Tag Archives: Frankreich

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns

Mona Lisa, du musst wandern. Tom Hillenbrand schildert in Die Erfindung des Lächelns den Raub der Mona Lisa als voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich, das für viel Chaos und Verwicklungen sorgt. Polizei, Okkultisten, eine Tänzerin, eine Bande Gesetzloser und sogar Pablo Picasso, sie alle jagen hinter „La Joconde“ her, die erst ihr Diebstahl zum Mythos werden lässt, wie Hillenbrand in seinem zweiten historischen Roman zeigt.


Am späten Abend des 31. Dezember überquerte die Mona Lisa die französische Grenze. Sie hatte den Louvre als Gemälde verlassen, nun kehrte sie als Mysterium zurück.“

Florian Illies – 1913, S. 296

So ist es in Florian Illies‚ 2012 erschienenem Bestseller 1913 zu lesen, in dem der Raub der Mona Lisa fast schon zum Running Gag wird. In seinem erzählenden Sachbuch schaltet er wie der Reporter einer Fußballkonferenz immer wieder nach Paris in den Louvre, wo Monat für Monat das Ausbleiben von Leonardo da Vincis berühmtesten Gemälde zu beklagen ist, ehe es nach seinem Diebstahl 1911 erst über zwei Jahre später nach Hause findet.

Tom Hillenbrand verwandelt nach seinen Ausflügen in die kriminelle Welt der Kulinarik (seine Xavier Kieffer-Krimis), die der Science Fiction (QUBE) und der Kryptowährung (Monte Crypto) nun nach Der Kaffeedieb nun in seinem zweiten historischen Roman die Leerstelle, die durch den Raub der Mona Lisa entstand, in einen turbulenten Reigen, der von Anarchisten, Künstlern und Ermittlern bis hin zu Okkultisten reicht.

Zwischen Anarchisten und Okkultisten

Es ist eine verhängnisvolle Leerstelle, die sich im Salon Carré des Paris Louvre offenbart, als dieser am 22. August des Jahres 1911 seine Pforten öffnet. Inmitten der erschlagenden Fülle von Meisterwerken ist es das kleinformatige, auf Holz gemalte Bild der Mona Lisa alias „La Joconde“, das nicht mehr an der Stelle hängt, an der es sich eigentlich befinden sollte.

Tom Hillenbrand - Die Erfindung des Lächelns (Cover)

Der Aushilfsmaler und Handwerker Vincenzo Peruggia hat das Gemälde Leonardo da Vincis an sich genommen, was eingedenk der laxen Sicherheitsmaßnahmen im Louvre ein Kinderspiel war. Während der Diebstahl zunächst noch unbemerkt bleibt, entspinnt sich bald schon ein Hype um das fehlende Gemälde, der sich in Kinofilmen, wild titelnden Zeitungen und der Entlassung des bisherigen Galeriedirektors äußert. Ganz Paris scheint elektrisiert – und Hauptkommissar Juhel Lenoir von der Sûreté Générale macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Schönheit.

Dies ist allerdings nur einer von zahlreichen anderen Erzählstränge, die Tom Hillenbrand umeinander webt und deren Gemeinsamkeit das Kunstwerk der Mona Lisa ist, der alle Figuren in diesem Roman begegnen werden. Da ist zum Beispiel der Okkultist Aleister Crowley, der in einem heruntergekommenen Paris Hotel die Anrufung dunkler Mächte versucht, die skandalumwitterte Tänzerin Isidora Duncan, die wie einst Anita Berber mit ihrer freizügigen Tanzdarbietungen ganz Paris in Ekstase versetzt. Die Anarchistin Jelena, die unter ihrem Pseudonym Voltairine für einen Umsturz bestehender Verhältnisse eintritt oder eben Vincenzo Peruggia, der irgendwo zwischen Pechvogel, umnachteten Süchtigen und tumben Patrioten changiert.

Pablo Picasso als Retter der Mona Lisa

Sogar Pablo Picasso ist eine der Figuren, die den Plot des Romans erheblich trägt und der einer der Fixpunkte des künstlerischen Lebens ist, der am Montmartre und dem Atelier Picassos seine größte Ausprägung findet. Tom Hillenbrand zeigt ihn in seiner kubistischen Phase im Clinche mit Henri Matisse – und als entscheidender Faktor in Sachen Wiederauftauchen der Joconde (eine teilweise sogar historisch verbürgte Episode, wurde Picasso mitsamt dem Kunstkritiker Guillaume Apollinaire doch tatsächlich des Diebstahls der Mona Lisa verdächtig, da er sich im illegalen Besitz von Kunstschätzen aus dem Louvre befand).

Es ist ein munteres und höchst voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, das sich um die Mona Lisa entfaltet und das Hillenbrand durchaus auch mit Sinn für Komik zu gestalten weiß. So wird das Gemälde immer wieder geklaut und fällt auf teils abstrusen Wegen in die Hände seiner verschiedenen Protagonisten. Daneben zeichnet Hillenbrand auch ein Bild des immensen kulturellen Lebens, welches Paris zu einem wahrhaften Kreativquartier kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte. Braque, Duchamp, Picasso, Matisse, sind nur einige der Figuren, die den Leser*innen hier begegnen. Tanz, Malerei, Kunstkritik – alles strebt nach neuem Ausdruck und künstlerischer Entfaltung.

Mona Lisa – vom Gemälde zum Mythos

Nicht zuletzt blickt Die Erfindung des Lächelns ähnlich wie Florian Illies in 1913 auch hier auf den entscheidenden Wendepunkt, der aus der der Mona Lisa den Mythos machte, der sie heute zu einem der wohl bekanntesten Kunstwerke überhaupt machte.

Ein Ehepaar mittleren Alters nähert sich. Es handelt sich um Briten. Pablo versteht nicht, was sie sagen. Aber er erhascht das Wort „Gioconda“. Vermutlich erklärt der Mann seiner Frau unnötigerweise, was inzwischen jeder auf der Welt weiß: dass hier einst das berühmteste Gemälde der Welt hing.

Wobei das nicht ganz korrekt ist. Solange es hier hing, war das Gemälde bestenfalls mittel berühmt. Einer wie Pablo kannte es, natürlich. Aber der Großteil der Menschheit hatte noch nie von dem Bild gehört. Erst als die Joconde verschwand, wurde sie zu dem, was sie jetzt ist.

Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns, S. 221

War Leonardo da Vincis Porträt zuvor nur eines unter vielen Werken, das in der erschlagenden Fülle der Hängung im Louvre so kaum auffiel und selbst vielen Pariser*innnen unbekannt gewesen sein dürfte, so machte der Diebstahl aus der Joconde ein Gemälde, das die Massen faszinierte und nach seinem kurzzeitigen Ausflug in die florentinischen Uffizien dann in Paris zu einem Phänomen wurde, das sie bis heute darstellt.

Fazit

Diese Verschmelzung von Malereigeschichte, Heist-Coup mit einer Hommage an Arsène Lupin, Fantômas und Co, Parisroman, Kulturgeschichte und Kunstkrimi macht aus Die Erfindung des Lächelns einen historischen Roman, der gut zu unterhalten weiß und der das brodelnde Paris um 1911 hervorragend zum Leben erweckt.


  • Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns
  • ISBN 978-3-462-00328-4 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 512 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Zehn Jahre. So lange hat Thomas Willmann nach seinem Sensationsdebüt Das finstere Tal nichts mehr von sich hören lassen. Nun ist er zurück und legt mit Der eiserne Marquis einen innerlich wie äußerlich wuchtigen Roman vor, angesiedelt irgendwo zwischen sprachlichem Barock, Opulenz, Horror und Frankenstein-Neuinterpretation, der von der alten Sehnsucht erzählt, die eigenen Grenzen mithilfe der Technik zu überwinden.


Es ist die erste Begegnung mit dem Stahl eines Messers, die im Erzähler von Thomas Willmanns zweitem Roman die Faszination für alles Metallene und Mechanische weckt. So erzählt er in Form einer Beichte von jenem Zeitpunkt, als einst ein Messer in den Bauch seiner Mutter drang, um ihn per Kaiserschnitt auf die Welt zu befördern. Der Urgrund jener Faszination war gelegt, die ihn zeitlebens nicht mehr loslassen soll und die ihn in letzter Konsequenz in jene deprivierte Lage bringt, aus der heraus er in einem Kerker seine Lebensbeichte vor ein paar Ratten ablegt.

Ja, vor euch sitzt ein Mörder – und leugnet es nicht. Oder, genauer, denn lasst mich nicht jetzt schon wortbrüchig werden und halbe Wahrheit nur auftischen: Vor euch sitzt einer, der zwei Leben hatte. Und im ersten davon zum Mörder ward. Der aber – und drum gesteh ich’s frei, ohne mich um Eure Verdammnis oder Absolution zu scheren – in seinem weiten die Buße auch tat. Dem in seinem zweiten Leben dann alles genommen, gemordet ward. Dass er nun nichts mehr zu verlieren hat, nichts mehr zu erwarten.

Also kommt her, wenn Ihr mögt, und hört mich an. Lasst Euch nieder auf dem speckigen Stein, oder scharrt Euch ein genehmes Plätzlein, im Staub, da vor mir.

Kommt her, meine Ratten und lauscht.

Ich will euch meine Geschichte erzählen.

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis, S. 8

Dieses Leben, in dem der Erzähler zum Mörder wurde, sich neu erfand, um schlussendlich als Beichtender vor den Ratten im Kerker zu enden, Willmann erzählt es als groß angelegten Bilderbogen und Sprachrausch, der sich, ganz wie es der Erzähler in seinen vorausgeschickten Worten ankündigt, in zwei Teile stellvertretend für die zwei Leben aufteilt.

Aus der Provinz in die Kaiserstadt

Dieses Leben führt ihn im Jahr 1753 aus der Provinz nach Wien, wo er auf Initiative seines Oheims zum Lehrling eines Uhrmachers wird. Die Uhrmacherei, ihre filigrane Mechanik und die Technik faszinieren ihn ja schon seit der ersten Episode mit dem Messer, die er uns zu Beginn präsentiert. Erfüllung fand er im kleinen Dörfchen in K— an der T—- aber nicht. Dort gingen die Uhren noch sprichwörtlich anders, waren es doch „ungeschlachte Instrumente, die man hier baute, ihr Werk mit den derb-eckigen Holzzähnen offen entblößt im unverkleideten Eisenrahmen: In grobe Stundenbrocken und Minutenfetzen hackten und rissen sie Gottes ungeteilte Zeit mit hinkenden Ticken.“ (S. 25).

Thomas Willmann - Der eiserne Marquis (Cover)

In Wien hingegen findet er bei einem geduldigen Uhrmacher und dessen Frau Aufnahme. Während er sich in seiner Freizeit mit der Anfertigung von filigranen Spielereien und Versuchen beschäftigt, fasziniert ihn auch das Leben in der Kaiserstadt, das so viel schneller, lauter und bunter ist als jenes in der Provinz, der er entstammt. Nicht nur technische Verfeinerung seiner Fertigkeiten erfährt er dort in Wien, auch die Liebe findet er dort – allerdings in Form eines mehr als deutlichen Klassenunterschieds.

So entflammt er für Amalia, die Tochter eines Grafen aus dem Umfeld des Königshofs. Obwohl diese Liebe natürlich nicht sein darf, finden die beiden jungen Menschen Mittel und Wege, um sich für diverse Rendezvous zu treffen und zu begegnen.

Doch wie es klassischerweise mit einer solchen nicht standesgemäßen Liebe im historischen Roman ein Ende nimmt, so auch hier. Die Amour fou endet in einer Katastrophe und der Erzähler erfindet sich als „Jacob Kainer“ neu. Nach einer Episode als Eremit und Soldat im Dienst des Königs von Preußen macht er nach einer Kriegsverwundung auf dem Krankenlager die Bekanntschaft mit einem französischen Marquis, dem das Talent des Erzählers für alles Technische sowie dessen Faszination fürs Filigrane nicht verborgen bleibt.

Der eiserne Marquis als Bruder Frankensteins

Jenes zweite Leben wird zu einem, das man als einer Art französischer Variante von Mary Shelleys unsterblichen Klassiker Frankenstein oder Der moderne Prometheus lesen könnte. Denn wie einst Götz von Berlichingen, als der sich der Marquis auf einem rauschenden Ball einmal passend verkleidet, weist auch der französische Adelige eine Prothese anstelle seines Arms auf. Bei dieser handelt es sich allerdings um eine ungleich feinere und durchdachtere Variante, für die der Marquis Ersatz benötigt. Denn sein Arm verfällt immer mehr und schneller – und nun soll ihm der Erzähler eine neue hochfunktionale Hand aus Eisen anfertigen.

Doch das technische Projekt wächst sich bald zu einem aus, das schon bald keine Grenzen mehr kennt. So ist der mechanische Arm nur der Anfang, denn schon bald reißen der Marquis, sein Victor Frankenstein Jacob plus der Gehilfe Mael in ihrem Streben nach technischer Vervollkommnung und Überwindung des Todes sämtliche ethische Barrieren nieder.

Der eiserne Marquis erzählt vom Vertrauen auf die Technik als Lösung aller irdischen Unzulänglichkeiten. Wandelt Willmann in der ersten Hälfte des Romans noch auf recht klassischen (um nicht zu sagen hinlänglich bekannten) Pfaden in Sachen Bildungsroman und Liebe gegen alle zeithistorischen Widerstände, so schält sich in der eindrucksvolleren zweiten Hälfte des Buchs die Technologiegläubigkeit als großes Thema heraus, dem der Erzähler und der Marquis verfallen sind.

Ein historischer Roman mit Anleihen der Horrorliteratur

Da werden seltene Zitteraale importiert (die man aus den Beschreibungen Alexander von Humboldts kennt), Experimente an Mensch und Tier durchgeführt, die mesmerisierend Vorrichtungen und damit frühe Vorläufer der Elektrik getestet. In ihrem Drang nach Erkenntnis und Überwindung der menschlichen Beschränkungen in Sachen körperlicher Fähigkeiten und Sterblichkeit kennen die Beteiligten kein Einhalten mehr. Damit positioniert Willmann seinen eisernen Marquis sowohl inhaltlich als auch zeitlich zu als einen frühen Vorläufer der Horrorliteratur, der in Verwandtschaft zu Klassikern des Genres wie Mary Shelleys Frankenstein oder E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann steht.

Was im ersten Teil noch etwas handelsüblich und im zweiten dann zunehmend spannend wird, ist auch in seiner ganzen erzählerischen Anlage als rückschauende Lebensbeichte ebenfalls recht konventionell angelegt. Somit wäre das Ganze eigentlich ein historischer (Schauer-)Roman, wie man ihn in Ansätzen schon kennt – wäre da nicht diese Sprache, die Der eiserne Marquis weiter über das Gros ähnlicher Bücher hinaushebt und die auch Assoziationen zu Patrick Süskinds Das Parfum weckt.

Willmann gelingt es, über die ganze Lauflänge von über 900 Seiten einen geradezu barocken Sprachstil an den Tag zu legen, den er bravourös durchhält. Sprachburlesk sind die Schilderungen, die durch die literarische Veredelung Willmanns im zeittypischen Sound aus dem Rahmen fallen. Hier nähert sich ein Autor mit stimmigen Sprachmitteln der beschriebenen Zeit an, geht mit seinen im Roman verhandelten Themen aber auch weit über die Zeit des 18. Jahrhunderts hinaus.

Fazit

Die Fragen nach Potentialen und Grenzen der Technik, das Streben nach immer mehr Erkenntnis und technischer Abhängigkeit, das alles scheint hinter dem eisernen Marquis und dessen Streben deutlich auf. Sprachlich klar im 18. Jahrhundert verhaftet, gelingt Willmann ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklich machender Beitrag über Wissenschaftsgläubigkeit, Fanatismus und menschliche Hybris.

Das hätte dieses literarisch ambitionierte Werke auch durchaus zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des Deutschen Buchpreises gemacht – es bleibt nun nur zu hoffen, dass sich Willmanns zweiter Streich trotz der herausfordernden Länge zu einem ebensolchen Überraschungshit entwickelt, wie es Das finstere Tal vergönnt war.

Weitere Meinungen zu Willmanns barockem Sprachrausch gibt es auch bei Bookster HRO.


  • Thomas Willmann – Der eiserne Marquis
  • ISBN 978-3-95438-165-4 (Liebeskind)
  • 928 Seiten. Preis: 36,00 €
Diesen Beitrag teilen

Maria Borrély – Mistral

Schon kurz nach dem Beginn fällt der unabhängige Kanon-Verlag durch ein ambitioniertes Programm auf. Nun ist dem Berliner Verlag eine echte Entdeckung gelungen. In ihrem ursprünglich 1929 erschienenen Roman Mistral erzählt Maria Borrély ebenso präzise wie lyrisch von einem kleinen Dorf in der Provence, vom wechselseitigen Walten der Kräfte in der Natur und im Menschen und von einer unglücklichen Liebe


Manche Bücher gehen ungewöhnlichen Wege, ehe wir sie als Leser*innen zu Gesicht bekommen. Maria Borrélys Buch ist hierfür ein Beispiel, beginnt die Geschichte doch mit einer Vitrine in einer Kneipe im französischen Dörfchen Puimoisson. Dort, inmitten der Provence, verbringt die Übersetzerin Amelie Thoma regelmäßig ihre Urlaube und stieß beim Besuch einer Kneipe auf eine Vitrine, wie sie in ihrem Nachwort des Buchs erklärt. In jener Vitrine fanden sich neben den üblichen regionalen Spezialitäten auch die Erzeugnisse eines kleinen Verlagshauses, darunter den Roman Sous le vent von Maria Borrély. Schauplatz des Buches ist ebenjenes Dorf Puimoisson, in dem Thoma nun knappe 100 Jahre nach Erscheinen des Romans auf das Buch stieß – und begeistert war.

Der Grund ihrer Begeisterung ist nun in Thomas Neuübersetzung zu lesen, nachdem die ursprüngliche Übersetzung von Walter Gerull-Kardas im Züricher Scientia-Verlag aus dem Jahr 1939 datiert und in ihrer barocken Gestaltung dem vielschichtigen Ton von Maria Borrély nicht wirklich gerecht wurde, wie Amelie Thoma in ihrem Nachwort erklärt. Die Suche nach einem Verlag, der eine Neuausgabe des Werks wagte, trug in Form des Kanon-Verlags offenkundig Früchte und so gibt es nun eine französische Autorin zu entdecken, die genau auf Natur und Mensch blickt und mit ihrem Schreiben als eine der Vorreiterin der aktuell so boomenden Gattung des Nature Writing gelesen werden kann.

Le vent nous portera

Maria Borrély - Mistral (Cover)

Schauplatz des Romans von Maria Borrély ist die Region Haute-Provence in ihrer ganzen Fülle. Dort, auf und am Fuße des Plateaus gibt es den ganzen Reichtum zu entdecken, die die Natur so spendet. Mandelernte, später im Jahr der blühende Lavendel, Quitten, Salbei, Korn und dichte Wälder. Es ist nahezu ein Paradies, kostet den Menschen aber auch entbehrungsreiche Arbeit.

Die Umwelt gibt den Takt vor, nach dem die Menschen im kleinen Dörfchen hier leben. Gemeinsam trifft man sich abends im Schein der Lampe, um Mandeln zu pulen, während der Mistral ums Haus weht. Gemeinsam werden die Acker geeggt und besät. Man folgt dem Rhythmus der Natur, dem Werden und Vergehen, während die die verschiedenen Winde vom Plateau herab wehen und durch die verlassenen Viertel des Dorfs streichen.

Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen. […].

Die dichten, glänzenden Halme kommen ihm vor wie das volle Haar der drallen Erde. Den Falten des Geländes folgend, sind sie herrlich goldbraun gereift. Wo die Bäume ihnen Schatten geben, ist die Farbe weniger intensiv. An manchen Stellen sinken sie in schweren Bündeln um, als hätten sie einen Sonnenstich.

Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen.

Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen.

Maria Borrély – Mistral, S. 53

Frühlings Erwachen

Während neben der Natur als Hauptdarstellerin mehr oder weniger das ganze Dorf das menschliche Personal des Romans bildet, schält sich bald die junge Marie als Ankerpunkt des auktorial erzählten Geschehens heraus. Sie spürt nicht nur die Kräfte der Natur im Frühjahr erwachen – auch in ihr wirken die Kräfte der Natur und lassen die Sehnsucht und das Begehren erwachen. Ziel von Maries Leidenschaft ist der junge Müllersknecht Olivier Roure, der ihr den Kopf verdreht hat und den sie im Lauf des Frühlings und Sommers zunehmend begehrt.

Als sie im oberen Viertel herauskommt, sieht sie Olivier auf dem Karren und ist auf einmal atemloser als eben noch, während sie die steile Straße hinaufeilt.

Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünscht, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.

Unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Brüste ab wie zwei aufragende Wogen. Die runde Hüfte wiegt sich, schwingt. Die Blöße des schönen, erblühten Körpers strömt über, strahlt durch die schlichte Baumwolle, die an den kraftvollen Gliedern klebt, wie Licht durch einen Lampenschirm.

Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.

Maria Borrély – Mistral, S. 60

Die Kräfte der Natur walten auch in diesen beiden jungen Menschen. Und doch kann es, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, nichts werden, mögen auch Sinn und Sinnlichkeit noch so stark für die beiden jungen Menschen sprechen.

Alles andere als Kitsch

Man könnte es sich nun leichtmachen mit Maria Borrélys Roman und ihn des übermäßigen Pathos und Kitsch zeihen. Doch das wäre falsch, auch wenn es einem Sätze wie „Ihr Herz ist ein blühendes Feld, das nach Hoffnung duftet“ natürlich einfach machen.

Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Borrélys Buch ist unglaublich stimmig in der Art und Weise, wie sie Natur und Herz, Gefühl und Jahreszeiten hier zusammenbringt. Die knospende Natur, die auch in Marie waltet, die Kälte und Düsternis, die im Winter auf die junge Frau übergreift – hier schreibt eine Autorin mit einem tiefen Verständnis von Mensch und Natur, obschon man manches Sprachbild hundert Jahre später auch aufgrund wirklicher Kitsch-Autor*innen seither als abgegriffen empfinden mag.

Wie sie die Gegend dort in der Provence aber in hellen Farben schildert, wie sie den bäuerlichen Rhythmus und das Tagwerk, die versuchte Domestizierung von Äckern und Wäldern beschreibt, wie auf jeder Seite das Auge der Autorin für Ökologie durchscheint, das macht Maria Borrély in meinen Augen zu einer der frühen Vorreiterinnen der heute so boomenden Gattung des Nature Writing mit einer schon fast impressionistischen Sprachkraft, die Amelie Thoma im Deutschen nun erlebbar macht:

Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen.

Die Sonne sticht vom Himmel.

Manch einer ist noch am Dreschen.

Rund um die Stangen wächst kegelförmig der Haufen aus Körnern und Spreu. Ansonsten ist der Platz gefegt, das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt.

Maria Borrély – Mistral (S. 54)

Ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt

Sie erzählt vom Jahreskreislauf und findet immer wieder kraftvolle Metaphern, die man aus heutiger Sicht natürlich leicht als Kitsch abtuen kann, aber dabei außer Acht lässt, wie geschickt sie Natur und Sehnen verbindet.

Mistral ist ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt, die auf den ganzen 113 Seiten fast mit den Händen zu greifen ist. Zudem setzt Borrély in vielen Szenen auch auf eine großartig inszenierte Uneindeutigkeit in den Szenen, die verschiedene Lesarten erlaubt (unter anderem in der großartigen Schlussszene), und findet (auch vor allem dank ihrer Übersetzerin Thoma) Sprachbilder, die in ihrer Originalität überzeugen und bei einem bleiben, wie etwa dieses: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge“.

So bleibt nach der Lektüre der Eindruck, hier einer wirklich Wiederentdeckung beigewohnt zu haben, deren Alter von fast hundert Jahren man auch dank Amelie Thomas Neuübersetzung kaum merkt. Schön, dass die weiteren Romane dieser hochinteressanten Autorin mit ihrer Prosa, deren „Reichtum an Farben, (…) eigentümlicher Klang, (…)unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge“ auch Andre Gide rühmte, der Borrélys Werk begutachtete und zur Veröffentlichung im renommierten Gallimard-Verlagshaus empfahl, demnächst im Kanon-Verlag erscheinen sollen!

Fazit

Das Werden und das Vergehen, die Kraft der erwachenden Natur, die auch Marie spürt, die Sinnlichkeit, die das Begehren und das ganze Leben dort am Fuße des Plateaus hat, all das fasst die 1890 in Marseille geborene und später als Dorflehrerin in der Provence lebende und lehrende Autorin konzise zusammen. Natur und Mensch, Gefühl und Jahreszeiten, alles verbindet sich in Mistral auf großartige Weise, gekleidet in eine Sprache, die an vielen Stellen an Impressionismus erinnert, und in der die Sinnlichkeit einen großen Platz einnimmt.

Eine großartige Entdeckung, die Amelie Thoma hier gemacht und gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Diese Wiederentdeckung ist der beste Beweis, dass es sich auch im Urlaub mal lohnen kann, das literarische Angebot vor Ort mal genauer in Augenschein zu nehmen.


  • Maria Borrély – Mistral
  • Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-069-6 (Kanon)
  • 127 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Annie Ernaux – Der junge Mann

Ein Blick in die Schreibwerkstatt Annie Ernaux‚ und weit mehr als eine nachgereichte Gabe zur Verleihung des Literaturnobelpreises im vergangenen Jahr: ihre kurze autobiographische Erzählung Der junge Mann, die von einer Affäre genauso wie von Klassenunterschieden und dem Aufstiegsstreben erzählt.


Der Blick auf die reinen Äußerlichkeiten des Buchs lässt zunächst den Eindruck einer Mogelpackung entstehen, die ihren dünnen inneren Gehalt geschickt kaschieren soll. Gerade einmal vierzig recht spärlich und in großer Type bedruckte Seiten, dazu noch ein paar Seiten mit einer Werkauswahl der bei Suhrkamp erschienenen Bücher von Annie Ernaux, fertig ist Der junge Mann.

Ist das nicht eigentlich eher eine kleine Erzählung, die in einem Sammelband besser aufgehoben wäre, die hier mit viel Mühe und merkantilem Geschick zu einem Buch mit ambitionierter Preisgestaltung aufgeblasen wird?

Nein, auch wenn man das Buch als Leser wohl nicht länger als zehn Minuten brauchen dürfte. Denn das Buch nimmt im Schreiben von Annie Ernaux durchaus eine spannende Doppelrolle ein, ist es doch eine autobiographische Erzählung, die sich in ihr gesamtes Oeuvre einfügt und anknüpft. Zugleich ist Der junge Mann auch Werkstattbericht und Auskunft über Ernaux‘ eigenes Schreiben, der die prägenden Erzählthemen und den erzählerischen Ansatz noch einmal vor Augen führt.

Eine Affäre mit dem Zeug zum Skandal

Dabei beginnt alles wie eine umgekehrte Version von Peter Maffays Und es war Sommer.

Mein Gedächtnis lieferte mühelos Bilder vom Krieg, von amerikanischen Panzern in La Vallée, Lillebonne, von Plakaten mit General de Gaulle und seinem Käppi, von Demos im Mai 1968, und jetzt war ich mit jemandem zusammen, dessen frühste Erinnerungen bis zur Wahl von Giscard d’Estaing zurückreichten, wenn überhaupt.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 34

Das was Tessa Hadley im vergangenen Jahr in ihrem zu Unrecht kaum beachteten Roman Freie Liebe eindrücklich aber fiktiv beschrieb, Annie Ernaux hat es in der Realität selbst erfahren. Die leidenschaftliche Affäre mit einem jungen Mann, die sie als mittelalte Frau mit einem eigentlich festen Platz im Leben beginnt. Noch einmal die eigene Studentenzeit erleben, noch einmal den Rausch des Begehrens und der völligen Hingabe. Das ist es, was sie mit dem titelgebenden jungen Mann sucht und erlebt, wobei der junge Mann in ihrer Erzählung eigentlich ein konturloser Schemen bleibt, der nicht einmal einen Namen erhält.

Annie Ernaux und der junge Student

Annie Ernaux - Der junge Mann (Cover)

Die Affäre, in die sie sich kurz vor Beginn der Jahrtausendwende stürzt, ist dazu angetan, gesellschaftlich den Stab über sie zu brechen. Denn wenn sich ein Mann eine deutlich jüngere Geliebte nimmt oder sich in eine Affäre stürzt, dann ist das etwas, das gesellschaftlich kein Aufsehen erregt und weithin akzeptiert ist. Der umgekehrte Fall hingegen ist weitaus mehr dazu angetan, Aufsehen und offene Ablehnung hervorzurufen. Das muss auch Annie Ernaux selbst erleben, nicht nur am Strand von Capri, wo sie mit ihrem jugendlichen Geliebten den Sommerurlaub verbringt.

Sie mit 54 Jahren in der Menopause, er ein junger Student ohne viel Geld in einer bescheidenen Studentenbude. Und doch stürzen sich beide mit Wucht in diese Affäre, bei der Ernaux die Wochenenden bei ihm in Rouen verbringt, wo sie auch selbst einst studierte.

Er begegnete mir mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 17

Die Affäre mit dem jungen Studenten wird zugleich zum Portal in ihre eigene Vergangenheit, wenn in der Wohnung zum Liebesspiel Musik der Doors erklingt und sie in ihrer postkoitalen Ermattung auf der am Boden liegenden Matratze auf das gegenüberliegende ehemalige Krankenhaus Hôtel-Dieu blickt, in dem sie einst 1963 eine Abtreibung vornehmen ließ (was sich so wieder wunderbar ins Oeuvre Ernaux‘ einfügt, schließlich erzählte sie bereits in Das Ereignis von dieser Erfahrung).

Re-Enactment der eigenen Studentenzeit

Der junge Mann dient Annie Ernaux zum Re-Enactment ihres eigenen Lebens, ihrer Studentenzeit und jener Phase, mit der sie als arrivierte und gebildete Autorin eigentlich schon längst abgeschlossen hatte.

Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 21

Neben der Leidenschaft und der Zeitreise zurück in ihre eigene Studentinnenzeit zeigt ihr die Affäre aber auch ihr eigenes Vorankommen in der französischen Gesellschaft auf. Denn während der junge Mann in Armut lebt und sich mit kreativen Spartricks über Wasser hält, ist es doch ein gesellschaftlich gesetztes Leben, das Ernaux führt. Zwei Kinder mit einem Lehrer, akademische Bildung, literarische Erfolge als Autorin, alles ist da. Im Kontakt zu ihrer Affäre, der aus dem Prekariat stammt, dieses aber mitsamt sämtlicher habituellen Gepflogenheiten vom ostentativen Nicht-Wählen bis hin zu mangelnden Tischmanieren gar nicht ablegen will, kommt sie sich wie eine Bildungsbürgerin vor, die längst einen intellektuellen, aber vor allem sozialen Abstand zum Milieu und Habitus der Studentenwelt gewonnen hat.

So dient ihr die Affäre auch zur Selbsterkundung und zur Betrachtung des eigenen Lebensweges, auf dem sie mit dem jungen Studenten noch einmal mehr als nur einige Schritte zurückmacht, ehe die Affäre dann mit dem Beginn des neuen Jahrtausends endet. Die Klassenunterschiede, die in dieser Affäre offenbar werden, sie sind sowieso ein Lebensthema im Schreiben der Autorin – und in diesem Text wird das erneut ganz deutlich.

Die Poetik von Annie Ernaux‘ eigenem Schreiben

Was dieser Text zudem deutlich zeigt, das ist, wie Ernaux schreibt und ihre Poetik funktioniert. Denn das Konzept ihres Schreibens und ihres schreibenden Selbstverständnisses ist diesem Buch vorangestellt:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.

Annie Ernaux – Der junge Mann

Das beweist der Text ganz deutlich. Denn die Französin gesteht, dass sie den Abschluss eines Lebensabschnitts oder Erlebnisses braucht, um ihn schreibend zu verarbeiten. So ist die sich auflösende Beziehung zu dem jungen Studenten Ausgangspunkt für den Erfolg ihres Schreibprojekts über ihre eigene Abtreibung (wobei sie das Abstoßen des Fötus mit dem Abstoßen von der Beziehung mit dem Studenten engführt). Erst wenn etwas vorbei ist, dann kann etwas die Verschriftlichung beginnen. Das zeigt auch Der junge Mann und ist dadurch so etwas wie ein Schlüssel zum literarischen Selbstverständnis der Nobelpreisträgerin und das rechtfertigt in meinen Augen auch die große Form der Aufmachung, die keinesfalls eine Mogelpackung, sondern ein Schlüsseltext zum Werk von Annie Ernaux ist.

Fazit

Selbstbeschreibung und Selbsterkundung in einer Welt mit festgeschriebenen Rollenbildern, das Zertrümmern von Tabus, die radikale Offenheit, sie zeichnen Annie Ernaux‘ Schreiben aus. Und in Der junge Mann tritt genau das ganz deutlich zu Tage. Deshalb ist der Text weit mehr als nur ein kleiner literarischer Baustein im Gesamtgefüge von Ernaux‘ Werk, sondern ein zentraler Pfeiler, der ihr Schreiben und ihren Blick auf die Weltkonzentriert bündelt. Der Text zeigt fokussiert die schriftstellerischen Anliegen und Themen im Werk der Nobelpreisträgerin. Mit ihrem neuesten Buch erklärt uns Annie Ernaux, wie sie die Welt sieht und beschreibt. Und nicht zuletzt zeigt Der junge Mann, wie viel in einem kleinen Textkondensat stecken kann.


  • Annie Ernaux – Der junge Mann
  • Aus dem Französischen von Sonja Finck
  • ISBN 978-3-518-43110-8 (Suhrkamp)
  • 48 Seiten. Preis: 15,00 €
Diesen Beitrag teilen