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Stephanie Bart – Erzählung zur Sache

Von wem geht hier die Gewalt aus? Stephanie Bart rekonstruiert in ihrem ebenso umfangreichen wie überfordernden, genauen wie stilistisch vielfältigen Roman Erzählung zur Sache den Kampf des Staates gegen die RAF – und den Kampf ihrer prägenden Figur Gudrun Ensslin.


Der Mythos der RAF alias Baader-Meinhof-Gruppe ist auch nach fünfzig Jahre ungebrochen. Bis in unsere Gegenwart hinein beschäftigen sich Literatur und Film mit dem Komplex. Beispiele der jüngsten Vergangenheit sind etwa die Tatort-Folge Der rote Schatten aus dem Jahr 2017, in der Dominic Graf im Korsett des Krimiklassikers einige Ungereimtheiten der Todesnacht von Stammheim thematisierte. Auch Drehbuchautor André Georgi widmete sich in seinem 2018 erschienen Thriller Die letzte Terroristin der RAF in Form der 3. Generation, genauso wie es einige Jahre vor ihm schon Wolfgang Schorlau mit Die blaue Liste oder Tanja Kinkel 2015 mit Schlaf der Vernunft tat.

Stephanie Bart legt nun mit Erzählung zur Sache eine Aufarbeitung des RAF-Komplexes in Romanform vor, die in ihrem Anspruch, ihrer literarischen Vielfältigkeit und ihrem Umfang auf dem deutschen Buchmarkt einzigartig sein dürfte.

Ausgehend vom Attentat der RAF auf die US-Kaserne in Heidelberg im Mai 1972 entfaltet Stephanie Bart ihr Panorama der RAF und ihres prominenten Mitglieds Gudrun Ensslin, das bis zur Todesnacht in Stammheim im Oktober des Jahres 1977 reicht.

Gegen das Schweinesystem

Dabei beschränkt sich Bart nur auf wenige Episoden der Außenhandlung. Der Anschlag in Heidelberg oder die Befreiung Andreas Baaders im Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen 1970 bleiben kurze Momente im Roman. Der überwiegende Teil von Barts mit über 675 Seiten reichlich voluminösen Roman spielt hinter Gittern und erzählt von der ideologischen Denkarbeit Gudrun Ensslins, ihren Kämpfen gegen die Inhaftierung und dem Prozess in Stammheim, der eher einem Scheinprozess gleicht.

Stephanie Bart - Erzählung zur Sache (Cover)

Stephanie Bart denkt sich ganz weit hinein in ihre Figur Gudrun Ensslin, lässt durch sie die schikanösen Haftbedingungen erfahrbar werden, erzählt von ihrem intellektuellen Kampf gegen das „Schweinesystem“ und den Imperialismus und seine tausend Gesichter. Sie geht dabei genauso auf den ideologischen Hintergrund der RAF ein, wie sie auch Visionen der oftmals im Hungerstreik befindlichen Gudrun Ensslin schildert.

Auch der schikanöse Umgang des Rechtsstaats mit den Anwälten Croissant, Ströbele, Schily und Co ist in Erzählung zur Sache Thema – bis hin zu einer wortgetreuen Nachbildung der Redegefechte und juristischen Winkelzüge, mit denen die Justiz der RAF beikommen wollte.

Liest man Stephanie Barts Erzählung zur Sache, stellt sich schon nach wenigen Seiten die Frage, wie gerecht dieser Rechtsstaat in seinem Umgang mit den Gefangenen war – und wessen Verbrechen eigentlich schwerer wiegen. So erzählt Bart von den juristischen Winkelzügen, mit denen man kurzerhand die Briefe Ensslins an ihren Verlobten Baader einbehielt, wie die Justiz illegale Abhörungen durchsetzte und gegen die Anwälte der Beschuldigten ebenfalls einen regelrechten Krieg führte, der eines Rechtsstaat nicht würdig war.

Juristische Schikanen und zweifelhafte Winkelzüge

Verhaftungen, Durchsuchungen der Anwaltskanzleien, Schikanen im Gefängnis, illegale Abhörungen, Verweigerung von Privatsphäre und anwaltlichen Gesprächen, bis hin zum Niederbrüllen der Einwände, Befangenheitsanträge und hinterhältige Tricks des Vorsitzenden Richters Prinzing, um die Anwälte vom Verfahren auszuschließen. Liest man diese an dutzenden Seiten an Wortgefechten und Paragrafenreitereien, die die Intensität von Dokumentartheater und Gerichtsprotokollen besitzen, wird die aufgeheizte Stimmung im Gericht und in der Bundesrepublik der 70er Jahre wieder unmittelbar erfahrbar.

Wurde während der Corona-Pandemie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel des Rechtsstaates debattiert, zeigt sich bei im historischen Rückblick Stephanie Bart ein Rechtsstaat, der sämtliches Gespür für Maß und Mitte verloren hat. In ihrem literarisch vielstimmigen Re-Enactment des damaligen Prozessgeschehens nimmt sie einen direkt mit in den Gerichtssaal und die Gefängnisgänge in Stammheim, vermischt ideologisches Manifest, Knasterzählung, Gerichtsprotokoll und Reflektion über Recht und Unrecht bis hin zu einer Fortführung der von Ensslin und Co geübten Imperialismuskritik, die Bart bis in unsere Tage verlängert, etwa wenn die chinesische Firma Foxconn ihren Auftritt hat, die durch unzählige Suizide ihrer Belegschaft angesichts des Fertigungsdrucks für Kapitalismustreiber wie die Firma Apple in die Schlagzeilen geriet.

Eine mehr als herausfordernde Lektüre

Eines soll an dieser Stelle aber auch nicht verschwiegen werden: Erzählung zur Sache ist fordernde und harte Lesearbeit. So stilistisch elegant und einnehmend wie Barts vor knapp zehn Jahren erschienener Roman Deutscher Meister ist ihr neues Buch nicht. Nicht nur optisch ist dieses Buch kantig, setzt auf eine Vielzahl von Stilen und ein springendes Wir als Erzähler, mischt Stile und Gattungen, kombiniert Umdichtungen von Liedern mit Dialogprotokollen.

Zahlreiche historische Figuren wie der Philosoph Jean-Paul Satre haben ihren Auftritt. Überhaupt, der philosophische Überbau. Von Frantz Fanon bis Rosa Luxemburg reicht das Geflecht an Denkern und Theorien, mit denen Bart ihre Leser*innen fordert. Erzählung zur Sache setzt viel Wissen zur RAF und dem Geschehen der 70er Jahre voraus und empfiehlt sich einem Publikum, das durch Stefan Austs Klassiker der Geschichtsschreibung und die ein oder andere Dokumentation schon vorgebildet ist, zu fragmentarisch bleibt bei dieser Ideengeschichte des linken Terrors und dem Kampf gegen Imperialismus und faschistische Kontinuitäten der geschichtliche Rahmen, der sich auf kleine eingestreute Randbemerkungen beschränkt.

Fazit

Erzählung zur Sache ist ein Solitär in der Literaturlandschaft – sowohl was die Bearbeitung des RAF-Komplexes in literarischer Form, als auch die Herausforderung in Sachen Anspruch und erzähltem Inhalt betrifft. Stephanie Barts widersetzt sich allen Erwartungen an Gefälligkeit und taucht ganz tief ein in Ideologie und Denken der Gruppe in Form ihrer prägenden Figur Gudrun Ensslin. Genauso nimmt sie die Leser*innen mit in die Gänge von Stuttgart-Stammheim und die Gerichtssäle, in denen der Staat mit unlauteren Mitteln der Gruppe Herr werden wollte, wie Bart in Erzählung zur Sache zeigt.

Ihr gelingt ein monumentaler, literarisch vielseitiger, herausfordernder und bisweilen auch ermüdend genauer Roman, der das Wirken der Gruppe in den Jahren 1972 bis 1977 beschreibt, darüber hinaus auch auf unsere Gegenwart schielt, in der Imperialismus, rechte Umtriebe und Kapitalismus immer noch zu den Wesensmerkmalen der „BRD“ gehören.


  • Stephanie Bart – Erzählung zur Sache
  • ISBN 978-3-96639-078-1 (Secession)
  • 678 Seiten. Preis: 28,00 €
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Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

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Virginia Reeves – Ein anderes Leben

Auch in Zeiten steigender Energiepreise ist der Strom heute doch alles andere als ein Luxusgut. Er ist immer verfügbar, kann einfach über Steckdosen genutzt werden und ist so alltäglich, dass wir gar nicht mehr über ihn nachdenken. Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves entführt in eine Zeit, in der Strom noch Gefahr bedeutete und das Leben von Menschen ins Unglück stürzen konnte. Wir sprechen hierbei aber nicht vom Zeitalter der Entdeckung der Elektrizität, sondern vom ländlichen Alabama vor nicht einmal hundert Jahren. Ein neuer Beitrag in der Rubrik #backlistlesen.


Roscoe T. Martin hadert mit seinem Leben als Farmer. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einem Angestellten bewirtschaftet er die familieneigene Farm. Doch das Leben in den 20er Jahren in Alabama ist hart, der Ertrag der Farm reicht kaum zum Überleben. Da entschließt sich Roscoe zu einer folgenschweren Tat. Er will die Stromleitungen der Alabama Power Company illegal anzapfen, um Strom zur eigenen Farm zu leiten und dort die Dreschmaschine elektrisch anzutreiben. Das notwendige Wissen für die Manipulation besitzt er, da er eigentlich gelernter Elektriker ist und früher im Kraftwerk arbeitete, ehe er der Liebe wegen die Farm übernahm.

Der Fluch der bösen Tat

Virginia Reeves - Ein anderes Leben als dieses (Cover)

Doch der Fluch der bösen Tat lässt nicht lange auf sich warten. Nach seinem illegalen Abzapfen des Stroms ist es nur eine geringe Zeitspanne, in der alles zu laufen scheint. Bei einer Inspektion der manipulierten Leitungen erleidet ein Inspekteur einen tödlichen Stromschlag und Roscoe T. Martin und sein Kompagnon Wilson fahren beide ins Gefängnis ein.

Während Wilson als Schwarzer in den Minen untertage schuften muss, versieht Martin seinen Dienst im Kilby-Gefängnis in der Molkerei, später der Gefängnisbibliothek und trainiert mit einem Aufseher die Hunde, die zur Unterbindung von Fluchtversuchen eingesetzt werden. Dabei treibt ihn die Frage um, wie es mit seiner Familie und der heimischen Farm wohl weitergegangen sein mag. Denn von seiner Frau hat er seit seiner Verurteilung nichts mehr gehört. Und auch vor der Kommission, die über die Aussetzung der Gefängnisstrafen als Bewährung befindet, stehen seine Chancen schlecht.

Anklänge an Klassiker des Genres

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves zeigt die Geschichte eines Mannes, der das Gute wollte, doch das Böse tat. Sein Martyrium hinter Gittern schildert sie dabei in spannender Form. Denn es ergänzen sich im Hauptteil aus der Ich-Perspektive erzählte Passagen aus dem Gefängnis (was Erinnerungen an Klassiker des Genres weckt, etwa Stephen Kings Die Verurteilten) mit auktorial erzählten Schilderungen des Farm- und Familienlebens, das durch Martins Tat ins Unglück gestürzt wurde.

Gelungen schafft es Virginia Reeves, plastische Charaktere zu zeichnen und ihre Geschichte ohne übermäßige Schnörkel oder unnötige Passagen geradlinig und konzentriert zu erzählen. Der Rassismus, die Zwangsarbeit hinter Gittern, der brutale Umgang mit Gefangenen und die willkürliche Herrschaft der Obrigkeit wird von der Autorin eindringlich geschildert. Auch ist das Buch stark in seinem Aufzeigen, wie eine einzige, aus gutem Willen und wirtschaftlichen Nöten begangene Tat das Leben von einem halben Dutzend Menschen beeinflussen und entscheidend prägen kann.

Fazit

Virginia Reeves ist ein eindringliches Buch gelungen, das den amerikanischen Süden vor nicht einmal hundert Jahren heraufbeschwört. Dass sie es als Debütantin mit Ein anderes Leben als dieses auf die Longlist des Bookerprizes im Jahr 2016 schaffte (genauso wie Ian McGuire mit seinem Roman Nordwasser), das ist beachtlich und angesichts der Dichte und Präzision ihres Schreibens auch gerechtfertigt. Auch vier Jahre nach dem Erscheinen in der Übersetzung von Simone Jakob und Hannes Meyer ist dieses Buch noch absolut frisch und lesenswert und sollte als Backlistperle hier in der Buch-Haltung gerne Erwähnung finden.


  • Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob und Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-8321-9869-5 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Markus Gasser – Die Verschwörung der Krähen

Wenn man wie ich schon etwas länger ein öffentliches Lesetagebuch in Form eines Blogs führt, wird man unweigerlich öfter mit einer Frage konfrontiert: Schreibst du auch selbst etwas oder hast Lust auf ein eigenes Buch? Und auch wenn die Frage angesichts der steten Beschäftigung mit dem geschriebenen Wort und dem publizistischen Erfolg von anderen Bloggenden nahe liegt (man denke hier nur an die Bloggerinnen Mareike Fallwickl, Anbelle Stehl, Katharina Herrmann oder Berit Glanz, die den Wechsel vom besprechenden zum schreibenden Fach gemeistert haben), verneine ich diese Frage vehement.

Schreibende Buchkritiker*innen?

Denn so gerne ich Bücher anderer Autor*innen lese und meine Meinungen dazu kund tue, so entschieden lehne ich es ab, selbst als Autor hervorzutreten. Ich bin mir um die Durchschnittlichkeit meines eigenen Schreibens durchaus bewusst, sodass ich dem Buchmarkt eine weitere, mittelmäßige Buchproduktion angesichts der Schwemme an Titeln unbedingt ersparen will. Denn für mich steht fest: eine Liebe zum Buch und zur Buchkritik garantiert noch lange kein eigenes gutes Buch.

Das bewahrheitet sich für meine Begriffe leider auch im Falle von Markus Gasser, der den vielgesehenen Literaturkanal Literatur ist Alles auf Youtube betreibt. Seine Literaturkenntnis und Belesenheit teilt er dort mit einer Vielzahl von Abonnent*innen. Über 16.500 Menschen folgen den Besprechungen, Empfehlungen und Überlegungen des 1967 geborenen Österreichers. Seine mal in Emphase, mal im Furor, mal im raunenden Ton vorgebrachten Meinungen und Buchvorstellungen erzielen tausende Abrufe, begeisterte Kommentare und zeigen einen Mann von stupender Belesenheit. Und auch wenn ich die Buch- und Kritikwelt auf Youtube nur sporadisch verfolge, würde ich sagen, dass Markus Gasser verdient einer der größten Namen auf der Plattform ist, der einen akademischen Literaturzugang für eine breite Masse gewährleistet.

Das belletristische Debüt Markus Gassers

Nicht nur auf Youtube teilt er seine Literaturleidenschaft, auch sind bereits mehrere Sachbücher über Bücher erschienen, etwa das bei Hanser veröffentlichte Das Buch der Bücher für die Insel. Nun liegt mit Die Verschwörung der Krähen der erste belletristische Wurf des Literaturwissenschaftlers vor, der im Verlag C. H. Beck erschienen ist. Darin schildert Gasser die Lebensgeschichte des Daniel De Foe, der den meisten wahrscheinlich nur noch als Schöpfer des Weltbestsellers Robinson Crusoe ein Begriff sein dürfte.

Und eigentlich sind alle Zutaten da für einen packenden historischen Schmöker über den umtriebigen Daniel Foe oder Daniel De Foe, wie er sich selbst nannte. Geboren 1660 als Sohn von Presbyterianern war ihm ein Leben voller prägender Erfahrungen vergönnt. Als Kind erlebte der die Pest von London mit, ein Jahr darauf den Großen Brand und den damit verbundenen Neuaufbau großer Teile Londons unter der Leitung von Christopher Wren. Heirat mit Mary Tuffley, Ausgrenzung aufgrund seines presbyterianischen Glaubens als Dissenter, umfangreiches Schaffen als Vielschreiber, das ihn als Verfasser zahlreicher aufklärerischer Flugblättern in Opposition zur regierenden Queen Anne und an den Pranger brachte. Spionagetätigkeit, Flucht, Täuschung, Bestseller wie Moll Flanders oder Robinson Crusoe.

Ein wahrhaft (episoden-) reiches und hochspannendes Leben, das als Roman eigentlich ein Heimspiel sein sollte, noch dazu, da der Titel sogar eine Verschwörung versprach, somit sogar ein potentielles Spannungselement inkludierte.

Leider zäh und unübersichtlich

Markus Gasser - Die Verschwörung der Krähen (Cover)

Doch von Spannung kann zumindest nach meiner Lektüre bei Die Verschwörung der Krähen keine Rede sein. Denn anstelle eines packenden historischen Pageturners ist das Buch leider ein in weiten Teilen höchst zäher und unübersichtlicher Roman geworden. Und das trotz der Figur Daniel Defoe mit ihrem schillernden Leben.

Dabei beginnt alles ganz spannend mit einem betagten Insassen einer Kutsche, der im Jahr 1730 auf einen inszenierten Raubüberfall wartet. Es ist Daniel De Foe höchstpersönlich. Von hier aus springt Gasser zurück ins Jahr 1703, um von der Feindschaft De Foes und Königin Anne Stuart zu berichten, die De Foe sogar bis an den Pranger brachte. Von dieser Episode springt der Österreicher dann ins Jahr 1660 bis 1703, um den Bogen von Kindheit bis zum Erwachsenenleben De Foes zu spannen. Weitere Episoden folgen, etwa das Kapitel Fake News, das sich um De Foes Agitation als Flugblattschreiber und einziger Autor und Herausgeber der Review dreht. Daneben gibt es noch Einsprengsel, die an den Königshof und die Unterwelt Londons führen. So wird etwa ausführlich vom Verbrecherimperium Jonathan Wyldes erzählt, der als eine Art Unterwelt-König über London herrschte.

Komplotte, Intrigen und Langeweile

Für sich genommen sind das alles spannende Episoden und Ansätze. Aber dennoch wird kein konsistenter und überzeugender Roman aus dem Ganzen. Alles zerfällt in einzelne Kapitel und ist leider recht schwerfällig und kompliziert erzählt. Die zahllosen Intrigen und Küngeleien am Königshof um Queen Anne Stuart, ihren Kanzler Robert Harley, Sir Salathiel Lovell, den Staatssekretär Earl of Nottingham oder Geheimagenten Horatio Peregrin Smith alias „Smite“ ließen mein Interesse schnell erlahmen, da es für meine Begriffe an einer gewisse Übersichtlichkeit und klaren Personenführung gebricht.

Keine Woche verging, in der nicht zum Ärger Marys irgendein Beamter mit einer Verleumdungsklage oder ein Gläubiger an die Tür ihres Hauses pochte. Man setzte De Foe mit dem ältesten aller Vorwürfe zu, der den achtzehnjährigen Benjamin dazu brachte, sich den Zweitnamen „Norton“ zuzulegen: Ihn hätte De Foe auf Durchreise in Bristol – oder Colchester? – mit einer gewissen Miss Norton gezeugt. Seine Todfeinde nannten De Foe einen „Muschelöffner“, „Austernlecker“, „Dan den Trickster“, den „Hexer“ und „die Krähe“ – hinterlistig, schwatzhaft, aasgierig, teuflisch. Besser wäre, es gäbe ihn nicht.

Das Schlimmste daran war, dass die Krähe ihnen zustimmte. Als „De Foe“ schrieb er in der „Review“ für die Konservativen, pseudonym gab er den Liberalen recht. Obwohl er Flottengeneral Marlborough bewunderte, erklärte er in der „Review“, der Kreis um Wharton wollte den Krieg mit Frankreich nur fortsetzen, damit sich Marlborough als Held feiern und nach einem Staatsstreich zum König krönen lassen könne.

Markus Gasser – Die Verschwörung der Krähen, S. 126

Es gebricht an Konsistenz

In seinen Bezügen und Anspielungen auf die verschiedenen politischen Einflussfaktoren und Big Player hatte mich die Lektüre dann obschon des geringen Umfangs von knapp 240 Seiten und beigefügten Personentableau schnell ermüdet.

Alles verläuft sich irgendwo zwischen Königshof, Haus der De Foes, dem Gefängnis Newgate und der Unterwelt. Was wollte uns Gasser sagen? Die Lebensgeschichte De Foes erzählen? Bezüge zur heutigen Presselandschaft herausarbeiten? Ein Tableau vivante der Londoner Ober- und Unterwelt zeichnen? Für mich geht leider nichts davon auf, obwohl die einzelnen Teile für sich genommen durchaus Potential hätten.

Auch die Sprache ist merkwürdig inkonsistent. In Dialogen bekommt man hier ein „Uuuups“ zu hören, Königin Anne ist Ihre Quatschlichkeit und gerne einmal mischt Gasser gehobenes, historisierendes Idiom mit Begriffen wie dem „Trickster“ (siehe oben). Dieser Kunstgriff der Vermengung verschiedener Sprachebenen verfing bei mir leider nicht, im Gegenteil: die Sprache trug mich so manches Mal aus der Bahn und konfusionierte mich das ein ums andere Mal zusätzlich

Fazit

Für mich ist Die Verschwörung der Krähen kein gelungener historischer Roman und leider der Beweis für die These, dass Belesenheit nicht automatisch zu gelungenen Romanen führt, wenngleich das übrige Schaffen Markus Gassers natürlich nicht zu gering zu schätzen ist. Aber trotz meiner Vorliebe für Geschichte, Spannung und Kolportage ist das leider ein Buch, von dem ich mir deutlich mehr erhofft habe.


  • Markus Gasser – Die Verschwörung der Krähen
  • ISBN 978-3-406-78150-6 (C. H. Beck)
  • 238 Seiten. Preis: 23,00
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Ryan Gattis – Das System

Es ist wirklich zum Haareraufen. Der größte kriminalliterarische Schund verkauft sich wie geschnitten Brot, literarische Stümpereien wie die sadistischen bis gewaltpornographischen Werke Sebastian Fitzeks erklimmen Jahr um Jahr Spitzenpositionen auf dem Buchmarkt. Und die wirklichen Könner*innen dümpeln unter ferner liefen auf dem Buchmarkt dahin. So ergeht es beispielsweise Dennis Lehane (mehr zu ihm hier in einigen Tagen) oder Simone Buchholz, die auf derartigen Listen sträflich unterrepräsentiert sind. Dagegen feiert als das Abgenutzte, dutzendfach Erzählte Erfolge um Erfolge und klettert in den Bestsellerlisten weit nach oben.

Ryan Gattis - Das System (Cover)

Zwar mache ich mir über den Einfluss meines kleinen Blogs hier keine Illusionen, dennoch möchte ich einmal mehr die Chance nutzen. Die Chance, auf einen außergewöhnlichen Thriller hinzuweisen, einen, der verschiedene Themen, literarische Spielarten und gesellschaftliche Analysen in sich vereint. Ein Buch, das die Zustände des amerikanischen Justizwesens und Gefängnissystem beleuchtet, eine Inneneinsicht in Rechtssprechung und Bandenwesen liefert, eines, das keine einfachen Antworten gibt. Geschrieben hat jenes Buch der Amerikaner Ryan Gattis und es trägt den Titel Das System. Die Übersetzung ins Deutsche besorgten Ingo Herzke und Michael Kellner.

Ein außergewöhnlicher Erzähler

Mit Das System liegt das dritte auf Deutsch übersetzte Buch von Ryan Gattis vor. 2016 erschien zunächst das Aufstandspanorama In den Straßen die Wut. Darin erzählte Gattis von sechs Tagen Ausnahmezustand, die in Los Angeles 1992 in Folge der Rodney King-Aufstände herrschten. Er entwarf darin das Panorama ein Gesellschaft, deren Widersprüche, Falschheit und Ungerechtigkeit zu einer Eruption führten, die der der Black Lives Matter-Proteste dieser Tage glich.

In seinem zweiten Buch Safe erzählte er die Geschichte eines Safeknackers, der nichts mehr zu verlieren hat und so gegen das organisierte Verbrechen für eine letzte Mission antritt. Sprach Die Presse vom „wohl herzzerreißendste Krimi des Jahres“, so unterschrieb ich dieses Urteil nac der Lektüre sofort. Ein außergewöhnliches Buch, das leider in der öffentlichen Wahrnehmung etwas unterging.

Bereits mit diesen beiden Werken ist es Gattis gelungen, einen eigenen, unverkennbaren Stil zu kreieren. Einen Stil, der nun auch in Das System Anwendung findet und der entscheidend ist für die Qualität dieses Buchs. Denn statt das Geschehen aus nur einer oder zwei Perspektiven zu beleuchten, wählt Gattis auch hier wieder ein ganzes Dutzend an Personen, die mit eigener Perspektive das Geschehen in der Ich-Perspektive schildern.

So erzählt Gattis von einem Strafverteidigerin, einer Staatsanwältin, Gangmitgliedern, Ermittlern und Bewohnern der Stadt Lynwood im County Los Angeles. Den Mittelpunkt des Geschehens aber bilden der Gangster Omar Tavira alias „Wizard“ und der Samoaner Jacob Safulu alias „Dreamer“. Letzterer bekommt von einem rassistischen Bewährungshelfer die Waffe eines Mordanschlags untergeschoben. In der Folge kommt es zur Verhaftung der beiden Männer, die in einem Prozess mündet.

Der Prozess – und seine Folgen

Diesen exerziert Ryan Gattis durch alle Stufen der Entwicklung. Als Leser*innen sind wir Zeuge, wie das Komplott seinen Anfang nimmt und wie sich die Dynamiken entwickeln. Die Verhaftung und die Untersuchungshaft, die Suche nach der Wahrheit über das Geschehen in der Nacht des Mordanschlags, es dominiert die Handlung des Buchs. Gattis liefert dabei Inneneinsichten in die Welt der Clans und der Strafjustiz. Auch wenn das Geschehen in Das System im Jahr 1993 kurz nach den Rodney King-Unruhen angesiedelt ist – Berichte aus den USA zeigen, dass sich das Strafsystem seither nicht merklich gebessert hat – im Gegenteil.

Das System ist formal konsequent gestaltet, in seiner Vielstimmigkeit überzeugend und gerade in seinem Verzicht auf einfache Antworten wirklich stark. Auch gelingt es Gattis eindrucksvoll zu zeigen, dass das System nur Verlierer kennt. Wer einmal in die Räder des Systems geraten ist, der findet kaum mehr heraus. Man mag so viel ungeschönten Realismus schwierig zu ertragen finden – das Buch überzeugt aber gerade durch diesen realistischen Blick und seine Schonungslosigkeit. In Form eines Justiz- und Gefängnisdramas gelingt hier Ryan Gattis ein Buch, das zeigt, was gute Kriminalliteratur kann. Und das dadurch dem üblichen Bestseller-Krimischund um Welten voraus ist.


  • Ryan Gattis – Das System
  • Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Michael Kellner
  • ISBN 978-3-498-02538-0 (Rowohlt)
  • 544 Seiten. Preis: 22,00 €
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