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Lucy Fricke – Die Diplomatin

Kann die Diplomatie die Welt zum Besseren wenden oder gar überhaupt etwas bewirken? Diese Frage, die gerade angesichts von Krieg und angestrebten Friedensverhandlungen so aktuell wie drängend ist, sie beschäftigt auch Lucy Fricke in ihrem neuen Roman Die Diplomatin (zuletzt von ihr der mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnete Roman und jüngst verfilmte Töchter).

In ihrem neuen Buch schickt sie die Diplomatin Fred in den auswärtigen Dienst und lässt sie an den herrschenden Verhältnissen verzweifeln. Großartig geschriebene und mehr als relevante Literatur in diesen Tagen.


Fred hat sich mit Ironie und Abgeklärtheit gegen die Unzulänglichkeit des diplomatischen Dienstes gewappnet. Sie wurde nach Urugay abgeordnet, 16 Flugstunden von Deutschland entfernt, wo sie Deutschland repräsentieren und nach außen wirken soll.

Es hieß, der Minister persönlich habe mich nach oben geschossen. Mit Ende vierzig ein Posten als Botschafterin, das galt bei uns als kleine Sensation. Es hieß auch, es gebe kaum genügend kompetente Frauen, um die Quote zu erfüllen. Endlich das richtige Geschlecht, dachte ich. Nach jahrzehntelangen Kämpfen und fast zwanzig Jahren im Amt endlich den Nachteil zum Vorteil gekehrt. Ausgerechnet ich: Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin, aufgewachsen in einem Hamburger Arbeiterviertel , zu einer Zeit, in der es solche Begriffe noch gab.

Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 13

So etwas wie Freunde gibt es selten im Auswärtigen Amt. Mit Philipp, einem langgedienten Kollegen, verbindet sie so etwas, das man als Freundschaft bezeichnen könnte, ansonsten ist es gerade mal die sporadische Konversation mit ihrer Mutter, die Fred in ein soziales Netz einfügt. Sie ist ledig, flexibel und versucht sich, den entsprechenden Gegebenheiten vor Ort anzupassen. In Urugay bedeutet das, Grillwürstchen für Feierlichkeiten am 3. Oktober zu organisieren, in Fragen wie Livemusik oder Hymne vom Band zu entscheiden, und sonst nicht viel Staub aufzuwirbeln. So recht gelingt es ihr allerdings nicht, denn als eine deutsche Touristin vor Ort verschwindet, erhält die glänzende Karriere von Fred einen ersten Kratzer, vor allem da die Mutter der Touristin über Einfluss und Macht verfügt.

Von Urugay nach Istanbul

Sie findet sich in Istanbul wieder, einer Stadt die sie überfordert, vor allem angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse. Journalisten und Oppositionelle werden in Scheinprozessen verurteilt, der Vorwurf der „Terrorpropaganda“ findet geradezu inflationär Anwendung, wenn es darum geht, missliebige Personen des öffentlichen Lebens unschädlich zu machen. Das bekommt Fred als Konsulin aus nächster Nähe zu spüren, als sie sich für eine inhaftierte deutsch-kurdische Kuratorin und deren Sohn einsetzt.

Meral, eine deutsch-kurdische Kuratorin, eine Kunsthistorikerin, die brillante Texte verfasste und bekannt dafür war, in ihren Ausstellungen alles zu zeigen, aber nichts offen zu sagen.

Meral war ein leerer Raum, in dem sich die Welt zum Tee getroffen und jeder etwas zurückgelassen hatte, manche auch Bilder. Bilder, die die hiesige Regierung nicht sehen wollte, deren bloße Existenz schon als Attacke galt. Eine verbotene Flagge, ein geleugnetes Massaker, eine Wirklichkeit, die kein Zeugnis duldete. Wenn man dieses auch noch gerahmt präsentierte, wurde aus Kunst Terrorpropaganda.

Lucy Fricke – Die Diplomatin, S. 89

Hier in Istanbul bekommt Fred ihre eigene Ohnmacht und politische Wirkungslosigkeit in aller Härte vor Augen geführt. Der Staat verbittet sich Einmischungen von außen, außer einem Kunstmagazin oder anderen Kleinigkeit darf Fred nichts zu den Inhaftierten mitbringen, sich nicht in den Prozess einmischen, nur im Zuschauerraum den Prozessen beiwohnen. Ein Sinnbild für ihr ganzes politisches Wirken in der Türkei, bei dem sie gefühlt ständig auf der Ersatzbank sitzt und zum Zuschauen verdammt ist.

Von der Hilflosigkeit der Diplomatie

Lucy Fricke - Die Diplomatin (Cover)

Ihre eigene Hilflosigkeit als ranghohe Diplomatin bekommt sie hier eindrücklich vor Augen geführt. Im Angesicht von politischer Willkür, staatlichen Übergriffigkeiten, Regellosigkeit und Unterdrückung gibt es für die Diplomatin wenig zu gewinnen. Und dennoch mag sich Fred nicht mit ihrer Ohnmacht begnügen, was zu einer waghalsigen Aktion führt, die so vom diplomatischen Protokoll sicherlich nicht gedeckt ist. Hier zeigt sich, dass Diplomatie auch manchmal ein Kampf mit den eigenen Werten und Überzeugungen sein kann, bei dem sich Fred gegen ihre eigenen Vorschriften und Verhaltensweisen stellt, um das Richtige zu tun.

Aber auch über diese Aktion hinaus wirft Lucy Frickes Buch viele Fragen auf, die so aktuell wie wohl nie sind. Welchen Sinn hat die Diplomatie, wenn Staatenlenker sich ihr verschließen und lieber auf Willkür und Oppression setzen? Was kann ein einzelner Mensch als Repräsentant eines Staates überhaupt bewirken? Zeigt Die Diplomatin und die aktuellen Geschehnisse nicht ganz deutlich unsere westliche Hilflosigkeit gegenüber Despoten und Diktaturen auf? Ergibt es Sinn, auf die Kraft der Diplomatie zu setzen, wenn sich andere ihr verschließen?

Fragen an uns und unsere Demokratie

Die Aktualität ihres Buch dürfte Lucy Fricke so nicht vorhergesehen haben, aber selbst wenn man die augenfälligsten Entwicklungen in der Ukraine und Russland ausblendet, bleibt Die Diplomatin immer noch ein mehr als relevantes Buch, das uns und unserer Demokratie unbequeme Fragen stellt. Wie umgehen mit Staaten wie der Türkei, im Angesicht von Schauprozessen gegen Osman Kavala, Deniz Yücel oder Meşale Tolu? Wie können wir auf Staaten einwirken, die Presse- und Meinungsfreiheit drastisch einschränken und freien Journalismus beschneiden und zensieren?

Für Die Diplomatin spricht in meinen Augen, dass nach der Lektüre alle diese Fragen in meinem Kopf umhergeisterten und von billigen Antworten oder Antwortversuchen im Buch jede Spur fehlt.

Verlockt auch der tückische Anfang mit seiner sonnendurchfluteten Ironie und Bonmot-getränkten Coolness auf falsche Fährten, ändert sich spätestens mit dem Verschwinden der Touristin und dem neu ansetzenden türkischen Erzählteil in diesem Roman alles. Lucy Fricke gelingen ganz unterschiedliche Teile, die ihre Nahaufnahme von politischem Wirken im Ausland und die in ihrer Abgeklärtheit und gleichzeitigen Hilflosigkeit bestechend gelungene Ich-Erzählerin Fred.

Ähnlich wie etwa Nora Bossong in Schutzzone oder Robert Menasse in Die Hauptstadt (und dankenswerterweise nicht so wie Sönke Wortmann) erzählt Lucy Fricke von Menschen, die Politik machen oder die vielleicht auch von der Politik gemacht werden. Ihr gelingt ein Buch, das man wohl auch mit der Phrase des „Buchs der Stunde“ beschreiben könnte, wäre dieser Termins nicht schon so abgenutzt und schal geworden. Die Diplomatin ist glänzend geschrieben, gesellschaftlich und politisch höchst relevant, vereint Ambition und Position und ist eines jener Bücher, aus denen man seitenweise zitieren möchte.

Fazit

Für mich ist das Literatur, wie ich sie mir wünsche. Engagiert, mit einem genauen Blick auf die (politischen) Verhältnisse und noch dazu literarisch überzeugend mit einer Heldin im Mittelpunkt, die sich mit Ironie und Distanziertheit gegen die Unzulänglichkeiten der Welt gepanzert hat, und die doch feststellen muss, dass die Lage der Welt empfindliche Löcher in diesem Panzer verursacht hat. Aktueller war gute Literatur in letzter Zeit selten.


  • Lucy Fricke – Die Diplomatin
  • ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Fatma Aydemir – Dschinns

Im letzten Jahr feierte das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei seinen 60. Jahrestag. Medienberichte beschworen noch einmal die Zeit herauf, als Türk*innen als „Gastarbeiter“ gelabelt die deutsche Industrie voranbrachten, ihnen jedoch lange Zeit Anerkennung und Wertschätzung versagt blieb. Als billige Arbeitskräfte waren die Türk*innen in der Wirtschaftswunderzeit willkommen, aber als Mitbürger wollte man sie doch nicht bezeichnen.

Und auch wenn türkisches Leben heute aus Deutschland nicht mehr wegzudenken ist und sichtbarer geworden ist, war es doch ein schwieriger Weg der Assimilierung und der gesellschaftlichen Akzeptanz. Sechzig Jahre ist das Anwerbeabkommen her. Genauso lange hat es auch gedauert, bis ein Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund am Kabinettstisch Platz nehmen durfte. Wie lang und steinig dieser Weg war, das lässt sich nun auch in Fatma Aydemirs großartigem neuen Buch Dschinns nacherleben und erfühlen.

Wir riefen nach Arbeitskräften, doch es kamen Menschen

Fatma Aydemir - Dschinns (Cover)

Der berühmte Ausspruch von Max Frisch lässt sich auch auf Aydemirs Buch übertragen, denn hier sind es sechs ganz unterschiedliche Menschen und deren Leben, die die 1986 geborene Autorin in den Mittelpunkt stellt. Den Anfang und das Ende des Buchs bilden dabei Hüseyin und Emine Yilmaz, die die Leben ihrer vier Kinder rahmen. Jedem der vier Kinder ist jeweils ein Kapitel im Mittelteil gewidmet.

Alles beginnt mit Hüseyin, der es endlich geschafft hat. Im Rahmen des Anwerbeabkommens nach Deutschland gekommen hat er zeit seines Lebens hart gearbeitet, um seine Familie zu ernähren. Stets hat ihn dabei der Traum eines eigenen Zuhauses begleitet. Diesen Traum hat er sich nun mit Beginn des Ruhestandes erfüllt. In Zeytinburnu, einem Stadtteil Istanbuls, hat er sich eine Wohnung gekauft und diese mit all dem Luxus versehen, den es in Deutschland in der engen Unterkunft seiner Familie nie gab. Ein Balkon, eine schöne Aussicht, teure Möbel.

Alles ist angerichtet für einen komfortablen Lebensabend in seiner Heimt – doch Hüseyin wird ihn nicht mehr erleben. Noch bevor seine Familie die Wohnung in Augenschein nehmen kann, stirbt Hüseyin in seinen eigenen vier Wänden. Am Totenbett kommen sie nun alle zusammen, seine vier Kinder Ümit, Perihan, Hakan, Sevda und seine Ehefrau Emine. Der Tod bringt die fünf Menschen wieder zusammen – und lässt unterschiedliche Lebensentwürfe auf engstem Raum kollidieren. Denn wenn es etwas gibt, das diese Familie verbindet, dann sind es ihre Unterschiede.

Zwei Eltern, vier Kinder, unzählige Unterschiede

Da ist Sevda, die Erstgeborene, die von ihren Eltern erst spät aus der Türkei nach Deutschland nachgeholt wurde. So etwas wie Mutterliebe hat sie nicht erfahren, eher prägten Unverständnis und Ignoranz von seiten der Eltern das Verhältnis, aus dem sie sich durch Abnabelung befreit hat. Ümit, der jüngste der vier Geschwister, kämpft mit seiner Liebe zu einem gleichaltrigen Jungen und soll therapiert werden. Perihan, genant Peri, stürzt sich eher in Abenteuer, konsumiert Drogen und schreibt eine Arbeit über Nietzsche, während Hakan den unangepassten Revoluzzer gibt. Illegale Graffitis, Breakdance, Widerstand gegen die Obrigkeit und Familie, von der er sich nicht verstanden fühlt.

Alle vier Kinder Hüseyins verkörpern geradezu archetypisch die Biografien vieler Kinder mit Migrationshintergrund, die zu ganz unterschiedlichen Rollen in der Gesellschaft gefunden haben. Anpassung oder Widerstand, tradierte Rollenbilder oder Emanzipation – alle unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen sind in der Familie Yilmaz durchdekliniert.

Den Abschluss bildet dann Emine, die vor dann wie all ihre Kinder zuvor einen ganz eigenen Blick auf ihre Beziehung mit Hüseyin und ihre Kinder hat. Unverständnis, ererbte Vorstellung und Hilflosigkeit prägen das Miteinander der ersten und zweiten Generation, das sich vor allem im Streitgespräch zwischen ihr und ihrer Tochter Sevada Bahn bricht. Goßartig gelingt es Fatma Aydemir, diese unterschiedlichen Lebensentwürfte und Sichtweisen miteinander agieren zu lassen.

Sie stellt die Ansichten nebeneinander, enthält sich aber einer Bewertung und überlässt diese den Leser*innen. Alle Sichten haben ihre Existenzberechtigung und so etwas wie einen falschen oder richtigen Lebensentwurf gibt es nicht. Das Leben mit Migrationshintergrund ist pluralistischer und diverser, als es uns in diesen populistischen Zeiten oftmals glauben gemacht werden soll. Damit ist aber längt auch noch nicht gut, denn es gibt viel zu tun, bis der Weg zur Gleichheit und Geichstellung erreicht ist, wie dieses engagierte Buch zeigt.

Von der Akzeptanz des vermeintlich anderen

Noch immer sind Menschen mit (türkischem) Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit wenig sichtbar, auch wenn über 2,8 Millionen Menschen einen türkeistämmigen Hintergrund haben (so zumindest der letzte Stand aus dem Jahr 2018). Die Bildungs- und Aufstiegschancen sind geringer – und wer hierzulande eine Wohnung sucht, und Yilmaz oder Hakanoglu heißt, auch der hat es schwerer. Da sind die Worte von Ex-Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des Festaktes zum 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens ein hehrer Wunsch, dem die Realität noch nicht standhält.

Denn die Frage ist: Wie lange muss man, wenn man einen Namen hat, der erkennbar nicht deutschen Ursprungs ist, sich eigentlich integrieren, bevor man integriert ist? Da, finde ich, muss jeder auch die Chance haben, spätestens mit der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft als Teil dieses Landes angesehen zu werden. Da darf der Name dann keine Rolle mehr spielen.

Angela Merkel in ihrer Rede zum Festakt des Anwerbeabkommens am 31.08.2021

Wie komplex es ist, zwischen zwei Ländern und Ethnien aufzuwachsen, das zeigt sich in Dschinns eindrücklich. Die Kämpfe um einen Platz in der Gesellschaft und die Akzeptanz des eigenen Ichs, sie dekliniert Fatma Aydemir hervorragend durch und zeigt, wie die Frage der Herkunft oftmals noch das entscheidende Kriterium ist, das unser Leben bestimmt. Besonders in der Lebensgeschichte von Peri wird dies klar, da sie besonders die um die Frage ihrer Herkunft und mögliche kurdische Wurzeln ihrer Familie kreist.

Verständnis für das vermeintlich Fremde

Wer Dschinns liest, der bekommt Verständnis für das vermeintlich Fremde und erkennt, wie deplatziert die Abwertung oder Ausgrenzung anderer Menschen ist, die womöglich anders heißen oder aussehen, als man das es selbst kennt. Dieses Buch ist zutiefst humanistisch in seinem Kampf für mehr Verständnis und Toleranz und ein echter Empathie-Booster.

Wer Fatma Aydemirs Buch liest, dem wird klar, dass es die Frage nach dem richtigen Leben, der Emanzipation und dem Finden eigener Werte und eines Kompasses ist, die uns über alle vermeintlichen Grenzen hinaus eint – auch im Kampf mit der eigenen Familie.

Und auch wenn die Handlung des Buchs im Jahr 1999 spielt, so bleibt doch ein Gefühl der Zeitlosigkeit zurück was diese Fragen und unser aller Bedürfnis nach Individualität und einem Platz im Leben angeht.

Zudem ist das Buch auch literarisch spannend gearbeitet. So wählt Fatma Aydemir für die erste und zweite Generation unterschiedliche Erzählperspektiven und lässt auch die Frage stehen, wer die Dschinns nun sind, die das Leben der Yilmazens beeinflussen. Ist es eine Figur, die sich erst spät im Gespräch offenbart, sind es wirklich Geister in der Istanbuler Wohnung oder doch noch einmal eine ganz andere Erzählinstanz? Hier neigt Aydemirs Buch genauso wie in der Bewertung der unterschiedlichen Lebensentwürfe nicht zu einer eindeutigen Antwort – was ich sehr goutiere.

Fazit

So ist Dschinns ein enorm starker Frühjahrstitel, der Lebenswürfe und die Frage der eigenen Identität gekonnt verhandelt. Fatma Aydemir erzählt von einer Familie, die ihre Unterschiede eint und zeigt, welch langer Weg hinter der deutschen und türkischen Gesellschaft in diesem Land liegt – und welcher noch zu gehen ist. Ein literarisch wie thematisch überzeugender Roman mit humanistischem Kern, der zwar anders als Aydemirs 2017 erschienenes Debüt Ellenbogen gearbeitet ist – aber erneut wieder überzeugend um die Frage von Herkunft und Identität von Deutsch-Türk*innen kreist.


  • Fatma Aydemir – Dschinns
  • ISBN 978-3-446-26914-9 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €

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Sasha Marianna Salzmann – Außer sich

Mit dem Debüt Außer sich der Berliner Dramaturgin und Theaterautorin Sasha Marianna Salzmann liegt ein Buch vor, das es mir nicht wirklich leicht gemacht hat und bei dessen Beurteilung ich nach wie vor schwanke.

Inhaltlich ist dieses Buch eine familiäre Spurensuche, eine Selbstfindung und ein Familienroman. Ausgangspunkt ist die Reise der Erzählerin Alissa nach Istanbul. Von dort erhielt sie nämlich eine Postkarte ihres Zwillingsbruders Anton, der in der Millionenmetropole am Bosporus verschwunden zu sein scheint. Von nun an operiert Salzmanns Roman auf zwei Achsen. Da ist zum Einen die Suche nach Anton im Moloch Istanbul und zum Anderen die Geschichte von Allissas und Antons Familie, die in Episoden erzählt wird. Von der Revolutionszeit ausgehend wird die Geschichte der Großeltern und eigenen Eltern bis zum Asyl in Deutschland ausgebreitet

Dabei verortet sie ihre Geschichte ganz konkret in der türkisch-deutschen Gegenwart: Gezi-Park-Proteste, Militär-Putsch, Asyl – all diese Themen spielen im Buch von Sasha Marianna Salzmann eine Rolle.

Mit ihrem ersten Titel gelang es der Autorin gleich, den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung zu erringen. Kein unbedeutender Erfolg, wenn man sich die Reihe der bisherigen Preisträger vergegenwärtigt. Namen wie Martin Mosebach, Arnold Stadler oder Zsuzsa Bánk finden sich auf dieser Liste – oder auch Reinhard Kaiser-Mühlecker. Dem österreichischen Autoren gelang im letzten Jahr etwas, das auch Sasha Marianna Salzmann auf Anhieb geschafft hat – der Sprung auf die Longlist (und nun sogar auf die Shortlist) des Deutschen Buchpreises – und das als einzige Debütantin in diesem Jahrgang.

Nur eingeschränkte Empfehlung

Trotz dieser Meriten kann ich das Buch nur eingeschränkt empfehlen. Ihre 365 Buchseiten packt Sasha Marianna Salzmann übervoll mit Themen und schafft so eine Sperrigkeit, die mich nach 150 Seiten das Buch abbrechen und noch einmal von vorne beginnen ließ. Wie hängen die ganzen familiären Fäden zusammen? Wie ist die Verbindung zur Suche nach ihrem Bruder in Istanbul?

Die Sprünge in der Erzählperspektive und Brüche in der Erzählstruktur machen die Lektüre nicht wirklich leicht, zudem erfordert Außer sich ein sehr langsames Lesetempo, um die komprimiert erzählten Verwicklungen und Verbindungen en detail zu erfassen. Für Leser, die eine konzise erzählte oder klar strukturierte Familiensaga suchen, ist dieses Debüt dadurch weniger geeignet.

Das Buch machte es mir zu keinem Zeitpunkt leicht – was an sich auch nicht schlecht ist. Bücher, die fordern und den Leser auffordern, zu hinterfragen und bedenken, können auch immer ein Gewinn sein. Doch ein weiterer Malus machte mir bei Salzmanns Debüt außerdem zu schaffen: keine der zahlreichen Figuren, die das Buch bevölkern, schaffte es, Empathie zu erzeugen. Alle Protagonistinnen leiden für meinen Geschmack an Überdramatisierung. Jede Figur ist dissoziativ, problembeladen, sperrig – so gelang mir kein Einfühlen in die Figuren und ihre Lebenswelten.

Dadurch bleiben für mich in der Endabrechnungen viele Punkte auf der Soll- und Haben-Seite dieses Debüts stehen. Aktuelle Schilderungen der Türkei und Asylschicksale, ein ambitionierter Plot und eine Autorin, die für die Zukunft viel verspricht – es bei diesem Buch aber noch nicht einlöst. Sperrige Figuren, ein zu viel an Dramatisierung, viele zurückbleibende Fragen. Damit ist Außer sich für mich ein zwar recht interessanter Titel, den ich aber nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises sehe (auch wenn, nachdem diese Kritik nun geschrieben war, die Jury das Ganze anders gesehen hat und Salzmann auf die Shortlist befördert hat. Ich als Jurymitglied hätte anders entschieden und statt dieses Buches Ellenbogen von Fatma Aydemir auf die Shortlist gesetzt).

Außer sich ist ein Buch, das sicher ein gespaltenes Echo bei den Lesern hervorrufen wird. Ich bin auf alle anderen Meinungen Mitlesender gespannt!

[Headerbild: (c) Matthias Ripp/Flickr]

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Steffen Kopetzky – Risiko

Was für ein Buch: zur See, am Land, von der Adria bis nach Afghanistan – überall dort spielt die Geschichte von Risiko, dem neuen Großroman von Steffen Kopetzy. Mit seiner neuen historischen Erzählung wandelt er mal auf den Spuren Karl Mays, dann schimmert wieder etwas Thomas Mann durch die Zeilen – und stets weiß das Buch glänzend zu unterhalten


Filmreif steigt Kopetzky mit einem Prolog ein, der die Hauptfigur des Romans vorstellt. Sebastian Stichnote, Funker der Kaiserlichen Marine, befindet sich in Afghanistan auf einer tödlichen Mission. Bis der Leser dann versteht, wie es so weit kommen konnte, vergehen mehr als 700 Seiten bester Unterhaltung.

Das große Spiel

Ausgehend von den angespannten Verhältnissen in Europa im Jahr 1914 erzählt Kopetzky von Stichnote, der auf einem Schiff der kaiserlichen Marine seinen Dienst versieht. Ihn verbindet eine Freundschaft mit dem Kommandeur des Schiffs, Karl von Dönitz.

Während sich die kaiserlichen Befehlshaber zunächst noch auf dem Spielfeld des Großen Spiels mit dem Krieg befassen, kommt dieser schneller als erwartet.

Von der Adria nach Konstantinopel führt der Weg von Stichnote zunächst, ehe ihn der Nahostkenner und Diplomat Max von Oppenheim mit einem größenwahnsinnigen Auftrag betraut. Eine Expedition, an der Stichnote teilnimmt, die einen deutschen Dschihad bei den Bewohnern des Iran, Afghanistans und weiterer angrenzender Länder bewirken soll.

Gemeinsam gegen die englischen Besatzer könnte man so das Zünglein an der Waage sein und den Weltkrieg entscheidend beeinflussen. Doch der Weg dorthin ist weit und mit Fährnissen gepflastert. Eine Himmelfahrtsmission beginnt.

Der Deutsche Dschihad

Steffen Kopetzky hat mit seinem ambitionierten Buch viel gewagt – und gewonnen. Der Bilderbogen, den der Autor vom doch recht beschaulichen Durazzo bis hin zum glühend heißen Afghanistan schlägt, ist höchst beeindruckend. Gekonnt schafft es der bayerische Autor, die Stimmungen, die in den unterschiedlichen Settings herrschen, einzufangen und aufs Papier zu bannen. Die Offenheit Istanbuls wird genauso wie die Enge auf den Schiffen Goeben und Breslau hervorragend literarisch ins Buch gebannt und löst großes Kopfkino aus.

Nach langer Zeit gibt es mit Risiko nun endlich mal wieder einen farbenprächtigen Abenteuerroman, der die Konkurrenz von Ken Follett und Co. wie blasse Sepia-Fotografien erscheinen lässt. Mit großer Sprachmacht entfesselt der Autor ein nahezu fantastisch anmutendes Kapitel deutscher Geschichte, das mir in dieser Form völlig neu war. Seine Geschichte bietet zahlreiche Charaktere, Stränge und Motive.

Ein Motiv, das hierbei das komplette Buch durchzieht ist das des Großen Spiels, auch unter dem Namen Risiko bekannt. Immer wieder webt Kopetzky das Spiel, welches schon bald ernst wird, in seine Geschichte ein, genauso wie er einige Charaktere, darunter unter anderem den Vater von Albert Camus auftauchen lässt oder interessante Randbemerkungen einflechtet.

Fazit

Wenn ich meine Top-Drei des Lesejahres bestimmen müsste, dieses Buch ist auf jeden Fall auf der Liste vertreten. Die stilistische Brillanz, der große Bilderbogen, die Atmosphäre – Risiko sticht unter all den Neuerscheinungen dieses Jahres definitiv heraus.


  • Steffen Kopetzky – Risiko
  • ISBN 978-3-608-93991-0 (Klett-Cotta)
  • 731 Seiten. Preis: 24,95 €
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