Tag Archives: Ehe

Nathan Hill – Wellness

Wie kann sie aussehen, die moderne Ehe? Nathan Hill unternimmt in seinem zweiten Roman Wellness einen vielschichtigen Erkundungsversuch und spürt ihr in den Weiten Kansas‘, im gentrifizierten Chicago und sogar im Swingerclub nach. Ein großartiges und abwechslungsreiches Leseerlebnis, trotz seines Umfangs keineswegs zu lang!


Kommst du? Mit diesen Worten beginnt die Liebesgeschichte, die im Mittelpunkt von Nathan Hills neuem Roman steht.

Erwies sich Hill mit seinem Erstling Geister als hellsichtiger Prophet, der noch vor der Wahl Donald Trumps am Rande seines Romans von einem egoistischen und wenig präsidialen republikanischen Präsidentschaftsbewerber erzählte, so hat er sich für seinen zweiten Roman die Gabe des genauen Blicks bewahrt. Dies stellt er unter Beweis, indem er von Jack Baker und Elizabeth Augustine erzählt, die sich schon seit geraumer Zeit als anonyme Beobachter ihrer gegenüberliegenden Wohnungen im Chicagoer Stadtviertel Wicker Park vertraut waren.

Nathan Hill - Wellness (Cover)

Aber erst ein Abend im Jahr 1993 sorgt dafür, das aus den Voyeuren ein wirkliches Paar wird. Denn Jack fotografiert in der vielfältigen Musikszene, als er an einem Abend bei einem Gig aufstrebender Bands seine so häufig beobachtete Nachbarin Elizabeth entdeckt. Mit einem „Kommst du?“ lockt er diese zunächst in die Chicagoer Nacht hinaus und wenig später in ein gemeinsames Leben hinein.

Dieses Leben steht im folgenden reichlich wilden, aber erzählerisch höchst durchdachten Montagegewitter im Mittelpunkt und wird von Hill von allen Seiten betrachtet. Dafür springt er in der Zeit nach vorne, zeigt Elizabeth und Jack als Eltern eines Sohnes, um dann auf die Herkunft der beiden zu blicken und vom Aufwachsen Jacks als schwächlichem Farmerkind in Kansas und Elizabeth als Erbin alten Geldes zu erzählen. So geht es in diesem Roman hin und her, der auch wie schon in Hills erstem Roman mit seinem Formenreichtum und den erzählerischen Einfällen überzeugt, wodurch sich die 730 Seiten deutlich kurzweiliger anfühlen, als es die schiere Zahl glauben machen will.

Die Frage nach der modernen Ehe

Die Widersprüchlichkeit in der Herkunft ist in Wellness genauso Thema wie die allesüberlagernde Frage, wie eine Ehe heute aussehen kann und wie das überhaupt gelingt, ein Paar zu sein.

Elizabeth hörte zu, während Kate sagte, das Problem moderner Ehen sei eigentlich das ständige Zusammensein, all die Vertrautheit, dieser dumme Drang, vollständig mit dem anderen zu verschmelzen, dabei könne eine Ehe nur die Jahrzehnte überdauern, wenn man ihr etwas Mysterium, Distanz und Eigenständigkeit injiziere, und als Elizabeth das hörte und sich ein Leben in völliger Unabhängigkeit ausmalte, gelegentlich gewürzt mit einer vergnüglichen und ethisch vertretbaren Affäre mit einem gut aussehenden Fremden in einer von allen Verantwortungen der Ehe oder der Elternschaft befreiten Nacht, wusste sie augenblicklich: Das war endlich eine Geschichte, die sie glauben konnte.

Nathan Hill – Wellness, S. 452

Wie Umgehen mit Routine und Vertrautheit? Welchen Konzepten als Paar kann man folgen und wie viel Freiheit bedarf das eigene Zusammensein? Soll es eher das Konzept der offenen Ehe sein, wie von Bekannten praktiziert, oder gleicht das eigene Miteinander eher dem Konzept, wie es etwa der Maler Grant Wood in seinem ikonischen Werk American Gothic zeigt?

Nicht nur an diesem Punkt müssen Elizabeth und Jack erkennen, dass sie eigentlich an ganz unterschiedlichen Punkten im Leben stehen und dass sie trotzdem zusammengefunden haben.

Wie zu einem Konsens finden, wie leben?

Als sich die beiden entschließen, ihr Erspartes in den Traum eines gemeinsamen Zuhauses zu stecken, treten auch hier große Differenzen und Herangehensweisen zutage. Während Elizabeth offene Fronten in der Küche und zwei verschiedene Eingänge in die Wohnung präferiert (eine gemeinsames Zuhause hat man ja schließlich für immer, die gemeinsame Beziehung nicht automatisch), ist Jack von einem solchen Ansinnen und solchen Überlegungen vollkommen befremdet.

Dabei stehen seine beiden Figuren nicht nur qua Herkunft für Antipoden. Während sich Jack in seiner Tätigkeit als wenig erfolgreicher Künstler und Dozent eingerichtet hat, strebt seine Frau nach mehr, nicht nur in der Erziehung des Sohnes, den sie als Psychologin studiengestützt bestmöglich erziehen will. Sie die neugierige und experimentierfreudige Placeboforscherin, er der Stoiker, den nur der Chat mit seinem verschwörungsgläubigen Vater in Rage zu versetzen vermag. Wie können die beiden zu einem Konsens finden – und geht so etwas überhaupt?

Immer tiefer bohrt sich Nathan Hill in die Psyche und die Beziehung seiner beiden Hauptfiguren hinein, lotet ihr Zusammensein aus und legt Schicht um Schicht die beiden gegensätzlichen Charaktere und deren Formungsgeschichte offen. Neben diesen achronologischen Tiefenbohrungen gelingen ihm darüber hinaus auch immer wieder grandiose Pointen und ebenso grandiose Passagen wie die Nacherzählung des Abgleitens des eigenen Vaters in die Verschwörungswelt des Internets, dargeboten in Form von sieben Algorithmen. Hier blitzt wieder die Aktualität und Passgenauigkeit für unsere Tage auf, die Hill schon in Geister an den Tag legte.

Fazit

Schrieb ich vor acht Jahren im Rahmen meiner Kritik zu Geister, dass sich hier ein verheißungsvoller junger Literat am Spielfeldrand aufwärme, um den altgedienten Recken des Great American Novel bald den Rang abzulaufen, so ist er mit Wellness für meine Begriffe nun wirklich im Spiel und mischt vollends bei den Großen des Genres mit.

Seine höchst unterhaltsame Schilderung der Ehe eines gegensätzlichen Paars vermag durch genaue Beobachtungsgabe, literarischen Formenreichtum und eine klug gewählte Montagetechnik zu überzeugen. Das ist Literatur auf der Höhe der Zeit, die Herz und Hirn gleichermaßen anspricht und nur so durch die Seiten fliegen lässt. Eine echte literarische Wellness-Behandlung, und das garantiert Placebo-frei!


  • Nathan Hill – Wellness
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-492-07214-4 (Piper)
  • 736 Seiten. Preis: 28,00 €
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Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
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Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Mit Nacht unterm Schnee liegt nun der Abschluss der autobiographisch grundierten Erzähltrilogie Ralf Rothmanns aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor. Darin tauchen viele Figuren auf, die man aus dem Rothmann’schen Erzählkosmos bereits kennt, allen voran der Melker Walter, das Alter Egos von Ralf Rothmanns Vater. Im Mittelpunkt des Romans steht aber die Ich-Erzählerin Luisa, die bereits in Der Gott jenes Sommers, dem Mittelteil von Rothmanns Triptychon, die zentrale Rolle spielte.

Nun, nach den Erlebnissen an der Heimatfront, hilft sie in der Nachkriegszeit in der Gaststätte ihrer Eltern in Kiel aus und macht die Bekanntschaft mit Elisabeth, deren bewegte Geschichte sich erst langsam ergibt. Die Klasse von Im Frühling sterben erreicht das Buch aber leider nicht.


Welch ein hehrer Wunsch, der Rothmanns Heldin Luisa umtreibt. Sie, die Halbwaise, will der Enge der elterlichen Schankstube im Hafen von Kiel entkommen, indem sie Bibliothekswesen studiert. In ihrer Jugend hat sie den Krieg und das Elend am eigenen Leib eindrücklich erfahren. Jetzt, in der Aufbruchszeit nach dem Weltkrieg erscheint ihr die Welt ganz offenzustehen. Sie verliebt sich, pflegt Affären und findet vor allem in der Person des Melkers Walter einen Seelenverwandten. Dieser ist mit Elisabeth verbandelt, der promiskuitiven Untermieterin von Luisas Mutter, die sie mit dem Führen der Kneipe beauftragt hat.

Walters ruhiges Wesen, sein Job als Melker auf einem Gut bei Missunde und sein Werben um Elisabeth faszinieren Luisa. Als Walter und Elisabeth Eltern des kleinen Wolfs (Rothmanns Alter Ego) werden, ziehen sie mit ihrem Kind ins Ruhrgebiet, wo Walter als Bergmann arbeiten wird. Doch der Kontakt zu den beiden reißt nicht ab und während sich Luisa in ihr Studium des Bibliothekswesens vertieft, geht auch das Leben des widersprüchlichen Paares im Ruhrgebiet weiter.

Vertrautes Personal, vertraute Geschichten

Um seine Geschichte zu erzählen, setzt Ralf Rothmann auf Altervertrautes. Abermals reißt er die Lebensgeschichte von Walter an, wenngleich die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg hier nur angedeutet werden. Auch Luisa ist Leser*innen der Trilogie vertraut. Noch immer liebt sie Bücher und macht jetzt ihre Leidenschaft zum Beruf.

Elisabeths Geschichte ist die, die nun im letzten Teil im Mittelpunkt steht. Ihre Erfahrungen aus dem Weltkrieg verbinden sich hier mit dem Nachkriegs-Porträt der Frau, zu deren Lebensmaximen nicht unbedingt Treue und Ehrlichkeit zählen.

Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee (Cover)

Nun ist Vertrautes und die stilistische Variation von Themen und Motiven in einem schriftstellerischen Oeuvre nichts, das man unbedingt bekritteln könnte. Wenn das Ganze dann aber eher zur Kopie und dem Pastiche der eigenen Werke wird, dann ist das für mich allerdings ein klarer Kritikpunkt. So könnte man über die erzählerischen Überlappungen der drei Bücher wirklich hinwegsehen, ergeben sich doch manchmal reizvolle Perspektivverschiebungen.

Aber gerade in der zweiten Hälfte von Die Nacht unterm Schnee hatte ich den Eindruck, dass Ralf Rothmann sein großartigen Ruhrgebietsroman Milch und Kohle einfach noch einmal geschrieben hat.

Die Beschreibung des Arbeitens der Bergleute unter Tage, ihre Kolonne auf dem Heimweg, die fremde Welt der Italiener im Pott, die biederen Abend mit der Suche nach Freiheit im staubigen Alltagstrott, die Enthemmung beim Tanz in der Kiezkneipe. All diese Beschreibungen bringt Ralf Rothmann nun auch in diesem Buch ein, das sich durch (zumindest in meinen Augen) nichts von dem bereits Erzähltem in seinem 2001 erschienenen Roman abhebt. Das ist schade, hätte es doch auch hier in Bezug auf Rothmanns eigene Kindheit im Ruhrgebiet noch vieles abseits der bekannten und schon auserzählten Bilder gegeben.

Fazit

So bleibt ein nicht wirklich überzeugendes Lesegefühl bei mir zurück. Natürlich sind die literarischen Talente Ralf Rothmanns unbestritten, auch hier kann er wieder unvergleichlich gut die dumpfe Enge der Ruhrgebietsstube mitsamt ihres Gelsenkirchener Barock oder die warme, dampfige Atmosphäre eines Kuhstalls schildern. Seine Beschreibungen des Melkhandwerks sind derart plastisch, dass man nach der Lektüre selber das Handwerk halb erlernt zu haben meint. Auch sind die Figuren wieder wunderbar gelungen.

Und doch ist mir da zu viel Bekanntes und bereits Erzähltes, das Rothmann hier einfach noch einmal aufbereitet, als dass ich das Gefühl habe, ein frisches Buch zu lesen, das mir einen neuen Blick auf Rothmanns Kindheit und das Nachkriegs-Deutschland erlaubt. Steigt man in den Erzählkosmos von Ralf Rothmann frisch ein, dann ist das Buch sicherlich ein Gewinn. Für Rothmann-Kenner*innen hingegen fehlt das Neue, kommt der Autor doch nicht über eine Variation bekannter Themen und Bilder hinaus.


  • Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
  • ISBN 978-3-518-43085-9 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast

Die Stufe biegt sich seufzend unter meinem Schritt, und mit einem leichten Ächzen, das ich Tausende von Malen gehört habe, springt sie zurück. Diesen Ort mit seinem Tuscheln und Wispern trage ich in meinen Knochen. Das sanfte Rascheln der Kiefernadeln unter meinen bloßen Füßen, die Schwimmbewegung der Karpfenfische, den würzigen Geruch von nassem Sand und Seewasser. Dieses Haus, aus Papier gebaut, aus geschredderter und gepresster Pappe, ist zu etwas Festem geworden, das der Zeit, den langen, einsamen Wintern standhält. Es droht zu verfallen und bleibt doch stehen, steht noch, Jahr um Jahr, wann immer wir zu ihm zurückkehren. Dieses Haus, dieser Ort, all meine Geheimnisse sind hier. Ich bin in seinem Gebälk.

Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast, S. 440

Gerne wird bei Büchern heutzutage ja der Vergleich mit Fernsehserien herangezogen, wenn die Soghaftigkeit des Geschriebenen unterstrichen werden soll. Die Kurzbiografie von Miranda Cowley Heller führt diese Engführung von Fernsehserie/Buch fort, wenn schon in den ersten Absätzen betont wird, wie viele Erfolgsformate Cowley Heller beim Fernsehsender HBO verantwortet hat. The Sopranos, Six Feet Under, The Wire sind preisgekrönte Serien, für die sich die Autorin kenntlich zeichnete.

Doch ist eine gute Serienmacherin auch eine gute Autorin? Im Fall von Miranda Cowley Heller ist diese Frage einigermaßen einfach und klar zu beantworten, nämlich ja! Denn mit Der Papierpalast gelingt der Autorin ein großartiger, intensiver, bisweilen erschütternder Roman über Liebe, Treue und die Frage, wie viel Geheimnisse man einer Beziehung zumuten kann.


Dabei beginnt alles an einem frühen Morgen im Papierpalast irgendwo an der Küste von Neu-England. Das so getaufte Feriendomizil ist Flucht- und Ankerpunkt der Familie von Eleanor. Ihre Mutter verbringt die Sommer dort, genauso wie ihre Tochter mitsamt deren Familie. Grillabende, Schwimmen und viel Lektüre geben dort in den Wäldern nahe der Atlantikküste den schläfrigen Sommertakt vor, dem sich alle gerne anpassen und ergeben.

Ein verhängnisvoller Fehltritt

Miranda Cowley Heller - Der Papierpalast (Cover)

Eleanor beschließt in der Früh eine Runde schwimmen zu gehen. Eine Feier am gestrigen Abend ist ausgeartet, die Kinder und ihr Mann liegen noch in ihren Betten, aber Eleanor findet keinen Schlaf mehr. Die Erinnerung an einen Fehltritt am gestrigen Abend treibt sie um. Ihr alter Jugendfreund Jonas und dessen Frau haben Eleanors Familie in deren Sommerdomizil besucht und gemeinsam hat man einen anregenden Abend mit Diskussionen, Alkohol und Erinnerungen verbracht. Im Laufe des Abends hat Eleanor heimlich mit Jonas geschlafen. Doch was eigentlich Schuldgefühle in ihr auslösen müsste, löst doch nur Verwirrung und Sehnsucht nach mehr aus.

Während nun Cowley Heller in kurzen Episoden in die Biographie Eleanors einsteigt, wird diese in der Gegenwart von Gewissensbissen und Fragen gequält. Wie wird sie Jonas und dessen Frau begegnen, umgeben von der eigenen Familie? Wie umgehen mit dem Fehltritt des gestrigen Abends – und war es überhaupt ein Fehltritt?

Interessant montiert und erzählt

Langsam ergründet Miranda Cowey Heller in den folgenden Abschnitten des Buchs die Geschichte Eleanors, ihre Beziehung zu Jonas (die von einem erschütternden Geheimnis geprägt ist) und die zu ihrem Mann Peter, den sie in England kennengelernt und anschließend geheiratet hat.

Das ist gut erzählt und überzeugt in der etwas verschachtelten Erzählweise des Buchs. Zudem vermag es Miranda Cowey Heller, ungemein bildstark und direkt zu erzählen, was schon auf der ersten Seite des Buchs mit einem Stilleben der gestrigen Festtafel beginnt und sich in die Schilderung der Natur Neuenglands mit ihren unergründlichen Toteisseen und den tiefenscharfen Figuren selbst fortsetzt (übersetzt durch Susanne Höbel)

Das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau

Der Amerikanerin gelingt es, das plausible und vielgestaltige Bild einer Frau zu zeichnen, die zwischen der Vergangenheit und Gegenwart, zwei unterschiedlichen Männern und damit zwischen der Sicherheit und Vertrautheit ihrer Familie und der aufregenden Liebe ihres Lebens steht.

Dabei ist Der Papierpalast deutlich mehr als nur ein Sommerbuch oder die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern. Denn das Buch erzählt von verdrängten Lügen aus der Vergangenheit und der Frage, wie viel Wahrheit und Ehrlichkeit man seiner Ehe zumuten kann. Cowley Heller erkundet den Grenzbereich zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und dem Wunsch nach Aufregung und Neuem. Was ist einem ein Aufbruch wert und was ist man bereit, dafür zurückzulassen? Für das Buch spricht auch, dass uns Cowley Heller diese Frage mit ihrem offenen Ende selbst überantwortet und sich so einer eindeutigen Antwort entzieht.

Fazit

Der Papierpalast ist ein Sommerbuch, das eine Frau vor einer richtungsweisenden Entscheidung ihres Lebens zeigt. Das Buch erzählt auch von sommerlichen Irrungen und Wirrungen, ist ein Familienroman – aber dabei ebenso überraschend wie das verborgene Leben in den Toteisseen an der Küste Neuenglands.

Denn das Buch ist eben auch brutal, erzählt von Übergriffen, tödlichen Entscheidungen und der Frage, wer der richtige Partner im Leben ist. Ein tiefgründiges Buch, interessant montiert und mitreißend erzählt.

Ist auch eine Vita im Serienumfeld nicht automatisch der Garant für gute Unterhaltung, gelingt es Miranda Cowley Heller, mit ihrem Buch ebenso gut und kurzweilig zu erzählen und dabei überzeugendes Kopfkino zu erschaffen. Eine große Überraschung, die ich so nicht auf dem Schirm hatte und deren Lektüre mich sehr überzeugt hat.


  • Miranda Cowley Heller – Der Papierpalast
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3550-20137-0 (Ullstein)
  • 444 Seiten. Preis: 23,00 €
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Ralf Rothmann – Milch und Kohle

Er ist zweifelsohne DER literarische Chronist des Ruhrgebiets. Die Rede ist von Ralf Rothmann, der in seinem Werk immer wieder um die Themen Heimat und Erinnerung kreist. 2019 erschien in der Edition Büchergilde nun eine ganz besondere Ausgabe seines ursprünglich 2000 veröffentlichten Romans Milch und Kohle. Ein Paradebeispiel für die Aufwertung, die ein hervorragender Roman durch ebenso gute Buchgestaltung fürderhin erfahren kann.

Ralf Rothmann - Milch und Kohle (Cover)

Der Illustrator Jörg Hülsmann stammt selbst aus dem Ruhrgebiet und wuchs dort in den 70er und 80er Jahren auf, wie er im Nachwort des Buchs schreibt. Für die Illustration des Buchs hat er eine dunkle Farbgebung gewählt, irgendwo zwischen Graphitgrau und Kohlenschwarz. Seine Bilder von Kumpeln, Kneipen und Fördertürmen sind dunkel schattiert, nur ein immer wieder aufblitzendes Weiß kündet von der Hoffnung, die das Leben dort bereithält. Den ungemein sinnlichen Roman Rothmanns ergänzt Hülsmann um ausdrucksstarke Bilder, die in eine Wechselwirkung mit dem Roman treten. Man meint förmlich durch das ärmliche und verqualmte Ruhrgebiet zu stapfen und die Zechen in der Ferne am Horizont zu erahnen.

Als besonderer Clou fallen immer wieder illustrierte Bildkarten aus den Seiten. Sie zeigen mal ein Mofa, mal einen Plattenspielerschrank. Damit symbolisieren sie die Erinnerungen, mit denen es auch der Protagonist Simon in Rothmanns Roman bekommt. Er kehrt zurück in die Wohnung seiner Kindheit. Die Mutter ist verstorben, der Vater ist schon seit längerem tot. Wie die Bilder aus dem Buch fallen ihm dort im Ort seiner Kindheit wieder Erinnerungen entgegen. Erinnerungen an Orte, Freunde und Erlebnisse, die er schon längst verdrängt oder vergessen glaubte.

Fotografieähnliche Illustration ergänzen das Buch (Bildquelle: Büchergilde Gutenberg)

Erinnerungen an eine Jugend im Ruhrgebiet

Diese bringen eine fast untergegangene Welt wieder zurück ans Tageslicht. Eine Welt von Maggi, Gelsenkirchner Barock, Plattenspielern, paffender Nachbarn im Wohnzimmer, Bohnerwachs und Spießigkeit. Simon erinnert sich zurück in die Zeit seiner Jugendjahre. Die Beziehung seiner Eltern, die nicht unbedingt von Glück geprägt war. Die Mutter, die immer zum Tanz in die Kneipe Maus aufbrach. Der Vater, der unter Tage schuftete. Der Bruder, der nahezu unkontrollierbar war. Die Nachbarn, die Zucht von Kanarienvögel im Kohlenkeller und die ersten italienischen Gastarbeiter, die das Leben im Ruhrgebiet durcheinanderwirbelten. Daran erinnert er sich genauso wie an seine ersten Erfahrungen mit Frauen, den Ärger mit gleichaltrigen Halbstarken und die nächtlichen Touren auf dem Moped durchs Ruhrgebiet.

Ähnlich, wie beispielsweise Elena Ferrante das proletarische Milieu in Neapel zeichnet, gelingt es auch Ralf Rothmann hier, einen ganzen Kosmos voller Menschen, Sinneseindrücken und Dingen heraufzubeschwören. Seine Geschichte, die auch eine Coming of Age-Erzählung ist, lässt vor dem inneren Auge wieder die Tristesse und eskapistischen Momente des spießigen Malochermilieus entstehen. Sprachlich ist das Buch sehr genau und ausdrucksstark geraten.

Die Bilder Hülsmanns ergänzen diese Eindrücke sinnig. Zusammen mit dem schwarzen Buchschnitt und den feinen Details gelingt der Büchergilde so eine ganz besondere Ausgabe dieses genau beobachtenden und beschreibenden Romans. Ein wirkliches Kunstwerk in literarischer und optischer Sicht. Auch oder gerade für alle Menschen außerhalb des Ruhrgebiets.


  • Ralf Rothmann – Milch und Kohle
  • Illustriert von Jörg Hülsmann
  • Erhältlich bei der Büchergilde Gutenberg
  • 216 Seiten. Preis: 26,00 €
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