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Sarah Perry – Melmoth

Zu Halloween gehört auch die passende Grusellektüre. In meinen Augen bietet sich da der neue Roman von Sarah Perry (Die Schlange von Essex) mehr als an. In Melmoth lässt sie eine Engländerin namens Helen über den Mythos der wandernden Melmoth stolpern. Kann die legendenumwobene Figur auch heute noch in den Gassen Prags umgehen?


„Sag mal, kennst du den Namen Melmoth?“

„Melmoth? Nein, nie gehört. Daran würde ich mich erinnern. Melmoth – das ist nicht tschechisch, oder? Aber englisch klingt es auch nicht …“ (…)

„Nein, natürlich nicht, und es ist kein Wunder – noch vor einer Woche hätte ich nichts damit anfangen können. Eine Woche, länger ist es nicht her!“ Wieder das freudlose Lachen. „Melmoth. Sie …“ Unbeholfen streichen Karels Hände über das Papier (…).

„Hast du je“, fragt er, „dieses Kribbeln im Nacken gespürt? Wenn die Haare sich aufstellen, als würde ein kalter Luftzug durchs Zimmer wehen, den niemand fühlen kann außer dir?“

Perry, Sarah: Melmoth, S. 20f.

Die wandernde Melmoth

Vor der Lektüre von Sarah Perrys Buchs hatte ich auch noch nichts vom Mythos des oder der wandernden Melmoth (das Geschlecht variiert je nach Variante) gehört. Im Buch erklärt Perry diesen Mythos wie folgt: Laut ihr geht die Figur der Melmoth auf eine biblische Erzählung aus dem neuen Testament zurück. Denn nachdem Jesus am dritten Tage auferstanden war, kamen der Sage nach Frauen an sein Grab, darunter auch Maria Magdalena. Die Frauen entdeckten das leere Grab und trugen – je nach ausgewähltem Evangelium – die frohe Kunde der Auferstehung Jesu weiter. Unter den Frauen war allerdings auch Melmoth, die die Auferstehung Jesu leugnete. Die Strafe erfolgte prompt – oder wie es ein Bauer im Roman erklärt, nachdem er gefragt wird, warum sich ein Stuhl auf seinem Acker befindet:

„Für die Reisende“ sagte er. „Für die Zeugin, die dazu verdammt ist, von Jerusalem nach Konstantinopel zu laufen und von Irland nach Kasachstan. Sie ist einsam bis in alle Ewigkeit, ausgeschlossen von Gottes Gnade und der Gemeinschaft der Menschen. Sie sieht alles und hat ihren Blick auch auf deine Sünden und deine Verfehlungen gerichtet. Selbst die Ruhepause des Schlafes hat Gott ihr genommen!“

Perry, Sarah: Melmoth, S. 51

Immer wieder in der Geschichte und in diversen Geschichten taucht diese Melmoth auf – mal weiblich, mal männlich. Am berühmtesten ist sicher der Roman Melmoth der Wanderer des irischen Schriftstellers Charles Robert Maturin. Diese Bearbeitung des Melmoth-Mythos gilt in der englischsprachigen Welt als einer der besten Schauerromane der Schwarzen Romantik.

Melmoth – eine Perle der Schwarzen Romantik

Original Frontispiz zu „Melmoth, der Wanderer“ von Charles Robert Maturin

Während auf deutscher Seite E.T.A. Hoffmann und seine Elixiere des Teufels oder Der Sandmann als stilprägend für diese Epoche gelten, ist es auf der Insel dieser Melmoth-Mythos, der genauso unsterblich wie seine im Kern stehende Figur ist. Sarah Perry stellt sich ganz bewusst in die Tradition dieses vor 190 Jahren erstmals erschienen Schauerromans, indem sie im Maturin in ihrer Buchwidmung bedenkt.

Von der Unsterblichkeit ihrer Melmoth ist auch bald Sarah Perrys Heldin Helen überzeugt. Diese hat sich eigentlich nach Prag zurückgezogen, um ihren eigenen Gespenstern aus der Vergangenheit zu entkommen. Doch dank der Freundschaft zu einem tschechischen Forscher gelangt sie an ein Manuskript. In diesem schreibt ein inzwischen greiser ein Deutsch-Tscheche namens Hoffmann (!) seine Lebensgeschichte auf, die in die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung Tschechiens zurückführt. Der alte Mann will jener Melmoth begegnet sein – und verstirbt kurz nach seiner schriftlichen Lebensbeichte in einer Bibliothek.

Angefixt von dieser Erwähnung setzt sich Helen immer tiefer mit dem Mythos auseinander. Immer wieder begegnen ihr die Spuren von Melmoth. Ob in einer apokryphen Janecek-Oper, Theodor Storms Schimmelreiter oder einem Kairoer Tagebuch. Von Zeit zu Zeit stoßen wir als Leser*innen im Buch auf lange schriftliche Auszüge aus den fiktiven Dokumenten, die sich mit Melmoth beschäftigen. So gibt es eben jene Hoffmann’schen Aufzeichnungen, einen Brief aus dem 17. Jahrhundert oder jenes oben erwähnte Kairoer Tagebuch. Bald schon hat auch Sarah das Gefühl, dass sie jemand verfolgt und ihre Spur aufgenommen hat. Ist Melmoth in den Gassen Prags unterwegs?

Auf den Spuren von Melmoth durch die Zeit

Sarah Perry will in ihrem Buch sehr viel. Die erfundenen Dokumente, die die Handlung ergänzen, reißen viele Themen an. Armenisch-türkische Zwistigkeiten im 20. Jahrhundert, Schrecken des Dritten Reichs, Leben in der Dritten Welt. Der Kleber, der diese Einzelepisoden zusammenfügt, er will nicht immer richtig halten. So ist dieses Buch stellenweise etwas unentschieden, welche Geschichte nun erzählt werden soll. Zwischen all den Einzelschicksalen und kurz skizzierten Personen geht der Schauder rund um Melmoth manchmal unter.

Dafür drückt Sarah Perry an anderen Stellen wieder ordentlich auf die Gruseltube. Dauernd fliegen Dohlen durch Prag oder klopfen an Fenster, wabert der Nebel oder knarren die Dielen der Altbauwohnung, die Helen von einer hochbetagten und eigenwilligen Dame gemietet hat.

Aus Theas Zimmer sind die langen, flachen Atemzüge der Schlafenden zu hören. Helen Franklin schaltet das Licht aus und zieht die Tür hinter sich zu. Auf dem Altstädter Ring ist alles still, nur der arme Märtyrer Jan Hus bekommt in Erwartung des Scheiterhaufens wieder mal kein Auge zu. Aber nein – vielleicht ist da nicht nur Jan Hus. Falls Sie aufgepasst haben, konnten Sie in einem Winkel des Hofes, den Helen gerade verlassen hat, eine schwarz gekleidete Gestalt erkennen; sie wacht und wartet geduldig auf den passenden Moment.

Perry, Sarah: Melmoth, S. 01

Die dunklen Seiten von Prag

Gerade die Stadt Prag ist auch so etwas wie die wichtigste Nebendarstellerin in Perrys Roman. Die Geschichte genau dort zu erzählen, ergibt nicht nur aufgrund der illustren Geschichte der Stadt Sinn. Auch spielen hier andere Geschichten, in deren Tradition Melmoth steht. Die wohl stärkste Assoziation in dem Buch hatte ich zu Gustav Meyrinks Roman Der Golem. Aber auch einen Abglanz des Prager Großschriftstellers Franz Kafka lässt sich in ihrem Buch finden, wenn man genau liest.

Die literarische Größe dieser Werke hat das Buch in meinen Augen nicht, dazu ist es eine Spur zu gefällig. Schön ist ihre dreiteilige Konstruktion voller Briefe und anderer erfundenen Quellen aber allemal. Und auch sehr stimmig, dass sich eine kommentierende Erzählstimme immer wieder einmischt, die die Leser*innen stilecht anspricht und so auch einen Hauch von Grusel erweckt.

Melmoth ist ein Roman, der sich großartig für die graue Herbstzeit oder einen Pragbesuch eignet, da er die dunklen Seiten der Stadt ergründet. Ein größtenteils gelungener Schauerroman, ein modernes Update von Charles Robert Maturins Buch und ein Titel, der sich auf einer literarischen Halloween-Feier durchaus gelungen integrieren lässt. Ein großes Lob auch an die ruckelfreie und vielstimmige Übersetzung durch Eva Bonné und die Entscheidung, das stimmungsvolle Originalcover der englischen Ausgabe beizubehalten.


Bildrechte:

Melmoth-Frontispiz: Von me – own scan, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11891547

Titelbild: Pixabay, Prag: Pexels

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Emanuel Bergmann – Der Trick

Immer mal wieder geschieht es, dass man in der ganzen Bücherflut über Preziosen stolpert, die man nicht unbedingt auf dem Schirm hatte, denen man aber eine möglichst große Leserschaft wünscht. Das im März neu erscheinende Debüt von Emanuel Bergmann fällt in diese Kategorie – erschienen ist es gleich als Hardcover bei Diogenes. Für ein Debüt spricht dies schon Bände – umso schöner dass das Buch auch alle Versprechen einlösen kann.

Von Prag bis nach Los Angeles

978-3-257-06955-6

Das Buch erzählt in zwei Strängen vom kleinen Mosche Goldenhirsch in Prag 1934 und vom kleinen Max Cohn, der dieser Tage in Los Angeles lebt.

Dessen Eltern haben sich nicht mehr viel zu sagen und stecken gerade inmitten ihrer Scheidung. Max nimmt dies alles sehr mit, sähe er doch seine Eltern am liebsten wieder zusammen. Die Rettung aus dieser verfahrenen Situation scheint eine alte Schallplatte zu sein, die Max im Gerümpel seines Vaters findet. Diese Schallplatte stammt vom Zauberkünstler Zabbatini, der in rätselhaftem Singsang von einem Liebeszauber berichtet, den er vollführen könne. Aber wie das mit alten Schallplatten so ist – an der entscheidenden Stelle hängt natürlich die Aufnahme. Für Max steht nun fest – er muss diesen Zabbatini finden, koste es was es wolle. Kurzerhand macht er sich auf die eigene Faust auf den Weg, den Zauberer zu finden. Doch wird Zabbatini die Magie noch einmal entfachen können?

Während Max nach dem Zabbatini sucht, erzählt Emanuel Bergmann derweil parallel von Mosche Goldenhirsch, den das Leben bald zu eben jenem Großen Zabbatini machen wird, der Max‘ Eltern verzaubern soll. Während der Nationalsozialismus in Deutschland um sich greift, wächst Goldenhirsch als Sohn eines Talmud-Gelehrten in Prag heran und beschließt, sich einem Zirkus anzuschließen. Langsam bewegen sich die beiden Stränge aufeinander zu und bringen Max und Mosche zusammen, die zwar Jahrzehnte trennen, die sich aber beide ähnlicher sind, als es zunächst den Anschein hat.

Magie, Humor, Drama

Seit Joachim Meyerhoffs Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke habe ich bei keinem Buch mehr so oft lachen müssen. Emanuel Bergmann hat ein tolles Gespür für Pointen, Situationskomik und humorvolle Dialoge. Das Aufeinandertreffen von Max und Mosche wird toll beschrieben und der deutsche Autor geizt nicht mit absurden Szenen. Doch was sich hier vielleicht nach überdrehtem Klamauk anhören könnte, ist es keinesfalls. Bergmann nimmt seine Figuren ernst und schafft es, im letzten Teil des Buchs noch eine todtraurige Ebene einzuziehen, die mich sehr berührte.

Sein Roman erzählt vom Zauber der Kindheit, als noch vieles möglich schien. Die Magie und die Kunst der Täuschung nehmen in seinem Roman einen großen Raum ein. Er erzählt vom zeitlosen Wunsch, seinen Träumen zu folgen und rührt damit genauso zu Tränen, wie er die Leser herzlich lachen lässt. Manchmal genügen nur kleine Andeutungen, dass der Leser weiß, was Sache ist. Sein Mosche alias Zabbatini erinnert passagenweise auch an Charlie Chaplins großen Diktator, gerade wenn Bergmann im letzten Drittel die prägenden Erlebnisse aus Mosches Leben schildert.

Mit Max und Mosche stellt er zwei schlitzohrige Helden in den Mittelpunkt, die den Leser für sich einzunehmen wissen. Der Trick ist ein buntes Buch, das viele Emotionen beim Leser zu wecken weiß. Ein großartiges und toll inszeniertes Debüt, das in den Bestsellerlisten landen sollte!

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Katharina Hartwell – Der Dieb in der Nacht

Ein dunkles Märchen

Nach ihrem Debüt Das fremde Meer legt Katharina Hartwell, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts, nun nach: Der Dieb in der Nacht heißt ihr neuer Titel und erzählt von mysteriösen Ereignissen.
Ein Sommer, drei unterschiedliche Versionen der Ereignisse: Nach einem Tag am See verschwindet Felix plötzlich, nachdem er die Zeit mit seiner Mutter Agnes, seiner Schwester Louise und seinem besten Freund Paul verbracht hat. Nichts deutete auf das Verschwinden hin, die Spuren verlieren sich, nachdem Felix bei einer Tankstelle eine Cola kaufen wollte.
Sprung nach vorne: der erwachsene Paul durchstreift ruhelos Prag, als er in einer Spelunke über einen mysteriösen Mann stolpert. Dieser erinnert ihn auf unglaubliche Weise an den damals verschwundenen Felix. Er trägt ein identisches Muttermal wie Felix und weckt Erinnerungen in Paul. Doch dem Mann, der sich den Namen Ira Blixen gegeben hat, fehlen sämtliche Erinnerungen. Er wurde vor Jahren unterkühlt aus der Moldau gezogen und weiß so gut wie nichts über sich – zumindest behauptet er das.
Ist Ira Blixen tatsächlich Felix? Zweifel und Hoffnung beginnen sich abzuwechseln und plötzlich entfalten sich gefährliche Dynamiken, als Ira vor der Wohnung von Paul steht. Sämtliche Beteiligte werden nun in Untiefen gesogen, als die Geschehnisse um Ira Blixen und den damaligen Sommertag am See ans Licht drängen.

Lebenslügen

Katharina Hartwell seziert in ihrem neuen Roman Lebenslügen aus unterschiedlichen Perspektiven. Langsam dröselt sie die Geschehnisse am See auf. Die Hintergründe des Verschwindens von Felix erschließen sich erst langsam und der Leser muss sich aus den Aussagen die subjektive Wahrheit erst selbst zusammenpuzzlen.
Vordergründig passiert in Der Dieb in der Nacht nicht viel – Katharina Hartwell legt ihren Fokus mehr auf die Verschiebungen im zwischenmenschlichen Bereich.

Ein Kammerspiel

Wer Hoffnungen auf einen Krimi hegt, sieht sich schnell getäuscht. Der Dieb in der Nacht ist ein Kammerspiel, das auch gut als Theaterstück auf einer offenen Bühne funktionieren könnte. Denn die etwas karge Inszenierung von Katharina Hartwell lässt sich auch gut übertragen, kreist das Buch doch permanent um die vier Charaktere Agnes, Paul, Louise und  Ira (oder doch Felix?) und wie sich deren Beziehung untereinander verändern…
Ein besonderes Wort sollte noch über die Aufmachung und das Cover des Buchs verloren werden. Wie der Farbton des Covers auf dem Buchrücken und dem Lesebändchen aufgegriffen wird, zeigt deutlich, dass sich hier jemand Gedanken gemacht hat. das mit floralen Elementen und Vanitas-Motiven aufgehübschte Cover zählt für mich zu den schönsten buchgestalterischen Entwürfen dieses Literaturherbstes.

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