Verschwinden eines Mädchens bringt das Rad des Lebens auch nicht außer Takt – für mich steht diese Erkenntnis als prägendes Motiv im Mittelpunkt von Speicher 13. Oder um es etwas flappsig mit der Lebensweisheit des Fußballtrainers Dragoslav „Stepi“ Stepanovic auszudrücken: „Lebbe geht weider“.

Einer Genreeinordnung widersetzt sich das Buch konsequent, als naturalistische Schilderung von Menschen und Natur trifft man das jüngst mit dem Costa-Award ausgezeichnete Buch in meinen Augen am besten. Klassische Spannungsleser werden mit diesem Buch sicher nicht zufrieden sein, wer allerdings Freude an breit angelegten Gesellschaftschroniken mit vielen Naturelementen hat, der wird hier glücklich. Für mich oszilliert dieses Buch irgendwo zwischen Dorfdrama und Entwicklungsroman, ganz unterschiedliche Bücher wie etwa Josef Bierbichlers Mittelreich oder Adam Thorpes Ulverton kamen mit bei der Lektüre in den Sinn. Ein eigenwilliges und besonderes Buch!

Speicher 13 erscheint im Münchner Liebeskindverlag. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Anke Caroline Burger. ISBN 978-3-95438-084-8.

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Stefan Heidsiek
6 Jahre zuvor

Meine Leseexemplar ist die Woche auch bei mir gelandet. Ich hoffe es zeitnah lesen zu können. Momentan fehlt mir allerdings irgendwie wieder die innere Ruhe zum Lesen. Was mich wurmt, da mir die derzeitige Lektüre eigentlich gut gefällt.