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Kyle Perry – Der Rausch der Tiefe

Eine Familie, in der niemand dem anderen wirklich traut und in der so gut wie alle Geheimnisse voreinander haben und sich gegenseitig belügen. Willkommen in der Familie Dempsey, die im tasmanischen Fischerort Shacktown und weit darüber hinaus das Sagen hat.

Kern des Familienimperiums ist die Abalone-Fischerei, die Davey Dempsey betreibt. Das Fischen der Delikatessen vor der Küste Tasmaniens ist allerdings nur Fassade. Die wahren Erträge generiert die Fischerei durch den Drogenhandel. Ice beziehungsweise Crystal Meth heißt der Stoff, mit dem die Davey halb Tasmanien versorgt und der zum Schicksal seiner Brüder und seines Cousins geworden ist.

Sein Bruder Mackenzie, von allen nur Mackerel, also Makrele geheißen, erlebte Psychosen und ist inzwischen körperlich recht invalide, saß im Gefängnis ein und muss sich nun regelmäßig bei den Polizeibehörden melden. Sein Cousin Ahab hat dem Crystal Meth und damit auch der Familie Dempsey abgeschworen und betreibt nun eine Kneipe in Shacktown. Und Jesse, der andere Bruder von Mackerel, ist schon vor vielen Jahren ebenso wie seine Frau Alexandra und der gemeinsame Sohn Forest verschwunden. Was damals wirklich geschah, darüber gehen die Spekulationen weit auseinander, die von Mord bis zu einem Unfall reichen.

Sieben Jahre nach Verschwinden wird Forest nun an der Küste Tasmaniens angespült. Entkräftet und dem Tode nahe zieht man ihn dort aus dem Wasser, wobei auf seinem Rücken ein Tattoo prangt, das seine Identität bestätigt. Polizei und vor allem die Dempseys sind alarmiert und erhoffen sich Antworten auf die Fragen, die sie seit Jahren umtreiben. Doch Forest treibt ein ganz eigenes Spiel mit seiner Familie und den Ermittlungsbehörden…

Zwei Cousins ermitteln

Was an Der Rausch der Tiefe besonders ins Auge fällt, das ist die Erzählweise. Denn hier ist es im Gegensatz zu Kyle Perrys Erstling Die Stille des Bösen einmal kein Ermittler oder eine Polizistin, die das Schicksal der verschwundenen Dempseys aufzulösen versucht. Stattdessen sind es zwei Familienmitglieder selbst, die hier Aufklärungsarbeit leisten wollen, nämlich die Cousins Ahab und Mackenzie. Dass sie ganz unterschiedlich in das familiäre Netz der Dempseys eingebunden sind, sorgt manchmal dafür, dass sie aneinander vorbeiarbeiten und nicht immer auf dem gleichen Kenntnisstand sind.

Kyle Perry - Der Rausch der Tiefe (Cover)

Insbesondere, da die dritte erzählerische Hauptfigur Forest mit den Dempseys noch ein ganz eigenes Spiel spielt. Aber was will man auch erwarten von dieser Familie, der nach eigener Aussage das Lügen in die Wiege gelegt ist.

Natürlich gibt es in Form einer lokalen Polizistin und der Ermittlungsleiterin De Corrado auch offizielles Personal in diesem Buch, die ermittlerische Hauptlast trägt hier die Familie allerdings selber, deren Perspektiven Perry immer wieder abwechselt und Ahab und Mackenzie über das familieneigenen Drogenimperium (das zudem durch den mysteriösen Mitbewerber namens Black Beard in Gefahr ist), Tauchhöhlen, verschwundene Familienmitglieder und falschen Identitäten brüten lässt.

Ganz ins Ziel retten kann Kyle Perry das souveräne Handling seiner Figuren dabei nicht, gerade im leicht überfrachteten Finale mit verschiedenen Schauplätzen und Enthüllungen stimmen Tempo und Figurenführung nicht hundertprozentig. Angesichts des über weite Strecke wirklich stimmigen Erzählkonzepts fällt das aber nicht gravierend ins Gewicht.

Schwächen in den Figuren, Stärken in der Naturbeschreibung

Auch sind manche Wandlungen in den Figuren nicht immer wirklich plausibel. So mutiert etwa die Schwägerin innerhalb weniger Tage von der naiven luxusverwöhnten Gattin zur knallharten Meth-Köchin á la Walter White. Und auch ein paar Klischees weniger hätten der Geschichte gut getan. Wenn beispielsweise Mackenzie wieder in das familieneigene Drogengeschäft trotz seiner vorherigen Abstinenz eintaucht, ist es neben neuer Kleidung und Haarschnitt eine schwere Goldkette, die seine Rückkehr auf die böse Seite der Macht illustriert. Das alles hätte man leicht weglassen können, ohne dass die Geschichte dadurch schwächer geworden wäre, im Gegenteil.

So muss man hier aber über ein paar wenige missglückte Bilder, Dialoge aus B-Movies und Unwuchten im Erzählen hinwegblicken, wird dafür aber wieder mit wirklich starken Naturschilderungen und Schauplätzen belohnt. Heimlicher Hauptdarsteller ist diesmal die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens mit ihren Höhlen, Kelpwäldern und gefährlichen Strömungen, insbesondere wenn der sogenannte Schwarze Wind über die Küstenlandschaft fegt und Tod und Verderben bringt.

Wenn Kyle Perry diese Unterwasserwelten beschreibt und die Tauchgänge der Protagonisten dort in Worte kleidet, dann ist das ganz starke Nature-Writing-Prosa, die sich hier mit einem in weiten Teilen überzeugenden und frisch erzählten Kriminalroman verbindet.

Suspense und Natur, es ist hier alles drin. So lautete mein Urteil über Kyle Perrys Debüt – und auch in seinem zweiten Roman löst er diese beiden Versprechen wieder ein und rundet so das Leseerlebnis zu einer überzeugenden Angelegenheit.

Fazit

Erneut arbeitet Kyle Perry in Der Rausch der Tiefe daran, Tasmanien auf der Krimilandkarte zu verankern. Und auch hier macht er wieder einen guten Job, insbesondere, wenn er die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens in den Blick nimmt und uns mitnimmt in die gefährlichen Höhlen und von ihren Geheimnissen erzählt.

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Kyle Perry – Die Stille des Bösen

Krimis aus Übersee findet man in den Buchhandlungen en masse, auch Australien als Handlungsort ist schon gut erschlossen. Krimis aus Tasmanien hingegen sind bislang Mangelware. Generell ist Tasmanien ja ein literarischer Schauplatz, der außer von Richard Flanagan zumindest auf dem hiesigen Buchmarkt kaum bespielt wird. 68.000 Quadratmeter umfasst die Insel, deren größter Teil unter Naturschutz steht und die zumindest für uns Europäer schon fast den Rand der Welt darstellt. Nun betritt mit Kyle Perry ein Krimiautor die Bühne, der mit Die Stille des Bösen ein formidables Debüt vorlegt. Ein Debüt, dessen nichtssagender deutscher Titel noch der schwächste Aspekt des Buchs ist.


Im Original trägt Perrys Buch den Titel The Bluff. Ein stimmiger Titel, geht es doch um Täuschung, Manipulation und das Spiel mit Erwartungen und Öffentlichkeit. Ausgangspunkt ist der Schulausflug einer Gruppe von Schüler*innen in die Great Western Tiers, eine im Herzen Tasmaniens gelegene Region. Bei diesem Ausflug verschwinden vier Schülerinnen spurlos, eine betreuende Lehrerin wird vor Ort verletzt. Die beiden Polizisten Cornelius „Con“ Badenhorst und Gabriella Pakinga übernehmen die Ermittlungen und versuchen den Verbleib der Mädchen in der Wildnis Tasmaniens zu klären.

Besonders brisant wird das Verschwinden durch die Legende des „Hungermanns“. Dieser forderte schon einmal im Jahr 1985 Opfer, als Schülerinnen ebenfalls verschwanden. Seitdem wurde ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse gebreitet und die Legende des „Hungermanns“ war tabu. Doch mit dem Verschwinden der jungen Frauen taucht die Legende wieder auf, befeuert durch das Agieren ihrer Mitschülerin Madison. Diese betätigt sich als reichweitenstarke Influencerin und verfügt dadurch über ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument, nämlich die öffentliche Wahrnehmung.

Gezielt streut sie Informationen und hält andere wichtige Beobachtungen zurück, mobilisiert durch ihre Videos die lokale Bevölkerung in Limestone Creek und manipuliert ihre Mitmenschen und die Polizei. Eine echte Blufferin also, die die Suche nach ihren Mitschülerinnen als Spiel begreift.

Aufruhr in Tasmanien

Kyle Perry - Die Stille des Bösen (Cover)

Um seinen Krimi zu erzählen wählt Kyle Perry drei Perspektiven, aus denen er hauptsächlich erzählt. So erlebt man die Ermittlungen aus Sicht von Con Badenhorst. Für den Aspekt der lokalen Bevölkerung ist Murphy zuständig, er ist der Vater eines der verschwundenen Mädchen versorgt als Drogenproduzent halb Limestone Creek. Und einen Einblick in die Schulklasse erhält man durch die Lehrerin Eliza, die beim Klassenausflug niedergeschlagen wurde und die vier Mädchen als letzte Zeugin sah. Diese drei Personen sind aufeinander angewiesen, um das Verschwinden der Mädchen zu klären. Doch nicht jeder von ihnen ist ein verlässlicher und ehrlicher Zeuge, auch hier greift der Originaltitel des des Buchs.

Kyle Perry gelingt es, Stück für Stück die Wahrheit über das Verschwinden der Mädchen zu enthüllen. Er schildert die von Madisons Agieren ausgelösten Dynamiken und treibt das Buch in gutem Tempo voran. Immer wieder wechselt er die Blickwinkel, erzählt von der komplizierten Suche im unzugänglichen tasmanischen Hinterland und inszeniert diese Kulisse mit tollen Bildern. Man meint förmlich, sich in dort in den Great Western Tiers zu befinden, die dschungelartige Natur dort voller Berge, Grünzeug und Gumpen gemeinsam mit Badenhorst und Co zu durchstreifen. Das, was das Cover verheißt, liefert Kyle Perry dann im Inneren uneingeschränkt. Suspense und Natur, es ist hier alles drin.

Fazit

Vertrügen auch einige der Figuren noch ein Mehr an Profil und Hintergrund, ist das Buch doch ein erstaunlich souverän erzählter Krimi, dessen Taktung und Wendungen routiniert wirken. Themen wie das Aborigine-Erbe Tasmaniens, gefährliche Dynamiken der Sozialen Medien und der lokale Drogenhandel werden von Kyle Perry gestreift, ohne dass sie die Handlung beschweren. Der Plot ist gut entworfen, der Schauplatz plastisch eingefangen und die Lektüre von Die Stille des Bösen macht Lust auf mehr. Hier schreibt ein echtes Krimitalent, das Tasmanien mit Verve auf die kriminalliterarische Landkarte packt. Bravo!


  • Kyle Perry – Die Stille des Bösen
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-117-6 (Atrium)
  • 460 Seiten. Preis: 22,00 €
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Richard Flanagan – Begehren

Der Piper-Verlag meint es ernst mit der Autorenpflege – nun erscheint mit Begehren (Deutsch von Peter Knecht) ein weiteres Buch aus der Backlist des tasmanischen Autors Flanagan, ehe im Herbst mit Der Erzähler Neues vom Meister zu entdecken ist.

Sir John Franklin

Das Buch stellt mehrere Figuren ins Rampenlicht, deren Schicksal Begehren verfolgt. Da ist zum Einen der im Klappentext erwähnte Sir John Franklin, der als Gouverneur von Tasmanien zusammen mit seiner Frau über die Inseln am Ende der Welt herrscht. Auf Van Diemens Land versucht er die einheimische Bevölkerung zu kultivieren und ihnen die westliche Zivilisation nahezubringen – mit katastrophalen Folgen.

Zusammen mit seiner Frau beschließt er, ein Kind der Ureinwohner von Van Diemens Land zu sich ins Haus zu holen, um ihm Erziehung angedeihen zu lassen. Doch der eigentliche Plan entwickelt schon bald eine gefährliche Dynamik, da das Mädchen namens Mathinna das Gefüge im Hause Franklin völlig verschiebt.

Charles Dickens

Eine große Rolle spielt aber auch kein Geringerer als Charles Dickens, den das Schicksal von Franklin im fernen London zu kreativen Schüben verleitet. Ähnlich wie Franklin durch Mathinna erhält auch der englische Romancier und Dichter entscheidende neue Impulse, die sein Leben verändern.

Diese gespiegelte Motivlage macht den Reiz in Begehren aus. Richard Flanagan arbeitet heraus, wie diese beiden Männer auf dem Zenit ihres Schaffens jeweils durch Frauen einen neuen Spin erhalten. Auch wenn sie sich auf den entgegengesetzten Seiten der Weltkugel befinden mögen – vor der Kraft des Begehrens sind beide nicht sicher.

Der Fluch der Kolonialisation

Zudem stellt dieser Roman auch eindrücklich da, mit welcher Ignoranz und welcher Mutwilligkeit indigenes Leben in Tasmanien und Van Diemens Land durch die englischen Eroberer zerstört wurde. Die Figur der Mathinna ist hier stellvertretend für das Schicksal von vielen Zehntausenden zu lesen, denen von den Kolonialherren einfach neue Lebens- und Kulturweisen aufoktroyiert wurden – und das auf Biegen und Brechen. Diese Ignoranz hier so eindringlich vor Augen geführt zu bekommen, das macht betroffen.

Richard Flanagan - Begehren (Cover)

So bietet der Roman einen eindringlichen Blick auf die koloniale Geschichte Tasmaniens und zeigt zudem zwei Männer und ihre Verstrickungen in Liebe, Begehren und Vernunft. Die erzählerische Flughöhe von Tod auf dem Fluss oder Goulds Buch der Fische erreicht der tasmanische Autor hier bei allen Sprüngen durch die Leben seiner Helden nicht ganz, dafür ist es aber definitiv ein Titel, der aus der Backlist nach vorne gehoben gehört. Meine Aufforderung bleibt bestehen: Lest mehr Richard Flanagan – der Autor hat es verdient!

  • Richard Flanagan – Begehren
  • Aus dem Englischen von Peter Knecht
  • ISBN 978-3-492-30840-3, erschienen bei Piper
  • 304 Seiten
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Richard Flanagan – Tod auf dem Fluss

Der Fluss ohne Wiederkehr

Der Franklin River ist eine Urgewalt. Er durchmisst den Süden Tasmaniens von der Westküste bis nach Hobart an der Ostküste und führt dabei durch eine einzigartige Landschaft. Mit voller Kraft bahnt sich der Fluss seinen Weg durch die unwegsame und zerklüftete Natur und reißt dabei alles mit, was sich ihm in den Weg stellt. Unter anderem auch Aljaz Cosini, der nun in einer Felsspalte unter Wasser feststeckt und zu ertrinken droht. Wie es dazu kam, das schildert der tasmanische Autor Richard Flanagan in dem Roman Tod auf dem Fluss in unnachahmlicher Art und Weise.

Flanagan Fluss

Wie durch ein Prisma bricht der Erzähler die aktuelle Situation Cosinis mit Visionen, Rückblenden und Exkursen und erschafft so ein ganz besonderes Stück Literatur. Ausgangspunkt für den Überlebenskampf des Mannes ist eine Wildwasser-Rafting Tour auf dem Franklin River, die er als Guide begleitete. Der Fluss schwillt im Laufe der Tour immer mehr an und wird unberechenbarer. Und dann passiert die Katastrophe – bei der Rettung eines Crewmitglieds geht Aljaz über Bord. Und folglich setzt ein Strom der Erinnerungen und Visionen ein, die bis ins 19. Jahrhundert und damit tief in die Geschichte Tasmaniens zurückreicht. Wie ein Fluss mänandern die Perspektiven und Ebenen, während Cosini zu sterben droht. Je weiter man im Buch voranschreitet, umso füllender und klarer wird das Bild des Menschen Aljaz Cosinis und seiner Familie. Wie das Richard Flanagan auf nur 355 Seiten schafft und wie er Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, das ist nur meisterlich zu nennen.

Nach Goulds Buch der Fische und Der schmale Pfad durchs Hinterland ist Tod auf dem Fluss das dritte Buch des tasmanischen Schriftstellers, das ich verschlungen und genossen habe. Genauso wie bei den vorherigen Meisterwerken des Autors habe ich mir auch hier vorgenommen, dieses Buch unbedingt noch das ein um das andere Mal zu studieren. Immer wieder kann man Neues entdecken und sich betören lassen von der Formulierungsfreude und der barocken Sprachgewalt des Autors. Eine wirkliche Empfehlung und ein starkes Debüt, dessen Neuauflage viele Leser zu wünschen sind!

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Richard Flanagan – Der schmale Pfad durchs Hinterland

Krieg und Poesie

Spätestens nach diesem Buch des tasmanischen Autors Richard Flanagan kann ich konstatieren, dass ich einen neuen Lieblingsschriftsteller gefunden habe. Riss mich bereits das im Original 2002 erschienene Buch Goulds Buch der Fische mit seiner barocken Sprachgewalt und Konstruktion mit, so hat es Flanagan nun abermals geschafft, mich zu fesseln und in die von ihm geschilderte Welt hineinzuziehen.

Richard Flanagan - Der schmale Pfad durchs HinterlandHintergrund für Der schmale Pfad durchs Hinterland ist Flanagans eigene Familiengeschichte, um die herum er diese mit dem Man-Booker-Prize ausgezeichnete Erzählung baut. Sein eigener Vater war damals im Zweiten Weltkrieg Kriegsgefangener und musste beim Bau der Thailand-Burma-Eisenbahnstrecke mithelfen. In diesem Buch trägt der Held nun den Namen Dorrigo Evans und ist ebenfalls japanischer Kriegsgefangener, obwohl ihm eigentlich eine Karriere als vielversprechender Chirurg in Aussicht stand. Unter der Extrembelastung eines unmenschlichen Arbeitslagers wächst jener allerdings über sich hinaus und bewährt sich als Vorsteher der Kriegsgefangen. Diese sollen nämlich in einer Art Sisyphosarbeit einen Eisenbahnlinie durchs japanische Hinterland bauen, und das in einem Rekordtempo. Als Puffer zwischen den japanischen Offizieren und seinen von Hunger, Krankheit und Elend zersetzen Mitgefangenen versucht Dorrigo dabei den Spagat und verzweifelt bei seinem Kampf, möglichst viele seiner Männer am Leben zu erhalten. Kraft schöpft er aus einer vor dem Krieg erlebten Affäre, die ihm inmitten der tiefsten Stunden voll Leid noch Hoffnung und Zuversicht spendet.

Eine gewagte Mischung

Der schmale Pfad durchs Hinterland ist eine gewagte Mischung aus Kriegsbericht, Liebesgeschichte und Poesie. In den Händen von Richard Flanagan wird daraus eine herausragende Erzählung, die die Balance zwischen Leid und Liebe, zwischen brutalem Grauen und Poesie schafft. Seine Helden sind keine strahlenden Gewinner, die Lageraufseher keine rein bösen Gestalten. Immer wieder flicht er in die Beschreibungen des Vegetierens und des Leids im Lager auch Haikus und poetische Gedanken ein – und schafft so eine ausgewogene Balance zwischen den unterschiedlichen Polen.

Diese Mischung geht auch deswegen vollkommen auf, da sich Flanagan hier einmal mehr als Meister der Konstruktion entpuppt. In verschiedene Teile aufgebaut erzählt er von Dorrigos Leben, wobei er gleich auf den ersten Dutzend Seiten die gesamte Biografie anreißt und dann im Folgenden diese Skizze mit Farbe und Leben füllt. Seine Erzählung zehrt auch wieder von einer präzisen Sprache (Übersetzung durch Eva Bonné) und der Fähigkeit von Flanagan, Szenen auf den Punkt zu verdichten. Ihm gelingen Beschreibungen, die auch über das Buchende hinaus im Kopf bleiben und nachhallen (wie etwa die Notoperation eines Kameraden inmitten von Chaos und Leid).

Zudem macht für mich dieses Buch besonders, dass es mich in ein Kapitel der Geschichte mitnahm, das ich so nicht kannte. Die Betrachtung des Zweiten Weltkriegs aus australisch/tasmanischer Perspektive war neu für mich und auch das Thema der australischen Strafgefangenen, die in Lagern in Japan leiden musste, kam mir so noch nicht unter.

Hier kommen somit zwei Dinge zusammen: ein unbekanntes Kapitel der Geschichte, das mit einer makellosen Prosa verschmilzt und so unterhält, Einblick verschafft und neue Horizonte eröffnet. Das muss besondere Literatur leisten und Der schmale Pfad durchs Hinterland tut genau das. Zurecht mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet!

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