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Beth Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Missisippi

Überschwemmungen in einigen Teil Deutschlands wie aktuell in Teilen Frankens und Nordrhein-Westfalens lassen aufhorchen. Immer wieder sind es Starkregen oder Wetterlagen wie die in Stuttgart, die Teile des Landes unter Wasser setzen. Solche Ereignisse lassen Erinnerungen hochkommen an Naturkatastrophen, die zu Landmarken der deutschen Geschichte wurden, etwa die Sturmflut in Hamburg oder das Elb-Hochwasser im Jahr 2002.

Während wir uns in Deutschland an diese Ereignisse immer wieder erinnern, ist es in Amerika eine deutlich größere Flutkatastrophe, die nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist, wie es das Autorenpaar Beth Ann Fennelly und Tom Franklin im Vorwort zu Das Meer von Mississippi schildert. 1927 kam es in großen Teilen der Mississippi-Region nach starken Regenfällen zu einer Überflutung der Region, die zahlreiche Menschenleben forderte.

Doch weder den amtierenden Präsidenten Coolidge noch sonstige ranghohe Repräsentanten schien die Katastrophe zu kümmern. Während bei uns schnell Regierungsvertreter zu den Schauplätzen solcher Katastrophen eilen und sich als Krisenmanager*innen inszenieren, glänzte die Obrigkeit in Mississippi mit Abwesenheit und Desinteresse. Aber nachdem der Landstrich von überwiegend armer und damit nicht wahlentscheidender Bevölkerung besiedelt war, hielt sich das Engagement der Regierung eher in Grenzen (was sich ja nicht nur beim Hurrikan Katrina wiederholen sollte). Auch das Erinnern an die Katastrophe wurde nicht wirklich aktiv betrieben, der Blick ging schnell nach vorne. Und so haben es sich Fennelly und Franklin zum Ziel gesetzt, die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse noch einmal wachzurufen und die Leserinnen und Leser mitzunehmen in ein von Regen getränktes Mississippi-Delta im Jahr 1927.

Ein Paar voller Gegensätze

Dazu setzen sie ein äußerst gegensätzliches Paar Protagonisten in den Mittelpunkt des Buchs. Da ist der Bluesliebhaber und Prohibitionsagent Ted Ingersoll, der mit seinem Partner Johnson einen Spezialauftrag von Herbert Hoover erhält. Im Süden der USA sind zwei andere Agenten verschwunden, die mit dem Aufspüren von Schwarzbrennern beauftragt waren. Nachdem die Männer wie vom Erdboden verschluckt sind, sollen Ingersoll und Johnson nun Licht in die Angelegenheit bringen. Bei ihrer Suche im Dauerregen von Mississippi stoßen die beiden bei ihrer Suche auf ein herrenloses Baby, dessen sich Ingersoll annimmt.

Beth An Fennelly / Tom Franklin - Das Meer von Mississippi (Cover)

Um sich auf ihre Suche konzentrieren zu können, gibt Ingersoll das Baby in die Obhut von Dixie Clay Holliver, der zweiten Hauptfigur des Romans. Dabei ahnt Ingersoll allerdings nicht, dass es just Dixies Mann war, in dessen Gegenwart man die zwei verschwundenen Agenten zuletzt gesehen hat. Denn Dixies Mann ist ein Alkoholschmuggler, der die strengen Prohibitionsgesetze geschickt zu umgehen weiß. Die eigentliche Kraft hinter seinen Umtrieben ist allerdings Dixie selbst, eine hochtalentierte Schwarzbrennerin, die auf ihrer Farm in der Nähe des kleinen Dörfchens Hobnob den besten Moonshine im Süden brennt.

Aus der Spannung zwischen diesen eigentlich diametral entgegengesetzten Figuren zieht Das Meer von Mississippi seinen Reiz. Während der Regen unerbittlich vom Himmel fällt und einen immer größeren Druck auf die Flüsse und Deiche ausübt, kommen sich Ingersoll und Dixie näher. Beth Ann Fennelly und Tom Franklin inszenieren das mit wuchtigen Bildern und viel Gespür für Timing und Tempo. Wie sich die beiden immer weiter annähern, wie zugleich die Pegelstände steigen und sich die Handlung um die beiden gegensätzlichen Figuren herum immer schneller beschleunigt und schließlich in nicht nur einem metaphorischen Dammbruch endet, das ist ausnehmend gut gemacht. Immer wieder gelingen den beiden eindrucksvolle Szenen und farbig geschilderte Momentaufnahmen aus einer Welt, die sich zunehmend im Chaos verliert (übersetzt von Eva Bonné).

Fazit

Das Buch kann überzeugen und ist eine wirkliche Lesefreude, wenngleich der Publikationsort im Verlag Heyne Hardcore etwas in die Irre führt. Schreibt Tom Franklin sonst Thriller ganz anderen Kalibers, handelt es sich hier doch zuvorderst um einen Roman, der Elemente aus Krimi, Schmonzette und historischem Schmugglerepos á la Dennis Lehane miteinander formidabel verzahnt. Hardcore ist hier nichts, dafür aber durchaus eindrücklich. Und somit ist das Anliegen des Autoren- und Ehepaars durchaus gelungen, an diese vergessene Katastrophe zu erinnern und ihr ein literarisches Denkmal zu setzen! Ein Buch, das nicht nur in diesen regnerischen Tagen wärmstens empfohlen sei!


  • Benn Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Mississippi
  • Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
  • ISBN: 978-3-453-27285-9 (Heyne Hardcore)
  • 384 Seiten. Preis: 22,00 Euro
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Louisa Luna – Tote ohne Namen

Eine neue Ermittlerin hat den deutschen Buchmarkt betreten – und das mit einem gehörigen Knall. Alice Vega ist ihr Name. In Tote ohne Namen verschlägt es sie nach San Diego. Dort wird sie angeheuert – die Morde an zwei Minderjährigen aufzuklären. Und entdeckt bei ihren Recherchen ein gefährliches Geflecht von Menschenhändlern, staatlichen Behörden und mexikanischen Kartellen.


Immer wenn man in einem Fall besonderer Expertise bedarf, ist Alice Vega das Mittel der Wahl. Denn die Ermittlerin hat ein Auge für Details und schreckt auch vor robustem körperlichen Einsatz zurück. Zusammen mit ihrem Kollegen Max Caplan, einem ehemaligen Polizisten, begibt sie sich nach San Diego. Dort soll sie im Auftrag der Polizei als externe Beraterin einen besonderen Fall bearbeiten. Zwei minderjährige Mädchen wurden tot und misshandelt aufgefunden. Ihre Identität ist unklar, allerdings fällt der gewieften Rechtsmedizinerin ein besonderes Detail ins Auge. Die beiden Mädchen haben ein Intrauterinpessar mit ähnlicher Chargennummer in ihrem Körper. Aufgrund der Nummerierung dieser Pessare liegt der Verdacht nach, dass es irgendwo da draußen noch weitere Mädchen gibt, die als Prostituierte missbraucht werden. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere, und so kommen Vega und Caplan ins Spiel.

Und sie liefern tatsächlich schon bald erste Ergebnisse. Sie stoßen auf die Spur eines Drogendealers und kommen langsam, aber sicher einer Bande von Menschenhändlern auf die Spur. Allerdings mischt sich auch die DEA in Form zweier Agenten in ihre Ermittlungen ein. Und diese geben den beiden recht schnell zu verstehen, ihre Ermittlungen einzustellen. Doch obrigkeitshörig ist keine hervorstechende Charaktereigenschaft von Vega. Und so folgt sie unbeirrt den Spuren, die sie noch in große Bedrängnis bringen werden.

Auf den Spuren von Menschenhändlern

Louisa Lunas erster auf Deutsch vorliegender Roman ist ein Buch, das durch Rasanz, eine sympathische Ermittlerin und eine gnadenlos gute Taktung besticht. Die Handlung des 443 Seiten starken Romans erstreckt sich nur über wenige Tage, die Haupthandlung findet an gerade einmal zwei Tagen statt. Das verleiht dem Buch einen Drive, der nur so durch die Seiten fliegen lässt. Je weiter sich Vega durch San Diego ermittelt, umso mehr Feinde macht sie sich und umso größer wird das kriminelle Geflecht, das sie aufdeckt.

Louisa Luna - Tote ohne Namen (Cover)

Tote ohne Namen ist ein Buch auf der Höhe der Zeit. Sie erzählt vom unbändigen Leid, das unter dem Deckmantel von „Law and Order“ im Grenzland zwischen Mexiko und den USA stattfindet. Kinder, von denen niemand weiß, wo sie abgeblieben sind. Ermittlungsbehörden, die sich selber die Finger schmutzig machen. Kartelle, die auch durch Mauerbau nicht aufgehalten werden. Und einer Politik, die eher auf markige Gesten denn auf konkrete Lösungsansätze setzt. All das beschreibt Louisa Luna in Tote ohne Namen genau

Dabei fungiert Alice Vega auch ein Stück weit als Katalysator für das eigene Unrechtsbewusstsein und die eigene Hilflosigkeit. Denn obschon wir von dem Unrecht wissen, von Kindern, die in Käfigen gehalten werden, von Familien, die getrennt werden und von Kriminellen, die die Notlage der mexikanischen Bevölkerung für ihre Zwecke ausnutzen, passiert ja wenig. Hier kommt Vega ins Spiel, die mit unorthodoxen Mitteln selbst aktiv wird und dem Unrecht so entgegentritt. So fungiert diese Privatermittlerin nicht nur als Spurensucherin, sondern auch ein Stück weit als Katharsis.

Der gesellschaftliche Anspruch, die erzählerische Taktung, der klug ausbalancierte Plot machen aus Tote ohne Namen ein wirkliches Leseerlebnis und einen unbedingten Krimitipp.

Eine fragwürdige Veröffentlichungspolitik

Fragwürdig allerdings einmal mehr die Veröffentlichungspolitik des Suhrkampverlags und von Herausgeber Thomas Wörtche. Denn bei Tote ohne Namen handelt es sich mitnichten um den Beginn der Reihe um Alice Vega. „The Janes“, so der Originaltitel (übersetzt von Andrea O’Brien) ist der zweite Band der Reihe. 2018 erschien mit „Two Girls Down“ der erste Band der Reihe, in dem sich Alice Vega und Max Caplan zum ersten Mal begegnen. Warum man diesen ersten Band nicht einfach zuerst veröffentlicht hat, will sich mir nicht wirklich erschließen. Schließlich nimmt Tote ohne Namen an zahlreichen Stellen Bezug auf die Geschichte des ersten Bandes, die im zweiten Band der Reihe immer wieder aufgegriffen wird.

Hier hätte man sich in meinen Augen wirklich einen Gefallen getan, hätte man schon allein der erzählerischen Logik wegen die Reihe chronologisch beginnen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass uns der erste Band auch noch zeitnah zugänglich gemacht wird, schließlich ist der zweite Band derart verheißungsvoll, dass auch der erste Band nicht enttäuschen sollte (was auch die amerikanischen Kritiken nahelegen).

Insofern bleibe bei mir neben der unbedingten Empfehlung für den Roman Louisa Lunas der Wunsch, das man eine derartig unlogische und unchronologische Reihenentwicklung künftig sein lässt und Serien wieder den Raum gibt, sich von Beginn an zu entwickeln. Schließlich rühmt sich der veröffentlichende Verlag, nicht Bücher sondern Autor*innen verlegen zu wollen. Ich als Leser würde es sehr honorieren!


  • Louisa Luna – Tote ohne Namen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-518-47135-7 (Suhrkamp)
  • 444 Seiten. Preis: 15,95 €
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Candice Fox – Dark

Candice Fox hat es schon wieder getan. Mit einer beachtenswerten Konstanz erscheint jedes Jahr ein neuer Krimi der australischen Autorin. Mit Dark liegt ein Band vor, der erneut eine Reihe begründen könnte. Und obschon ich bei einer derartigen Publikationsfrequenz stets skeptisch bin: auch hier enttäuscht Fox nicht und liefert gelungene Kriminalliteratur.


Auch nach einer Trilogie rund um den „Herren der Unterwelt“ Hades Archer und die Crimson Lake-Reihe (hier zuletzt Missing Boy) gehen Candice Fox die Ideen nicht aus. Mit Dark beginnt sie eine neue Reihe, die nun nicht mehr auf Fox‘ Heimatinsel Australien, sondern in Los Angeles angesiedelt ist.

Hier versieht die Hispanic Jessica Sanchez ihren Dienst auf dem lokalen Polizeirevier. Bei den Kolleg*innen ist sie nicht wohlgelitten. Der Grund: sie hat einen Cold Case durch Beharrlichkeit nach vielen Jahren zu einem erfolgreichen Ende geführt. Der Vater des Mordopfers hat ihr aus Dankbarkeit für ihre Aufopferung ein millionenschweres Haus vermacht. Das alarmiert nicht nur die internen Kontrollorgane der Polizeibehörde. Auch die Kolleg*innen neiden Jessica die Immobilie und schneiden sie, wo sie können.

Die zweite Hauptfigur in Candice Fox‘ neuester Kreation ist Blair. Die Ich-Erzählerin war früher eine erfolgreiche Chirurgin. Doch nach einer Anklage wegen Totschlags und dem anschließenden Gefängnisaufenthalt, hat sie ihren sozialen Status verloren. Auch ihr Kind musste sie gleich nach der Geburt im Gefängnis in die Obhut einer Pflegefamilie geben.

Eingedenk dieses Hintergrundes ist Blair höchst alert, als ihre ehemalige Mitinsassin Sneak sie um ihre Hilfe bittet. Sneaks Tochter Dayly ist verschwunden. Kurz zuvor hat diese die Tankstelle überfallen, an der Blair nach ihrer Haftenlassung jobbt, um sich durchzuschlagen. Die beiden Frauen beschließen, sich zusammenzutun, um die spärlichen Spuren von Sneaks Tochter zu verfolgen.

Vier Frauen auf der Suche nach Dayly

Hilfe bekommen sie dabei von zwei gegensätzlichen Seiten. In ihrer Not wenden sich die beiden Frauen an Ada, die sie als gefürchtete Bandenchefin noch aus dem Gefängnis kennen. Die vierte im Bunde ist keine Kriminelle, sondern Kriminalerin. Jessica Sanchez unterstützt die Suche ebenfalls. Sie treibt primär nicht die Suche nach Sneaks Tochter sondern das Gefühl einer Verpflichtung Blairs gegenüber. Die Ahnung aus , im Falle der Verurteilung Blairs einige entscheidende Details übersehen zu haben, sie lässt Jessica nicht los. Und so beteiligt sich an der Suche nach Dayly.

Candice Fox - Dark

So suchen die vier Frauen aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Dayly, deren Spuren ins Hinterland von Los Angeles führen. Dort im Niemandsland verlieren sich die Spuren.

Konkreter allerdings werden die Spuren im Falle von Blair. Jessica vertraut, unbeirrt vom Mobbing ihrer Kolleg*innen, ihren Instinkten, und geht den alten Spuren nach. Immer stärker wird ihre Ahnung, damals im Fall der Verurteilung etwas Entscheidendes übersehen zu haben. Und so entwickeln sich in Dark zwei Spurensuchen. Die nach dem Verbleib Daylys und die nach den Hintergründen von Blairs Tat.

Dabei kommen dem regelmäßigen Leser der Werke Candice Fox‘ einige Motive sehr bekannt vor. Dass jemand für eine Tat verurteilt wurde, dessen Unschuld beziehungsweise der korrekte Tathergang im Laufe des Buchs offenbar wird, das war schon in ihrer Crimson Lake-Reihe ein zentrales Motiv. Auch andere Elemente kennt man, wenn man schon Bücher der Australierin gelesen hat. Das Mobbing durch Polizeiangehörige oder ungewöhnliche Haustiere, zu denen die Protagonist*innen eine Bindung entwickeln, all das sind Fox’sche Versatzstücke, die auch schon in anderen Büchern Verwendung fanden.

So fällt das Buch, im Gesamtkontext von Candice Fox‘ Schaffen betrachtet, nicht unbedingt durch Innovation auf. Vielmehr wirkt Dark stellenweise wie ein Remix aus früheren Erfolgstiteln der Australierin.

Candice Fox‘ knappe Figuren und Dialoge

Auch lässt die Figurenzeichnung und die manchmal fast comicartige Dialogregie zu wünschen übrig.

Dann: „Willst du mich verarschen?“

„Was? Liege ich etwa falsch?“

„Aber so was von, Bitch! Ich bin doch keine ersiffte Taube, die man vom Highway retten muss! Ich bin ein Raubvogel. Solche Opfer kill ich. Eiskalt!“

Mir erstarrt das Grinsen im Gesicht

„Wenn du jemandem diese Scheiße erzählst, tätowiere ich deine Fersse mit dem Taschenmesser!“

„Mach ich nicht“ stammelte ich, aber sie hatte schon aufgelegt.

Fox, Candice: Dark, S. 120

Für sich genommen liest sich das stellenweise schon arg dünn und klischiert. Aber wie es Candice Fox gelingt, die Perspektiven der vier Frauen auszubalancieren, die Handlung voranzutreiben und dann einen multiperspektivischen Showdown über zwei Erzählstränge anzulegen – das ist gut gemacht und zeigt ihr schriftstellerisches Können. Das Tempo ist bestechend hoch und so etwas wie Langeweile kommt auf den Seiten von Dark eh nie auf. Da nimmt man auch den ein oder anderen misslungen Dialog in Kauf.

Gekonnt beschreibt sie die ihren Schauplatz Los Angeles, weckt Sympathien der Leser*innen und unterhält auf einem wirklich tollen Niveau, sieht man über manche Dialoge und allzu grobe Pinseleien hinweg. Mit ihren vier Frauen renoviert sie das männderdominierte Genre des Krimis ordentlich. Davon gerne noch mehr!


  • Candice Fox – Dark
  • Übersetzt von Andrea O’Brian
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47101-2 (Suhrkamp)
  • 394 Seiten. Preis: 15,95 €
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Yangsze Choo – Nachttiger

Malaysia ist ja ein literarischer Schauplatz, der uns westlich geprägten Leser*innen eher selten unterkommt. Mit Nachttiger ist nun Literatur von dort zu entdecken, die zurück in die 30er Jahre führt, als Malaysia noch Britisch-Malaya hieß. Die gebürtige Malayin Yangsze Choo entführt in ihrem ersten auf Deutsch vorliegenden Roman in Tanzhallen, Pathologie-Säle und auf die Spuren einer äußerst lebendigen Legende.


Es ist der letzte Wille seines Hausherren, der den jungen Ren auf eine Mission schickt. Der Zehnjährige verdingte sich im Haus von Doktor MacFarlane als Hausboy, der sich um Essen, Reinigung und das Wohlergehen seines Chefs kümmerte. Doch nun ist Doktor MacFarlane tot. Auf dem Totenbett hat er Ren mit seinem letzten Willen betraut. Er soll den amputierten Finger des Doktors auftreiben und dafür sorgen, dass dieser mit der Leiche MacFarlanes beerdigt wird. Ihm bleiben 49 Tage Zeit, ehe die Leiche seines Herren in die Totengründe eingeht.

Derweil verdingt sich Ji Lin heimlich in Ipoh einem Tanzsalon. So will sie dazu beitragen, die Spielschulden ihrer Mutter abzustottern. Von ihrer Nebentätigkeit darf niemand etwas erfahren, denn eigentlich ist sie in einer Schneiderei zur Lehre angestellt. Für ihren Stiefvater steht eh schon fest, dass Ji Lin sich lieber mit dem richtigen Partner verloben sollte und dann als Ehefrau ihr Glück finden soll.

Tatsächlich findet Ji Lin beim Tanzen aber etwas ganz anderes: einen abgetrennten Finger in einem Glas. Ist es der Finger, den Ren dem Grab von Doktor MacFarlane zuführen soll?

Auf der Jagd nach einem Finger

Yangsze Choo hat einen Roman geschrieben, der mit leuchtenden Farben das Leben in Britisch-Malaya in den 30er Jahren wieder aufleben lässt. Britische Ex-Pats, die Partys geben und trotzdem nicht so richtig im Land angekommen sind. Houseboys und andere einheimische Angestellte, die für die Briten sorgen. Tanzhallen, Monsunregen und Legenden aus dem Diesseits, die die Malayen umtreiben.

Nachttiger von Yangsze Choo

Aus diesen Zutaten mischt Choo ihren Roman und reichert ihn mit einer Liebesgeschichte um Ji Lin an. Eine Liebesgeschichte, die ich für etwas überflüssig erachte und die das Buch seichter als nötig macht. Denn in meinen Augen fällt dieser Part des Buchs etwas gegen die restlichen, sehr starken Elemente des Buchs ab. Die Suche nach dem Finger, die Legende des Wer-Tigers, der immer wieder Opfer fordert und ein Krimiplot, der zu einem rasanten Showdown führt – da hätte es die Lovestory on top nicht unbedingt gebraucht. Abgesehen von dieser Liebesgeschichte und ein paar erzählerischen Längen ist der Nachttiger aber ein wirklich runder und guter Unterhaltungsroman geworden.

Irgendwo zwischen Colin Cotterills Dr. Siri-Reihe und Puccinis Miss Butterfly nimmt Yangsze Choo Platz und erzählt eine Geschichte, bei der sowohl der Inhalt als auch die klar unterscheidbaren Erzählstimmen der Ich-Erzählerin Jin Lin und des in der 3. Person Präsens erzählten Strang um Ren überzeugen. Darüber hinaus bietet die Erzählung Exotik integriert auch Übersinnliches, wodurch das Buch gewinnt.

Allein warum man den im Buch beständig Wertiger genannten Tiger im Titel des Buchs plötzlich zum Nachttiger macht, das bleibt wohl das Geheimnis von Autorin und Verlag. Übersetzt wurde das Buch aus dem Englischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer.


  • Yangsze Choo – Nachttiger
  • Aus dem Englischen von Heike Reissig und Stefanie Schäfer
  • ISBN 978-3-336-54807-1 (Wunderraum)
  • 576 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ein Roman wie ein Drogentrip

Petra Piuk & Barbara Filips – Wenn Rot kommt

Las Vegas – Stadt des Glücksspiels und ewiger Sündenpfuhl. Glücksspiel, Casinos, Elvis Presley. So die wohl häufigsten Assoziationen, wenn man an die Stadt in der Wüste Nevadas denkt.

Petra Piuk und die Fotografin Barbara Filips haben nun ein Buch verfasst, das die dunklen Abgründe der Stadt sehr hell ausleuchtet. Entstanden ist Wenn Rot kommt. Ein Buch, dessen Lektüre einem Drogentrip gleicht.


Die Ausgangssituation des Romans gleicht dabei der des populären Blogbusters Hangover. Ähnlich wie im Film erwacht auch hier eine Protagonistin verkatert in einem Hotelzimmer in Las Vegas. Lisa heißt die junge Frau, die feststellen muss, dass ihr Partner Tom weg ist. Doch nicht nur dieser ist verschwunden. Auch die konkreten Erinnerungen an die letzten Nächte fehlen ihr.

Petra Piuk - Barbara Philipps - Wenn Rot kommt (Cover)

Sie weiß nur, dass in wenigen Stunden ihr Flug nachhause geht. Und dann ist da noch eine Kamera, die die Wahrheit über ihren Trip preisgeben könnte. Doch ihr Partner bleibt verschwunden. Und so taumelt sie zunächst orientierungslos durch ihr eigenes Hotelzimmer, ehe sie sich nach draußen wagt.

Sie durchmisst die Glücksspielstadt Las Vegas. Dabei sitzt ihr die ablaufende Zeit im Nacken. Immer wieder überlagern Flashbacks an Erlebnisse der letzten Tage ihre Erinnerung. Partys, Drogen, Hangover. Doch wo ist Tom? Und was ist wirklich passiert in der Stadt der Sünde? Die Rekonstruktion der Ereignisse wird zu einem düsteren Trip, der die dunklen Seiten von Las Vegas zum Vorschein kommen lässt.

Ein wilder Erinnerungsstrudel

Petra Piuk hat einen Roman geschrieben, der wild, assoziativ und dabei völlig unberechenbar ist. Ein wildes Leseerlebnis, das die Drogeneskapaden und Erinnerungsfetzen von Lisa schriftlich nachzubilden versucht. In verschiedenen Schriftarten gesetzt, manchmal fettgedruckt, dann wieder in Rot gedruckt gleicht das Buch einem beharrlichen Sturm auf die optischen Sinne. Als stünde man mittendrin auf einem der Boulevards von Las Vegas, und würde von dem Tosen, Blinken und Leuchten der Stadt überwältigt, so fühlt sich auch die Lektüre selbst an, in der viele Sätze noch nicht einmal beendet werden.

Die Struktur wird dabei durch kurze Kapitel vorgegeben, oder wie es die Autorinnen selbst formulieren:

Die Geschichte basiert auf einer fiktiven Begebenheit, realen Stimmen der Stadt, realen und halbrealen Schauplätzen und einem Roulettespiel.

Nach der Ordnung eines Roulettespiels reihen sich wild durcheinandergewürfelt die Kapitel aneinander. Rot folgt auf Schwarz und umgekehrt. Eine Handlungsanweisung für den wilden Ritt geben die Autorinnen in der Anleitung auch:

Lesen Sie den Text nicht unter Einfluss von psychedelischen Drogen.
Lesen Sie den Text von der ersten bis zur letzten Seite, also von Kapitel 33 Schwarz Welcome to Fabulous bis Kapitel 21 Rot Haben Sie mexikanisch bestellt.

ODER: Lesen Sie den Text in der Reihenfolge der Kapitelnummern, also von Kapitel 1 Rot I hope you have fun bis Kapitel 36 Rot Verdammte Flashbacks.

Sorgen Sie für Störgeräusche: Staubsaugerlärm. Radiorauschen. Fernsehwerbung. Dazu Weihnachtslieder in voller Lautstärke.
Der Text eignet sich nicht für einen gemütlichen Leseabend.
Lesen Sie den Text schnell.
Verweilen Sie bei den Fotografien, verlieren Sie sich darin, aber
achten Sie darauf, dass Sie wieder hinausfinden.

Philipps, Barbara / Piuk, Petra: Wenn Rot kommt, S. 7

Nach zwei erprobten Lesevarianten empfehle ich auf alle Fälle die geradelinige Lektüre, Seite für Seite. So lässt sich ein Buch entdecken, in dem Drogen, Waffen, der Zufall, ein Clown und viele rot-schwarz gehaltenen Fotos von Barbara Filips eine Rolle spielen.

Fazit

So entsteht ein mehr als außergewöhnliches Leseerlebnis, das auch ohne den Genuss von Drogen die Erfahrung desselbigen beim Lesen hervorruft. Wenn Rot kommt ist ein wilder Ritt. Eine Lektüre wie ein Trip, im freien Fall durch einen Erinnerungsstrudel. Ein Roulettespiel der Literatur. Schnell, unberechenbar, formal mehr als ungewöhnlich gestaltet präsentiert der Verlag Kremayr & Scheriau einmal mehr eine höchst interessante Facette zeitgenössischer Literatur.

Eine weitere Meinung zu dem Buch gibts bei Bookster HRO, der auch das schöne Wort Gedankenfasching für das Buch verwendet. Ich mag ihm nicht widersprechen!


  • Barbara Filips & Petra Piuk – Wenn Rot kommt
  • ISBN 978-3-218-01227-0 (Kremayr & Scheriau)
  • 192 Seiten. Preis: 24,00 €
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