Alex Hay – Mayfair House

Während im Haus der Ball der Saison gegeben wird, räumt eine Truppe um die ehemalige Haushälterin das Herren – oder besser Damenhaus leer. Alex Hay transferiert in Mayfair House den klassischen Heist-Novel in die edwardianische Ära und macht damit erfreut damit die Herzen aller Downton Abbey-Nostalgiker.


Die Park Lane in London im Jahr 1905: hier befindet sich das spektakuläres Herrenhaus der de Vries‘. In Sachen Status ist dieses Haus ganz weit vorne. Eine Vielzahl an Zimmern, eine Bibliothek, ein Bakkaratzimmer, Kapelle, Vestibül und ein repräsentatives Treppenhaus. Dieses Anwesen hat alles, was sich der standesbewusste und mehr als wohlhabende Londoner zur Beginn des 20. Jahrhunderts nur vorstellen kann.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunkt, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Alex Hay – Mayfair House, S. 14 f.

Nein, Mrs King ist wirklich nicht mehr zu beeindrucken. Denn ihr, die als emsige Haushälterin den Laden zusammenhielt und für die Bewirtschaftung des prunkenden Gebäudes sorgt, wurde soeben gekündigt. Ein nächtlicher Besuch im männlichen Dienstbotentrakt wurde ihr zum Verhängnis – weswegen sie nun auf eine Rache sinnt, die es in sich hat.

Verlobungsball und Raubzug in einem

Denn während sich die Erbin Miss de Vries mit dem Gedanken trägt, einen Ball zu geben, legt Mrs King derweil eine erstaunliche kriminelle Energie an den Tag. Sie schart eine Gruppe von Frauen um sich, darunter die Schauspielerin Hephzibah und die Unterweltgröße Mrs Bone. Sie alle wollen gemeinsam das luxuriöse Anwesen leerräubern, während Miss de Vries gleichzeitig im Haus einen Ball gibt, auf dem ihre Verlobung bekanntgegeben werden soll.

Alex Hay - Mayfair House (Cover)

Diese unterschiedlichen Stränge verknüpft Alex Hay nach einem schnellen Einstieg mit einem Countdown, der die Kapitel einleitet und der die vierundzwanzig Tage in rascher Folge herunterzählt, ehe Ende Juni 1905 die allesentscheidende Nacht stattfindet. Dabei zeigt May die mannigfachen Vorbereitungen für den Ball und den Coup die sich widersprechen und bei denen sich – ganz genrekonventionell – Interessen, Pläne und Beteiligte gegenseitig in die Quere kommen, was der Brite mit viel Lust am Pomp und dem Clash der vielen weiblichen Figuren inszeniert.

Hat das Genre Genre des Heist-Movies oder des Heist-Plots nicht erst seit Eric Amblers Topkapi oder der vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen Oceans-Reihe Reihe von Steve Soderbergh immer wieder neue Interpretationen erlebt (man denke nur an die höchst erfolgreiche Netflix-Serie Haus des Geldes), so verschmilzt Hay mit großer Lust den Herrenhausroman (oder hier vielmehr Damenhausroman) mit dem leichtgängigen Krimiplot, bei dem Männer wirklich nur eine Randerscheinung darstellen.

Das ist unterhaltsam gemacht, hat durch die beiden konträren Abendplanungen Drive und wurde von Regina Rawlinson in ein passend altmodisches Deutsch gekleidet. Hier ist von Schmu und Kalamitäten die Rede – und man beaugapfelt sich gar. All das lässt das historische Flair dieser überwiegend im Mayfair House spielenden Geschichte wirklich aufleben.

Fazit

Insgesamt gelingt Alex Hay mit diesem Roman ein historischer Roman, der einerseits im Herrenhaus-Ambiente schwelgt, auf der anderen Seite aber mit den Dienstmädchen und den anderen am Clou beteiligten Frauen jene Figuren in den Blick nimmt, die in zeitlich ähnlich gelagerten Romanen eher nur am Rande vorkommen. Das macht aus Mayfair House einen kurzweiligen Lesespaß, der nicht nur England-Nostalgiker gut unterhalten dürfte!


  • Alex Hay – Mayfair House
  • Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
  • ISBN 978-3-458-64440-8 (Suhrkamp)
  • 405 Seiten. Preis: 20,00 €
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Stephanie Bishop – Der Jahrestag

Menschliche Beziehungen, insbesondere die Ehe, sie können durchaus komplex sein. Stephanie Bishop stellt in ihrem Roman Der Jahrestag eine solche Beziehung in den Mittelpunkt und blickt ganz tief hinein in ein kompliziertes Gefüge aus Nähe und Abstoßung, großer Entwicklungsbogen inklusive.


Es hätte die Gelegenheit sein sollen, um die angespannte Beziehung wieder in sprichwörtlich ruhigeres Fahrwasser zu führen. Zusammen mit ihrem Mann Patrick will die Schriftstellerin Lucie anlässlich des bevorstehenden Hochzeitstags eine Schiffsreise von Australien nach Japan unternehmen. Dabei plant sie als Überraschung einen Zwischenstopp in den USA ein. Denn Lucie, die unter ihrem Zweitnamen Joy-Beth alias J.B. Blackwood publiziert, hat es nach Jahren des unterdurchschnittlichen literarischen Erfolgs mit ihrem neuesten Buch geschafft. Sie ist für einen großen, prestigeträchtigen Preis nominiert und soll diesen in den Staaten erhalten.

Mit diesem Preis und der ganzen Kreuzfahrt sollen die Wogen geglättet werden, die sich in letzter Zeit zwischen den beiden nicht nur in Sachen Alter weit auseinanderliegenden Partnern aufgetürmt haben. Denn während Lucie mit ihrem neuen und so ganz anderen Roman reüssiert, ist ihr Mann Patrick zunehmend ausgebrannt. Als Regisseur und Dozent feiert er immer größere Erfolge, was aber nicht ohne einen Tribut an seine Freizeit und seine Kraftreserven abgeht. Immer eingeengter fühlt er sich, was auch auf die Beziehung zu seiner Frau durchschlägt. Und nun also die Reise nach Japan, ein neuer Start, Zeit für Erholung und Zweisamkeit.

Ehemann über Bord

Stephanie Bishop - Der Jahrestag (Cover)

Doch damit ist es in Stephanie Bishops Roman nicht weit her. Denn während der Überfahrt kommt es zu einem großen Streit zwischen Lucie und Patrick. Inmitten eines Sturms geht ihr Mann über Bord und wird kurze Zeit darauf tot aus dem Meer gefischt. Eine Tragödie, die Lucie völlig aus der Bahn wirft, fällt doch der Moment ihres größten schriftstellerischen Triumphs mit dieser Tragödie zusammen, die aufgrund Patricks Prominenz für viel öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.

Um wieder zu sich zu kommen, fliegt die Schriftstellerin zu ihrer Schwester in Australien, wo sie auf Ruhe und Abstand hofft. Während sie den Verlust zu verarbeiten sucht, erinnert sie sich in zunehmend Maße der komplexen Beziehung zu Patrick, die alles andere als leicht war. Der Beginn der Romanze zwischen ihr, der jungen Studentin, und ihm, dem arrivierten Dozenten, die unvergesslichen Momente, aber auch die erlittenen Verletzungen sind Thema der Rückschau, die uns Stephanie Bishop Stück für Stück serviert.

Je weiter Lucie in dieses Gespinst namens Ehe vordringt, umso desillusionierender wird das Ganze, bis sich sogar Fragen am Unfallverlauf Patricks stellen…

Die Sezierung einer Ehe

Ähnlich wie Lauren Groff in Licht und Zorn oder Claire Fuller in Eine englische Ehe ist auch Der Jahrestag ein Roman, der eine Ehe, deren Verlauf und Abgründe mit genauem Blick seziert und dekonstruiert. Stück für Stück zertrümmert die australische Professorin für Kreatives Schreiben die heile Welt von Lucie und Patrick und zeigt zwei facettenreiche Figuren im Ringen miteinander. In den richtigen Momenten nicht ganz konkret, dann wieder sehr detailliert und wenig schmeichelhaft ist diese Porträt Lucies, das Stephanie Bishop in Der Jahrestag zeichnet.

Besonders schön ist die Tatsache, dass Bishop diese genaue Introspektion der Ehe mit einer wirklichen Entwicklung ihrer Heldin zu verknüpfen weiß. So hält der über 450 Seiten lange Roman eine Schlusspointe bereit, der als in puncto Charakterentwicklung und Handlungsbogen die zuvor vielleicht etwas statisch erscheinende Innensicht hinter sich lässt. Souverän hält die Autorin die Fäden in der Hand und serviert ein intensives Ende, das in Verbindung mit der gekonnten Dekonstruktion dieser Ehe dafür sorgt, dass Der Jahrestag neben ähnlich gelagerten Romanen aufs Beste bestehen kann.

Fazit

Die Verzweiflung einer Frau, der Kampf um Abstand von Erlebtem und die Aufrechterhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung, all das sind Themen, mit denen sich dieser von Kathrin Razum aus dem Englischen übersetzten Roman beschäftigt. Ein genauer Blick auf ein kompliziertes Verhältnis, ein großer Handlungsbogen, ein Ehemann über Bord – Der Jahrestag hält psychologisch fein ausgearbeitete Unterhaltung bereit, die für mein Empfinden durchaus etwas mehr Aufmerksamkeit auf dem Buchmarkt verdient hätte. Neben den schon erwähnten Autorinnen Claire Fuller und Lauren Groff reiht sich Stephanie Bishop als souveräne Erzählerin hervorragend ein!


  • Stephanie Bishop – Der Jahrestag
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-423-28346-5 (dtv)
  • 464 Seiten. Preis: 26,00 €
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Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch

Literatur, die die Perspektive eines Affen einnimmt, kennt man seit Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie, der darin das Leben des Affen Rotpeter zwischen Mensch und Tier schildert. T. C. Boyles wendete Jahrzehnte später für seinen Roman Sprich mit mir eine ähnliche Erzählperspektive an, indem er einen Laboraffen zu einem Protagonisten in seinem Buch machte. Ein Roman, der aus der Sicht eines Berglöwen erzählt ist, das ist aber (zumindest für mich) neu. Henry Hoke wagt in seinem Roman Ganz wie ein Mensch das Experiment und erzählt von einem Berglöwen, der in den Hügeln Hollywoods umherstreift und einen ganz eigenen Blick auf die Menschheit dort drunten in „Ellej“ hat.


Einst lebten Berglöwen (beziehungsweise Pumas, so die geläufigere Benennung dieser Spezies hierzulande) in Amerika in einem Verbreitungsgebiet vom südlichen Kanada bis nach Patagonien, so weiß die Online-Enzyklopädie Wikipedia zu berichten. Doch die Bestände der viertgrößten Katzenart der Welt sind nicht nur in Amerika gewaltig geschrumpft. Erst langsam erholen sich die Bestandszahlen wieder und die Anzahl an Berglöwensichtungen nimmt zu.

Ein Berglöwe in den Hügeln Hollywoods

Im Falle von Henry Hokes Roman Ganz wie ein Mensch ist es der Großraum Los Angeles, in der sich eine dieser Großkatzen niedergelassen hat. Es ist ein historischer verbürgter Fall, auf dem sein Roman beruht, denn einen solchen Berglöwen gab es in den Hügeln der Millionenmetropole wirklich. Der Löwe namens P-22 lebte gute zehn Jahre dort, ehe er 2022 eingeschläfert wurde.

Ein Leben wie im Hollywoodfilm war es allerdings nicht, wenn man Henry Hokes und seiner Variante eines Berglöwens Glauben schenken darf. Denn es gibt kaum mehr Rückzugsorte für das Raubtier, Wasser ist Mangelware, ebenso wie „richtiges“ Essen. Hunger und Durst prüfen den Berglöwen und so offenbart er gleich zu Beginn seine Notlage mit folgenden Worte:

„Ich habe noch nie einen Menschen gefressen aber heute könnte es soweit sein“

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 7

Genügend Menschen zur Speise hätte er dort in den Hügeln der Millionenmetropole auf alle Fälle. Wanderer, Menschen in ihren Villen, Obdachlose. Bei seinen Streifzügen lernt der Berglöwe alle gesellschaftlichen Schichten kennen, die er belauscht und beobachtet. So versorgt ihn ein Zeltlager von Obdachlosen mit Essen, später bricht er in einen womöglichen Privatzoo ein und wird zum Kuscheltier der Tochter eines Villenbesitzers.

Angefetzte Sätze

In kurzen Flashs und Ellipsen blicken wir durch die Augen des Berglöwen auf das absonderliche Treiben dort in Hollywood. Henry Hoke nutzt dafür einen minimalistischen Stil, der auf Punkte und Kommata weitestgehend verzichtet und seine Sätze nur anfetzt, wie es ein Berglöwe mit seiner Beute zu tun pflegt (übersetzt von Stephan Kleiner):

Meine Mutter hat mir einen Namen gegeben den ich nicht verraten kann

Ich bin nicht aus Ellej ich bin bloß hier gelandet

Ich war ein Baby weit weg wo die Sonne untergeht

Einem tiefen Wald am Wasserufer wo wir nachts das Salz schmecken konnten das der Wind rübertrug

Wir

Denn da waren viele von uns auf dem grünen Hügel wo die Farben Farben waren die ich hier nicht sehe und Rehe rumstreunten denen wir bloß geduldig auflauern mussten um sie zu fangen

Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch, S. 42 f.

Vieles muss man sich selbst zusammenreimen durch diese Wahrnehmung des Berglöwen abseits unserer erlernten Muster erst zusammenreimen oder bekommt es an späterer Stelle im Buch halbwegs erklärt. Einfach macht es sich Henry Hoke weder seinen Leser*innen, noch sich selbst.

Das Erzählexperiment geht nicht ganz auf

Henry Hoke - Ganz wie ein Mensch (Cover)

Diese Gedanken und Wahrnehmungen des Berglöwen zu lesen, ist wirklich ein spannendes Leseexperiment, das aufgrund seiner Knappheit in Stil und Seitenumfang zu einer geradezu gehetzten Lektüre einlädt. Ganz geht das erzählerische Experiment in meinen Augen allerding nicht auf, etwa wenn der Löwe, der normalerweise von Santa Feh oder Ellej spricht, was er den Menschen abgelauscht hat, plötzlich des Englischen mächtig wird.

So kann er eine Musikaufnahme, die aus einer der Villen in den Hügeln Hollywoods dringt, plötzlich ganz korrekt zuordnen: Sie singt Living alone is all I’ve ever done well (S. 117).

Wie das funktionieren soll und der musikalisch ungebildete Löwe plötzlich polyglott und grammatikalisch einwandfrei Songtitel korrekt wiedergeben kann, das erschließt sich mir auch in der Logik des übrigen Erzählens nicht. Auch wäre vielleicht ein näher am Originaltitel Open Throat liegender deutscher Titel eine bessere Wahl gewesen für diese animalische Prosa denn das etwas im Ungefähren verharrende Ganz wie ein Mensch.

Fazit

Insgesamt aber ist Ganz wie ein Mensch ein schnelles, stilistisch rohes und minimalistisches Erzählexperiment, das zur Abwechslung mal aus den Augen eines Pumas auf Los Angeles blickt. Übersetzt von Stephan Kleiner gibt Henry Hokes Erzählexperiment Einblick in die Seele eines hungrigen Tieres und legt so dort in den Hügeln Hollywoods das Tierische im Menschlichen frei und umgekehrt.


  • Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-96161-188-1 (Eisele-Verlag)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rebecca F. Kuang – Yellowface

Was, wenn der größte schriftstellerische Erfolg der Laufbahn gar nicht aus der eigenen Feder stammt? Rebecca F. Kuang lässt in ihrem neuen Roman Yellowface eine junge Autorin am Literaturbetrieb verzweifeln, ehe sie in den Besitz eines Manuskripts gelangt, das ihr den großen Durchbruch beschert. Doch wie lange kann das gutgehen, sich mit fremden literarischen Federn zu schmücken?


Romane und Kinofilme über Schriftsteller, die sich fremde Werke aneignen, gibt es in rauer Menge. Im Kino konnte man im Jahr 2012 beispielsweise Bradley Cooper in Der Dieb der Worte dabei beobachten, wie er ein zufällig gefundenes Manuskript als das seine ausgab und damit großen Erfolg erzielte.

Martin Suter ließ in seinem Roman Lila, Lila ebenfalls einen erfolglosen Schriftsteller über ein verheißungsvolles Manuskript stolpern, das dieser in der Schublade eines alten Nachttischs fand. In der Folge des (mit Daniel Brühl in der Hauptrolle ebenfalls fürs Kino adaptierten) Romans verhedderte sich der junge Schriftsteller zusehends in seiner eigenen Geschichte.

Der erzählerische Stoff des Materialdiebstahls und der Aneignung eines fremden Werks ist also kein ganz neues Material, das sich Rebecca F. Kuang für ihren Roman Yellowface ausgesucht und verarbeitet hat. Dadurch, dass sie den ethischen Fall eines Manuskriptdiebstahls allerdings um eine ethnische Komponente erweitert, gelingt ihr ein sehr gegenwärtiger Roman, der von aktuellen Diskursen ebenso wie vom elitären Literaturbetrieb erzählt.

Eine erfolglose Schriftstellerin erzählt

Vorgebracht wird das alles in einem sehr umgangssprachlichen, von Jasmin Humburg treffend aus dem Englischen übersetzten Tonfall. Hier erzählt eine junge Frau namens June Hayward, der man gleich abnimmt, dass es mit ihren Romanen bislang noch nicht so wirklich hat klappen mögen. Denn der Tonfall der Ich-Erzählerin, er gleicht weniger dem einer ambitionierten und literarisch versierten Autorin mit breitem Sprachrepertoire denn einer Umgangssprache, die man im informellen Gespräch unter Freunden pflegt.

Rebecca F. Kuang - Yellowface (Cover)

Eine solche Freundin oder besser Bekannte gibt es auch tatsächlich in Junes Leben. Ihr Name: Athena Liu.

Seit Studientagen in Yale halten die beiden jungen Frauen Kontakt und tauschen sich regelmäßig aus. Im Gegensatz zu June ist die asiatischstämmige Athena aber eine erfolgreiche Autorin, die vom kreativen Schreiben gut leben kann. Jeder Roman aus ihrer Feder wird erfolgreicher als der vorhergehende – und so ein Deal mit Netflix für Athena auch nur ein weiterer Schritt auf der Karriereleiter, die für sie im Gegensatz zu June nur eine Richtung kennt, nämlich nach oben.

Plötzlich aber bietet sich für junge Autorin DIE Gelegenheit, selbst nach den literarischen Sternen zu greifen. Der Anlass dazu ist allerdings ein tödlicher. Denn bei der abendlichen Feier des Netflix-Vertrags erstickt Athena an einem Pancake – und June nutzt die Gunst der Stunde, um sich eines noch nicht fertigen Romanmanuskripts Athenas zu bemächtigen, ehe der Rettungsdienst eintrifft.

Per Yellowface zum literarischen Durchbruch?

Diese gestohlene Geschichte über das chinesische Arbeiterkorps, das im Ersten Weltkrieg von den Alliierten ausgehoben und verheizt wurde, ist ein Meisterwerk, wie June schnell erkennt. Nach einigen Umarbeitungen und gestalterischen Akzentuierungen bietet June das Manuskript über ihren Agenten an und erfährt plötzlich das, was ihr zuvor das ganze schriftstellerische Leben bislang versagt war, nämlich ein durchschlagender Erfolg.

Kritiker, Blogger, der Buchhandel – alle reißen sich um June Buch, die für das Buch über das Arbeiterkorps der besseren Marktgängigkeit wegen ihren Namen in Juniper Song abgeändert hat.

Doch diese Erfolgsgeschichte steht auf höchst tönernen Füßen und schon bald mehren sich kritische Stimmen aus der Verlagsbranche, der Kritik und den sozialen Medien, die den plötzlichen literarischen Erfolg von June in Zweifel ziehen. Wie kommt eine junge amerikanische, offensichtlich überhaupt nicht chinesischstämmig Frau dazu, sich so mit der Geschichte des Chinesischen Arbeiterkorps zu beschäftigen, noch dazu wenn sie nicht einmal ein Wort chinesisch spricht? Hat hier eine weiße amerikanische Frau kulturelle Aneignung betrieben und sich diesmal statt Blackfacing per Yellowface einen Erfolg erschlichen? Oder ist es noch schlimmer und das Buch stammt in Wahrheit gar nicht von ihr, wie es erste Stimmen im Internet insinuieren? Die Zweifel an June wachsen.

Literaturbetriebsroman und Hochstapler-Satire

Rebecca F. Kuangs Roman betrachtet und hinterfragt die Mechanismen des Literaturbetriebs auf spannende Art und Weise und erzeugt bei der Lektüre viele Fragen. Wo fängt überhaupt eine eigene schöpferische und kreative Leistung an? Wie weit darf man in seinem Streben nach literarischer Anerkennung gehen und welche Ausschlusskriterien des Buchmarkts machen es Schriftsteller*innen schwer? Und wer darf denn überhaupt worüber erzählen, wo beginnt kulturelle Aneignung und was darf Kunst?

Yellowface beschreibt sehr gegenwärtige Diskurse und Debatten, die auch hierzulande in Ansätzen geführt werden. Eindrücklich zeigt Rebecca F. Kuang, wie sich der Misserfolg auf dem Buchmarkt anfühlt und wie schwierig es sein kann, dort Fuß zu fassen, wenn einen Verlag, Kritik und der Buchmarkt nahezu ignorieren. Dass Juniper eine larmoyante, selbstgerechte und bisweilen recht anstrengende Erzählerin ist, gehört da genauso zum Konzept wie die „einfache“ Sprache, die den Spagat zwischen der mediokren Autorin und Ich-Erzählerin und der gar nicht mediokren Autorin Rebecca F. Kuang gelungen schafft.

Ich werde immer die Schriftstellerin sein, die Athena Lia um ihr Vermächtnis brachte. Die verrückte, neidische, rassistische weiße Frau, die das Werk einer Asiatin stahl.

Rebecca F. Kuang – Yellowface, S. 377

Das trägt Züge einer nachtschwarzen Satire, eines Literaturbetriebsromans und natürlich auch einer Hochstaplererzählung á la Patricia Highsmith in sich. Diese Mischung kam in den USA bereits sehr gut an, wo das Buch auf TikTok als auch bei den großen Verlagshäusern sehr präsent war und im Vereinigten Königreich gar den neu initiierten Preis des Amazon Best Book of the Year gewann.

Und auch für Deutschland ist ein ähnlicher Erfolg nicht ausgeschlossen, bietet das Buch doch abgesehen von den Komponenten, die in visuellen Medien wie TikTok oder Instagram Erfolg verheißen (markantes Coverdesign, trendiger Farbschnitt inklusive, passendes Merchandising) auch inhaltlich viel Anschlussfähigkeit.

Diese stilistisch vermeintlich einfache und höchst unterhaltsame Geschichte wirft über ihr plaudriges und manchmal larmoyantes Parlando hinaus durch ihre ethnische Komponente auch viel ethische Fragen auf. Der kritische Blick auf den Buchmarkt in seiner ganzen Undurchlässigkeit ist mit kleinen Einschränkungen ebenso auf die Verhältnisse hierzulande übertragbar und in Sachen Debattenton nähern wir uns ja auch inzwischen das ein ums andere Mal den im Buch karikierten Auseinandersetzungen an. Insofern dürfte Rebecca F. Kuang auch hierzulande ein großer Erfolg beschieden sein.

Fazit

Mit Yellowface stellt Rebecca F. Kuang einmal mehr ihre stilistische und thematische Wandelbarkeit unter Beweis und erzählt die Geschichte einer kulturellen Aneignung im Milieu des Buchmarkts. Ihr gelingt eine nachtschwarze Satire, die von den Mechanismen des Buchmarkts ebenso erzählt wie von der Skrupellosigkeit ihrer Erzählerin, die uns hier in diese (hoffentlich nicht geklaute) Geschichte hineinlockt. Ein großer und leicht zugänglicher Lesespaß, der seine ganze ethische Dimension langsam entfaltet.


  • Rebecca F. Kuang – Yellowface
  • Aus dem Englischen von Jasmin Humburg
  • ISBN 978-3-8479-0162-4 (Eichborn)
  • 383 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €
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