Tag Archives: Irland

Sarah Gilmartin – Service

Ein Restaurant der Spitzenklasse, eine Servicekraft, ein Küchenchef, seine Frau – und dann steht da mitten im Raum der schwerwiegende Vorwurf einer Vergewaltigung. Was das mit den Beteiligten macht und wie sie auf das (möglicherweise) Geschehene blicken, das erkundet die irische Schriftstellerin Sarah Gilmartin in ihrem Roman Service.


Vor wenigen Wochen sorgte einmal mehr eine ein juristischer Lehrfilm aus der Feder Ferdinand von Schirachs für Aufsehen. Während er in Terror die Zuschauer selbst zu einer Jury in einem Gerichtsverfahren werden ließ, so wendete er sich im Fernsehfilm Er sagt, sie sagt dem Sujet einer mutmaßlichen Vergewaltigung zu, bei der Aussage gegen Aussage der Beteiligten steht.

Es ist kein ganz neues Konzept, die Schwierigkeit einer Wahrheitsfindung nach solchen Anschuldigung, der prozessualen Dynamiken und den widersprüchlichen Aussagen herauszuarbeiten. Was beispielsweise der Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann unter großem Interesse der Öffentlichkeit und sensationsheischender Boulevardmedien-Begleitung in realiter zeigt, auch in der Literatur wird es immer verhandelt.

So schilderte die Autorin Bettina Wilpert in Nichts, was uns passiert schon fast lehrbuchhaft die Aufarbeitung einer potentiellen Vergewaltigung, die sich in einer Sommernacht in Leipzig ereignet haben könnte. Sie nutzte dazu ebenso wie Schirach zwei Perspektiven, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven nebeneinander zu stellen um so auch auf das Interessanteste zu blicken: das Dazwischen, in dem die Wahrheit liegen könnte.

Der Service, die Ehefrau, der Spitzenkoch

Auch Sarah Gilmartin bedient sich für ihren Roman Service dieser Erzählweise, indem sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellt, die auf das blicken, was sich im legendären Dubliner Restaurant, das hier nur T geheißen wird, abgespielt haben könnte.

Dafür kommen zu Wort: Hannah, die als Servicekraft eines der Gesichter des nahe des Unterhauses des irischen Parlaments gelegenen Edelrestaurants war. Daniel Oswald Costello, der als Küchenchef hinter den Kulissen für außergewöhnliche kulinarische Genüsse sorgte und mit seinen Kochkünsten den Ruhm des Restaurants mehrte. Julie, seine Ehefrau, die zusammen mit Daniel und den beiden Kindern in einem noblen Anwesen wohnt und schon seit langer Zeit mit Daniel verheiratet ist.

Sarah Gilmartin - Service (Cover)

Sie sind die drei zentralen Figuren in diesem Roman, die aus ihren Augen auf das Geschehen blicken, das sich hinter den Türen des T ereignet haben könnte und das aufgrund der Prominenz Daniels für viel Aufmerksamkeit und Paparazzi vor der Haustür der Costellos sorgt. Denn Daniel steht vor Gericht, weil ihm durch eine ehemalige Mitarbeiterin eine Vergewaltigung vorgeworfen wird.

Einstweilen ruht das Geschäft im T und die Figuren beginnen sich zu erinnern. Julie daran, wie das mit der Beziehung zu Daniel anfing, für den Frauen entweder Süße oder Schlampen sind und der mit seinem Charme und seiner Präsenz Menschen im Handumdrehen für sich einnehmen kann. Hannah daran, wie es zuging im Restaurant, wie man die herausfordernden Schichten zwischen ordinärem Küchenpersonal auf der einen und den anstrengenden Kunden auf der anderen Seite der Küchentür überstand. Und Daniel, wie es ist, vor Gericht zu stehen, zusammen mit seiner Anwältin eine Verteidigungsstrategie zu entwerfen und von alten Bekannten nicht mehr gegrüßt zu werden.

Drei Blicke auf das Geschehene

Aus diesen drei Strängen montiert Sarah Gilmartin eine spannende Erzählung, die durch ihre erzählerischen Gegenschüsse, das Miteinander aus Gegenwart und Rückblenden auf die atemlose Atmosphäre des Restaurantbetriebs überzeugt. Nicht ganz so ambivalent schwebend wie die zitierten Erzählungen liegt bei Sarah Gilmartin der erzählerische Fokus weniger auf der Frage, was wirklich passiert ist, sondern konzentriert sich eher auf die Dynamiken und Prozessen, die nach den Anschuldigungen einsetzen und auf die die Beteiligten ganz unterschiedlich reagieren.

Wie sich Daniel als Opfer von Neidern und „aufmerksamkeitsgeilen“ Me-Too-Hysterikerinnen sieht, wie Julie trotz der Kenntnis des Charakters ihres Mannes weiterhin das Familienleben aufrecht erhält und wie Hannah mit den eigenen Erinnerungen und dem Erlebten hadert, das verbindet sich in Service zu einer mitreißenden Lektüre, die durch die multiperspektivische Erzählweise noch einmal gewinnt und die Schwierigkeiten einer Anklage nach einem sexuellen Übergriff eindrücklich vor Augen führt.

Dass der im Roman geschilderte Prozess so in der Realität kaum möglich wäre, da die Hürden (nicht nur) in Irland nach solchen Anschuldigungen noch einmal höher sind, peinliche Befragungen, Verzögerungen in der Bearbeitung und andere Widerstände inklusive, all das lässt schlucken, ist Sarah Gilmartins Buch doch schon so harter Tobak. Der Umstand, dass es das System Menschen nach einem Übergriff gegenwärtig noch einmal schwerer macht, ist wirklich schwer zu fassen und braucht eben solche Bücher wie das von Sarah Martin, die unterhaltsam und nicht platt moralisierend vor Augen führen, was sich ändern muss.

Fazit

Service ist ein überzeugend geschilderter Roman, der durchdacht montiert aus drei Blickwinkeln auf das Tun und Treiben hinter den Kulissen eines Spitzenrestaurants blickt. Sarah Gilmartin gelingt ein eindrücklicher Roman, der von den erniedrigenden Prozeduren in einem Prozess nach dem Vorwurf einer Vergewaltigung erzählt, wie er auch die Verteidigung und die Angehörigen in einem solchen Prozess klug in den Blick nimmt. Ebenso unterhaltsam wie aufrüttelnd!


  • Sarah Gilmartin – Service
  • Aus dem irischen Englische von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5018-1 (Kein & Aber)
  • 320 Seiten. 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Louise Kennedy – Übertretung

Übertretungen gibt es im Debütroman der irischen Autorin Louise Kennedy jede Menge. Mal von Nordirland in den Süden der irischen Republik, mal gibt in Sachen Grenzen des Berufsethos. Sogar ins Totenreich treten hier einige über – das sollte aber nicht allzu sehr überraschen, schließlich spielt Kennedys Erzählung zur Hochzeit der Troubles 1975 in Belfast.


Schon seit langem beweist der in Göttingen ansässige Steidl-Verlag große Hingabe, was die Pflege und Entdeckung irischer Autoren angeht. Sebastian Barry, Claire Keegan oder Edna O’Brien sind nur ein paar große Namen aus dem eindrucksvollen Portfolio an literarischen Stimmen von der grünen Insel. Mit Louise Kennedy gesellt sich nun ein weitere Stimme zu dieser illustren Riege. Sie arbeitete über dreißig Jahre lang als Köchin in Dublin und Beirut, ehe sie 2021 mit einem Kurzgeschichtenband hervortrat, der den illustren Titel The End of the World is a Cul de Sac trug. Nun gibt es mit Übertretung den ersten Roman der Irin zu lesen.

Dieser spielt im Jahr 1975. Im Kino läuft Chinatown und in den Straßen Belfasts explodiert die Gewalt.

Der Nordirland-Minister erklärt, die Welle von Morden, die sich derzeit im Westen der Stadt ereigne, sei Teil einer internen republikanischen Fehde, und bekräftigt, der Waffenstillstand mit der IRA habe auch weiterhin Bestand.

Die Protestant Action Force hat die Verantwortung für die Erschießung von zwei Männern in einer Bar im Belfaster Stadtteil New Lodge übernommen.

Bye Bye Baby ist noch immer auf Platz 1 der Charts.

Louise Kennedy – Übertretung, S. 120

Die Troubles in Belfast

Es ist eine brutale Welt, in der sich die junge Lehrerin Cushla Lavery bewegt. Ihr Bruder Eamonn betreibt in der Vorstadt Belfasts einen Pub und wird von Cushla unterstützt, wann immer es geht. Neben dem Unterricht ist sie aber vor allem bei der Betreuung ihrer alkoholkranken Mutter gefordert. Die Fehden der Troubles in den 70er Jahren bekommen die Laverys dabei hautnah mit, denn als katholische Minderheit leben sie in einem überwiegend protestantisch geprägten Viertel (eine Ausgangslage, die auch Adrian McKinty für seine Reihe um den katholischen Bullen Sean Duffy nutzt).

Louise Kennedy - ÜBertretung (Cover)

Zu allem Überfluss übertritt Cushla dann auch noch privat gleich in zweifacher Hinsicht Grenzen. So unterstützt sie einen jungen Schüler, dessen Familie von den Nachbarn ausgegrenzt und schikaniert wird, wobei sie die Rolle als objektive Lehrkraft schon recht bald verlässt, um ihrem Schützling beizustehen.

Und dann ist da auch noch der mehr als doppelt so alte Michael Agnew, in den sich Cushla Hals über Kopf verliebt. Er ist im Gegensatz zu ihr Protestant, verdient als Anwalt sein Geld und ist verheiratet. Cushla beginnt mit ihm wider besseren Wissens eine Affäre und ist schon bald enorm verliebt in den Anwalt, der sie doch immer nur dann sieht, wann es ihm gerade in den Kram passt. Doch davon lässt sich Cushla nicht irritieren und begleitet ihn sogar bei einer Reise in den Süden nach Dublin, um bei ihm zu sein. Doch die Zeiten sind gewaltgesättigt – und Cushla wird die privaten und politischen Konflikte schon bald am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Konflikte im Land, Konflikte im Privaten

Übertretung von Louise Kennedy ist ein Buch, das die Gewalt und Atmosphäre der Troubles gekonnt heraufbeschwört. Ähnlich wie zuletzt auch Kenneth Brannagh in seinem Kinofilm Belfast blickt sie aus privater Perspektive auf jenen brutalen Konflikt und spürt den Auswirkungen des brutalen Bürgerkriegs im privaten nach. Entzweite Familien, die Religion oder die Einstellung gegenüber der irischen Republik, all das entschied über Wohl und Wehe und wird in Louise Kennedys Buch spürbar. So braucht es auch viel Heimlichkeit und Maskerade, damit die Liaison des verheirateten Protestanten und der kinderlosen Katholikin nicht publik wird und damit ein potentielles Anschlagsziel für Fantatiker wird.

Zudem erzählt Übertretung auch von der Emanzipation einer jungen Frau und den patriarchalen Rollenmustern, von denen sich Cushla langsam befreit. Die Verachtung ihrer Mutter und ihres Bruders aufgrund einer potentiellen Affäre, die Abwertung der Frau im katholisch geprägten Milieu der Vorstadt Belfasts, das sind Themen, die Kennedys Debüt behandelt und das ihr Werk darüberhinaus in meinen Augen auch mit einem Werk ihrer irischen Landsfrau Anna Burns verbinden.

Wie diese in Milchmann aus der Perspektive eines jungen Mädchens auf die gesellschaftlichen Mechanismen der eingeforderten Tugendhaftigkeit von jungen Frauen blickt, so tut es ihr Louise Kennedy hier gleich, die ebenfalls von einer Gesellschaft erzählt, die es Frauen alles andere als leicht macht.

Das sorgte in Großbritannien bereits für einen Nr. 1- Bestseller sowie zahlreiche Nominierungen für Kennedys Debütroman. So fand sich Übertretung auf den Shortlists des Women’s Prize for Fiction, des Debütpreises des British Book Award und des Waterstones Debut Fiction Prize und errang den Literaturpreis des Observer für den besten Debütroman des Jahres 2022. Man mag den Jurys nach der Lektüre des Romans nur beipflichten!

Fazit

Man muss bewundernd auf diese grüne Insel namens Irland blicken, dass diese so viele großartige Erzähltalente hervorbringt. Mit Louise Kennedy ist dank des Steidl-Verlags nun die nächste Schriftstellerin zu entdecken, die sich mit Übertretung irgendwo zwischen Anna Burns und Adrian McKinty einsortiert. Ihr Porträt der jungen Cushla, ihr Eintreten für ihren ausgegrenzten Schüler, ihre Affäre und die Emanzipation in der patriarchalen Gesellschaft , die Schilderung der Lebensumstände im Belfast der 70er zur Hochzeit der Troubles – all das ist wirklich gut erzählt und verdient eine große Empfehlung!


  • Louise Kennedy – Übertretung
  • Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-259-3 (Steidl)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Claire Keegan – Das dritte Licht

Dass man mit kleinen Geschichten maximale Wirkung erzielen kann, das stellt Claire Keegan immer wieder unter Beweis. So gelang ihr mit Kleine Dinge wie diese eine großartige Weihnachtsfabel in Dicken’scher Tradition. Eine Erzählung, die zwar zu einer kalte Zeit in Irland spielt, die aber dennoch einen hell lodernden humanistischen Glutkern besitzt, wie ich in meiner Besprechung zum wenig später für den Booker-Prize nominierten Roman schrieb. Und auch in der ursprünglich 210 beziehungsweise in deutscher Übersetzung 2013 erschienenen Erzählung Das dritte Licht kann man dies mustergültig beobachten.

Nun lässt sich der Text in einer überarbeiteten Version und dementsprechend auch angepassten Übersetzung von Hans-Christian Oeser noch einmal entdecken.


Der Steidl-Verlag und der Übersetzer Hans-Christian Oeser haben unzweifelhaft ein Gespür für großartige irische Literatur. So gab es zuletzt von dort die bemerkenswerte Lebensgeschichte Annie Dunnes zu lesen, die Sebastian Barry in seinem Roman erzählt. Dort bekommt es die widerspenstige Annie überraschend mit zwei Kindern zu tun, die sie auf dem gemeinsamen Hof in den irischen Wicklows mit ihrer Cousine beaufsichtigen und hüten muss.

Das dritte Licht von Claire Keegan spielt von dort nur gute hundert Kilometer südlich entfernt und weist eine ähnliche Konstruktion auf, obgleich alles hier noch konzentrierter und noch kondensierter ist.

An einem Sonntagmorgen, nach der Frühmesse in Clonegal, fährt mein Vater, statt mich nach Hause zu bringen, ins tiefste Wexford, zur Küste, wo die Leute meiner Mutter herkommen. Es ist ein heißer Tag, strahlend hell, mit Mustern aus Schatten und jähem grünlichem Licht entlang der Straße. Wir fahren durch das Dorf Shillelagh, wo mein Vater bei einer Partie Forty Five unser rotes Kurzhornrind verloren hat, dann am Viehmarkt von Carnew vorbei, wo der Mann, der die Färse gewonnen hat, sie kurze Zeit später wieder verkaufte. Mein Vater wirft seinen Hut auf den Beifahrersitz, kurbelt das Fenster herunter und raucht. Ich schüttele mir die Zöpfe aus dem Haar, strecke mich auf der Rückbank aus und schaue aus dem Heckfenster.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 7

So beginnt die Erzählung der namenlosen Heldin, die von ihrem Vater zur Verwandtschaft, den Kinsellas, dort in den Südosten Irlands gebracht wird. Die Mutter daheim erwartet wieder Nachwuchs und ist bestrebt, die Anzahl hungriger Münder zuhause zu reduzieren, während sie kurz vor der Niederkunft steht. Deshalb wird die Erzählerin zur kinderlosen Verwandtschaft gebracht, wo sie dort auf dem Hof von Mr. Kinsella und Mrs. Kinsella betreut und beaufsichtigt werden soll.

Ein Sommer in Wexford

Es ist eine Aufgabe, die alle Beteiligten nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten gerne annehmen. Mr. Kinsella lässt das Mädchen zum Briefkasten rennen und stoppt die Zeit, Mrs. Kinsella stattet das Kind neu aus und bindet es in die Tätigkeiten im Haushalt und auf dem Hof mit ein, man holt Wasser aus dem Brunnen, besucht eine Totenwache und hält es gut miteinander aus.

Claire Keegan - Das dritte Licht (Cover)

Erst eine übergriffige und allzu neugierige Nachbarin enthüllt der Ich-Erzählerin nach einiger Zeit das Geheimnis der Kinsellas. So haben die beiden ihren Jungen unter tragischen Umständen verloren. Eine Erfahrung, die das Paar bis tief ins Mark erschüttert und eine Leerstelle im Leben hinterlassen hat, die nun durch das Mädchen gefüllt wird. Es ist eine Erkenntnis, die sich dem Mädchen zunächst noch gar nicht wirklich erschließt (eine Erfahrung, die sich auch mit Annie Ernaux verbindet), die dem Text aber auch eine zweite, traurig-melancholische Ebene verleiht, die stets über dem Text schwebt.

So ist der nächtliche Ausflug zum Strand, den das Mädchen zusammen mit Mr. Kinsella unternimmt, mehr als doppeldeutig. Alleine das ungewohnte Händehalten, die Erfahrung der Unbeschwertheit im Spiel mit dem Wellen am und vor allem das metaphorische Bild der zwei Lichter, zu denen sich ein drittes Licht gesellt, sind stark aufgeladen und sind von einer wirklich eindringlichen Qualität, obschon Claire Keegan nur wenige Zeilen braucht, um über die Schilderung des Erlebens auch die Seelenlandschaften ihrer Figuren zu skizzieren.

Wir bleiben noch eine Weile stehen und blicken aufs Wasser hinaus.

„Sie mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.“

Ich blicke übers Meer. Dort blinken nach wie vor die beiden Lichter, doch dazwischen leuchtet jetzt auch noch ein anderes Licht.

„Kannst du’s sehen?“ fragt er.

„Ja“, sage ich. „Da drüben.“

Da legt er die Arme um mich und zieht mich zu sich, als wäre ich sein eigenes Kind.

Claire Keegan – Das dritte Licht, S. 72 f.

Fazit

Hier schreibt eine Autorin, die es schafft, mit wenigen Zeilen und Szenen ganze Lebensdramen in packende und eindringliche Bilder zu kreieren. Das dritte Licht fügt sich ein in ein schriftstellerisches Oeuvre, das von der Schönheit zwischenmenschlichen Begegnungen, dem Sieg des Herzens über die Ratio und von einfachen Menschen in schwierigen Zeiten erzählt.

Wie sich Claire Keegan ihren Themen nähert, wie sie alles Überflüssige reduziert, wie sie ihre Geschichten allesamt mit einer Botschaft der Empathie auch in schlechten Zeiten versieht, das ist beeindruckend. Auch wenn Keegans Erzählungen zeitlich jeweils grob verortet sind (hier geben die unter der irischen Landbevölkerung diskutierten Butterberge und die EWG eine ungefähre zeitliche Orientierung), so wohnt doch allen Geschichten etwas Zeitloses inne, das dieses literarische Werk auch über unsere Gegenwart hinaus lesens- und entdeckenswert machen.

Schön, dass der Steidl-Verlag dieser Autorin ein Zuhause gibt – und schön auch, dass Keegans Schaffen nach der Nominierung für den Booker Prize im vergangenen Jahr nun auch vielleicht durch die oscarnominierte Adaption ihres Buchs unter dem Titel An Cailín Ciúin bzw. The Quiet Girl noch etwas mehr Aufmerksamkeit erhält. Es wäre ihr zu gönnen!


  • Claire Keegan – Das dritte Licht
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-199-2 (Steidl)
  • 104 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

Diesen Beitrag teilen