Tag Archives: Verschwinden

Erin Flanagan – Dunkelzeit

Gunthrum, ein kleines Städtchen in Nebraska im Jahr 1985. Hier verschwindet die junge Peggy aus ihrem Elternhaus – und als Verdächtiger Nr. 1 gilt der geistig zurückgebliebene Hal. In Erin Flanagans Debütroman Dunkelzeit wird daraus aber leider weniger ein Krimi denn eine mittelmäßige Kleinstadtstudie, die man schon einmal besser gelesen hat.


„Glaubst du wirklich, dass sie verschwunden ist?“, fragte er.

Laura sah ihn verwirrt an. „Du etwa nicht?“

Milo zuckte die Schultern. „Klingt doch irgendwie komisch. Jemand verschwindet einfach so. In Gunthrum passiert das normalerweise nicht.“ Er sah Laura prüfend an. „In Gunthrum passiert überhaupt nie etwas. Vielleicht ist das ja genau das Problem.“

Erin Flanagan – Dunkelzeit, S. 138

Gunthrum ist ein Städtchen im Hinterland von Nebraska – und hier passiert wirklich nichts. Einmal im Jahr treffen sich die Väter, um in der Schule eine Benefizmatch gegen ihre Kinder auszutragen. Am Wochenende trifft man sich in den Partykellern, um dem Alkohol und dem Exzess zu huldigen. Aber recht viel mehr hat Gunthrum nicht zu bieten. Dass die junge Peggy hier verschwunden ist, das kann ihr Bruder ihr nicht wirklich verübeln. Hat sie sich mit einem jungen Mann aufgemacht, um dem tristen Alltag zu entfliehen?

Das Verschwinden der Peggy Ahern

Die Eltern verheimlichen die Abwesenheit der Tochter vor der eigenen Kirchengemeinde und erst allmählich verfestigt sich die Erkenntnis, dass es sich bei der Abwesenheit von Peggy nicht nur um ein kurzes Ausreißen handeln muss.

Erin Flanagan - Dunkelzeit (Cover)

Diesen Handlungsstrang, der aus der Sicht von Peggys kleinem Bruder Milo erzählt wird, kontrastiert Erin Flanagan um den Handlungsstrang, der vom Farmerpaar Alma und Clyle erzählt. Während er die heimischen Felder bewirtschaftet, bringt Alma mit dem Schulbus die Kinder von Gunthrum in die Schule. Drittes und fast vollwertiges Familienmitglied ist Hal. Dieser geistig zurückgebliebene Bursche wurde besonders von der in Sachen Sozialarbeit beschlagenen Alma unter ihre Fittiche genommen. Er hilft auf dem Hof aus und hat sich durch die Struktur auf dem Hof gut entwickelt.

Als Hal nun nach einem Jagdausflug wieder zu Alma und Clyle zurückkehrt, berichtet er von einer Hirschkuh, die er illegalerweise erlegt haben will. Sein Auto weist Beschädigungsspuren auf, Blut findet sich sowohl im Auto als auch bei ihm daheim. War es wirklich eine Hirschkuh oder hat Hal vielleicht etwas mit dem Verschwinden von Peggy zu tun? Je mehr Alma von ihm wissen will, umso mehr verwickelt sich der junge Mann in Widersprüche.

Als Krimi zu zäh, die Figuren zu platt

Erin Flanagan ist eigentlich Professorin für Englische Sprache und Literatur, die an der Wright State University in Ohio lehrt. Für ihr Debüt hat sie sich in meinen Augen vorgenommen, an den großen Klassiker Kaltblütig von Truman Capote anzuknüpfen. Ein Unterfangen, an dem sie sich gnadenlos verhebt. Denn obwohl sie sich viel versucht und das Buch auch mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, so ist das Buch in meinen Augen nicht wirklich überzeugend.

Als Kriminalroman ist das Ganze deutlich zu zäh erzählt. Die Anlage des Buchs ist schon nach einigen Dutzend Seiten klar, aber so etwas wie Spannung kann Flanagan aus dieser Anlage nicht ziehen. Da ist die Perspektive um Milo, der sich zwar um seine Schwester sorgt, aber vorwiegend mit Teenager-Problemen befasst ist. Alma und Clyle schwanken zwischen Vertuschen der Tat Hals und Unsicherheit über das, was wirklich vorgefallen ist. Aber so wirklich bringen die Figuren keine Spannung ins Buch, da beide Seiten kaum mit Ermittlungen über das tatsächliche Geschehen befasst sind.

Die Polizei glänzt mit Abwesenheit, erst spät im Buch führt Erin Flanagan einen Privatermittler ein, der ohne juristische Handhabe einfach die Bewohner*innen Gunthrums vernimmt. Wer sich so etwas wie Spannung erhofft, der sieht sich aber angesichts des zähen Vorankommens im Plot schnell enttäuscht.

Auch ist das Handeln der Figuren bestenfalls küchenpsychologisch grundiert. So wird die „Mutterliebe“ von Alma für Hal damit erklärt, dass sie sich immer Kinder wünschte, nach mehreren Abgängen die Hoffnung auf Nachwuchs aber begraben hat und nun eben Hal als Ersatzkind bemuttert und abschirmt. Auch die anderen Figuren bleiben eher holzschnittartig, tragen keine großen inneren Konflikte aus – und selbst die Ermittlung und Überführung des Täters erfolgt doch recht unmotiviert und halbherzig.

Fazit

Als Krimi überzeugt Dunkelzeit somit leider überhaupt nicht. Eher ist es eine ruhige Studie des Gesellschaftslebens dort in Nebraska Mitte der 80er Jahre. Aber selbst das hat man schon besser gelesen, sodass Dunkelzeit kein packender Krimi ist und auch als Kleinstadtroman nicht wirklich funktioniert, da die Figuren allzu schablonenhaft und die Handlung zu müde und spannungsarm erzählt sind, als dass zumindest bei mir echte Begeisterung aufkommen konnte. Die Auszeichnung mit dem Debütpreis beim Edgar Allan Poe Award kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Mit diesem Krimi tritt die Professorin weder in die Fußstapfen von Edgar Allan Poe noch in die von Truman Capote. Leider enttäuschend.


  • Erin Flanagan – Dunkelzeit
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz und Stefanie Kremer
  • ISBN 978-3-85535-145-9 (Atrium)
  • 368 Seiten. Preis: 25,00 €
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Anthony McCarten – Going Zero

Ist das überhaupt noch möglich, in Zeiten der öffentlichen Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung und massenhafter digitaler Spuren im Netz unentdeckt zu bleiben und dreißig Tage vom Radar der öffentlichen Überwachung zu verschwinden? Anthony McCarten macht aus dieser Überlegungen einen hochspannenden Thriller, der Orwells 1984 um einige Dimensionen weiterdenkt und der von den allumfassenden technologischen Möglichkeiten der Überwachung genauso erzählt wie vom Widerstand gegen das System. Going Zero ist ein hochspannenden Thriller, der zum Mitreißendsten zählt, das ich seit langem lesen durfte.


Nach Ankündigungen ging im Herbst des Jahres 2021 auf Amazon Prime Video ein Format auf Sendung, dessen zugrundeliegende Idee bestechend klang. Zehn Prominente, die sich als Paare oder solo unerkannt durch Deutschland schlagen müssen, wobei sie von einem Team von professionellen Verfolgern anhand von Kameras und digitalen Spuren gejagt werden. Wer es schaffte, sich der Überwachung zu entziehen, die Verfolger abzuschütteln und rechtzeitig zu einem später bekanntgegebenen Finalort zu gelangen, ohne festgesetzt zu werden, der hatte Celebrity Hunted, so der Titel des Formats, gewonnen.

Das Umsetzung des verheißungsvollen Experiment scheiterte aber durchweg an seiner offensichtlichen Inszenierung mitsamt dem durchscheinenden Script, angefangen von einem skurrilen Verfolgercast mit Ex-Merkelberater und General a.D. Erich Vad, bei dem es peinliche Verhöre der „Verdächtigen“ zu sehen gab, die wohl nicht einmal bei einem Vorabendformat eines Privatsenders den Schneideraum verlassen hätten. Immer wieder stolperten die Kandidat*innen, fanden sich in dilettantisch inszenierte Situationen wieder, bei denen sie sich plötzlich auf wundersame Weise der Verfolgerteams entziehen konnten, übernachteten unerkannt bei Prominenten und schlugen sich mal besser und schlechter durch ihre Mission.

Real fühlte sich hier nichts an, dabei gäbe solch eine Serie ja spannende Anküpfungspunkte für Reflektionen in Sachen öffentlicher Überwachung, der Speicherung und Preisgabe privater Daten und die Bedeutung von Datenschutz her.

Ein Überwachungsthriller von Anthony McCarten

Dafür gibt es jetzt dankenswerterweise den neuen Roman von Anthony McCarten, der all das einlöst, was Amazons Eigenproduktion nicht schaffte. McCarten, der zuletzt kaum noch Bücher schrieb und sich stattdessen auf Drehbücher für Hollywoodblockbuster wie die Queen-Biografie Bohemian Rhapsody konzentrierte, kehrt hier nun wieder zu seinen schriftstellerischen Wurzeln zurück und liefert nun nach tollen Werken wie Superhero oder Licht einen Überwachungsthriller reinsten Wassers ab.

Anthony McCarten - Going Zero (Cover)

Die Grundprämisse bei McCarten ist zunächst die gleiche, wie sie auch Amazon für seine Serie verwendete. Über das ganze Land hinweg werden zehn Freiwillige ausgewählt, die am Going Zero-Programm teilnehmen und die für dreißig Tage untertauchen müssen. Gelingt es ihnen, locken sagenhafte 3 Millionen Dollar als Preisgeld.

Mit diesem Programm möchte der Musk/Bezos/Zuckerberg-Wiedergänger Cy Baxter die Leistungsfähigkeit seines digitalen Werkzeugkastens unter Beweis stellen, den er gerne der CIA zu lukrativen Konditionen verkaufen möchte. Als Betreiber der Plattform WorldShare verfügt er über unzählbare digitale Spuren und private Daten seiner Nutzer, die man zur Aufklärung von Verbrechen nutzen könnte, indem man all diese Daten miteinander verknüpft und so über ein potentes Überwachungsinstrumen verfügt, wie der der Silicon Valley-Millionär erklärt. Das so entwickelte Programm, das auf den Namen Fusion hört, soll nun in einem Betatest auf Herz und Nieren geprüft werden, um vor den wachsamen Augen der CIA die Marktreife des Produkts unter Beweis zu stellen.

Eine Bibliothekarin gegen einen Großkonzern

Augewählt für diesen Betatest namens Going Zero sind zehn Freiwillige. Fünf der Teilnehmenden sind professionelle Datenschützer, Überwachungsexperten und Ex-Militärs, für die das Aufspüren und Untertauchen zum Kerngeschäft gehört. Die anderen fünf ausgewählten Teilnehmenden hingegen sind Laien, die mit Überwachungstechologien eigentlich nichts am Hut haben, darunter auch die Bibliothekarin Kaitlyn Day.

Die Frau, die eben eingetreten ist, betrachtet nachdenklich ihr Bild darin: Mitte dreißig, schwarzes Haar, Pagenschnitt, eine dieser riesigen Brillen, die seit letztem Jahr wieder in Mode sind, eine lange, weit geschnittene Hose, Turnschuhe und unter dem Mantel – einem leichten Übergangsmodell vom Vorjahr -, eine akkurat gebügelte schwarze Bluse mit Blumenmuster. Die Frau sieht sehr danach aus, was sie auch ist, nach Bibliothekarin – oder zumindest so, wie die meisten sich eine Bibliothekarin vorstellen.

Anthony McCarten – Going Zero, S. 9f.

Wie alle anderen Teilnehmenden durfte auch Kaitlyn sich vorbereiten und bekommt nach Start des Programms ein Zeitfenster von zwei Stunden, in dem sie sich unsichtbar machen darf. Ab dann stehen den Verfolger*innen in der Fusion-Firmenzentrale in Washington sämtliche Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung, die das Programm bietet.

Wie sich im Laufe von Going Zero zeigen wird, sind diese Werkzeuge mitsamt aller ihrer Möglichkeiten mehr als erschreckend. Während sich das Netz aus Kameras, Drohnen, Algorithmen und hochmoderner VR-Technik immer dichter um die Teilnehmer*innen zusammenzieht, gelingt es Kaitlyn, auf kreative Art und Weise, sich ihren Überwachenden immer wieder zu entziehen. Damit fordert sie den impulsgesteuerten Cy Baxter heraus, der natürlich alles bieten will, um alle Going-Zero-Programmteilnehmer auch vor Ablauf der dreißig Tage festzusetzen.

Ein atemberaubender Thriller

Going Zero ist ein atemberaubender Thriller von einer Intensität und einem Tempo, wie ich ihn lange nicht mehr lesen durfte. So lässt sich McCarten nicht viel Zeit mit einer Exposition seiner Figuren, sondern stürzt Kaytlyn gleich mitten hinein in das Programm, das schon auf den ersten Seiten rasant beschleunigt, wenn Überwachungsteams und Drohnen Jagd auf die Bibliothekarin machen.

Ab Programmstart ist das Tempo hoch, das zumindest mich auch in eine moralische Zwickmühle brachte. Denn während natürlich ist diese Jagd unglaublich spannend und intensiv, wenn die Häscher den Probanden mit der ganzen Fülle an Überwachungstechnologie zu Leibe rücken und diese Person um Person zur Strecke bringen. Zugleich entsetzt die Wahl der Mittel, nicht nur wenn Cy Baxter als Befehlshaber die Verhältnismäßigkeit der Mittel völlig aus dem Blick verliert und schon einmal Kampfdrohnen in Stellung bringen lässt oder in kanadisches Hoheitsgebiet vordringt.

Die potentielle Allmacht der Technologie gerade in ihrem Zusammenwirken führt McCarten erschreckend vor Augen und zeigt, wie gefährlich uns die Annehmlichkeit der digitalen Welt werden können, in der schon ein einziger Spruch auf einem T-Shirt zur Ergreifung eines Going-Zero-Teilnehmers führen kann.

Dass sich McCarten dabei nicht zu plumper Technologiekritik á la Dave EggersDer Circle hinreißen lässt, macht in meinen Augen die Qualität des Buchs bei. Denn in der Mitte des Buchs, gerade als die Frage entsteht, ob dieses Tempo zu halten ist und der Spannungsbogen über die restliche Laufzeit trägt, kommt es zu einem allesentscheidenden Twist, der Going Zero dann noch einmal auf eine neue Ebene hebt.

Denn ohne zu viel verraten zu wollen, hat auch Kaitlyn Day eine Mission, die aus Going Zero eine Angelegenheit bei der längst nicht ganz so klar ist, wer Verfolger und wer Verfolgter ist, wie es zunächst den Anschein hat. Nuanciert beschreibt der Neuseeländer die Risiken, zeigt aber auch, wozu die Technik im Guten imstande ist, obgleich natürlich die alte Frage bestehen bleibt : Wer überwacht die Überwacher?

Fazit

Die raffinierte Komposition, der Spannungsbogen, die eindrückliche Weiterführung der Schönen, neuen Welt und die Innensicht auf ein Silicon Valley, in dem Geheimdienste und Soziale Medien schon längst gemeinsame Sache machen, ergeben in Going Zero ein Buch, das die Gefahren und Risiken digitaler Technik und die darin innewohnenden Überwachungspotentiale gekonnt und mitreißend auslotet. Eindrücklicher war eine Hymne auf den Datenschutz wohl noch nie. Ein Buch, das wie ein Update für Huxley, Orwell und Co wirkt – das hoffentlich nicht unter dem Radar bleibt, sondern für viel Aufsehen sorgt!


  • Anthony McCarten – Going Zero
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-257-07192-4 (Diogenes)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €
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Kyle Perry – Der Rausch der Tiefe

Eine Familie, in der niemand dem anderen wirklich traut und in der so gut wie alle Geheimnisse voreinander haben und sich gegenseitig belügen. Willkommen in der Familie Dempsey, die im tasmanischen Fischerort Shacktown und weit darüber hinaus das Sagen hat.

Kern des Familienimperiums ist die Abalone-Fischerei, die Davey Dempsey betreibt. Das Fischen der Delikatessen vor der Küste Tasmaniens ist allerdings nur Fassade. Die wahren Erträge generiert die Fischerei durch den Drogenhandel. Ice beziehungsweise Crystal Meth heißt der Stoff, mit dem die Davey halb Tasmanien versorgt und der zum Schicksal seiner Brüder und seines Cousins geworden ist.

Sein Bruder Mackenzie, von allen nur Mackerel, also Makrele geheißen, erlebte Psychosen und ist inzwischen körperlich recht invalide, saß im Gefängnis ein und muss sich nun regelmäßig bei den Polizeibehörden melden. Sein Cousin Ahab hat dem Crystal Meth und damit auch der Familie Dempsey abgeschworen und betreibt nun eine Kneipe in Shacktown. Und Jesse, der andere Bruder von Mackerel, ist schon vor vielen Jahren ebenso wie seine Frau Alexandra und der gemeinsame Sohn Forest verschwunden. Was damals wirklich geschah, darüber gehen die Spekulationen weit auseinander, die von Mord bis zu einem Unfall reichen.

Sieben Jahre nach Verschwinden wird Forest nun an der Küste Tasmaniens angespült. Entkräftet und dem Tode nahe zieht man ihn dort aus dem Wasser, wobei auf seinem Rücken ein Tattoo prangt, das seine Identität bestätigt. Polizei und vor allem die Dempseys sind alarmiert und erhoffen sich Antworten auf die Fragen, die sie seit Jahren umtreiben. Doch Forest treibt ein ganz eigenes Spiel mit seiner Familie und den Ermittlungsbehörden…

Zwei Cousins ermitteln

Was an Der Rausch der Tiefe besonders ins Auge fällt, das ist die Erzählweise. Denn hier ist es im Gegensatz zu Kyle Perrys Erstling Die Stille des Bösen einmal kein Ermittler oder eine Polizistin, die das Schicksal der verschwundenen Dempseys aufzulösen versucht. Stattdessen sind es zwei Familienmitglieder selbst, die hier Aufklärungsarbeit leisten wollen, nämlich die Cousins Ahab und Mackenzie. Dass sie ganz unterschiedlich in das familiäre Netz der Dempseys eingebunden sind, sorgt manchmal dafür, dass sie aneinander vorbeiarbeiten und nicht immer auf dem gleichen Kenntnisstand sind.

Kyle Perry - Der Rausch der Tiefe (Cover)

Insbesondere, da die dritte erzählerische Hauptfigur Forest mit den Dempseys noch ein ganz eigenes Spiel spielt. Aber was will man auch erwarten von dieser Familie, der nach eigener Aussage das Lügen in die Wiege gelegt ist.

Natürlich gibt es in Form einer lokalen Polizistin und der Ermittlungsleiterin De Corrado auch offizielles Personal in diesem Buch, die ermittlerische Hauptlast trägt hier die Familie allerdings selber, deren Perspektiven Perry immer wieder abwechselt und Ahab und Mackenzie über das familieneigenen Drogenimperium (das zudem durch den mysteriösen Mitbewerber namens Black Beard in Gefahr ist), Tauchhöhlen, verschwundene Familienmitglieder und falschen Identitäten brüten lässt.

Ganz ins Ziel retten kann Kyle Perry das souveräne Handling seiner Figuren dabei nicht, gerade im leicht überfrachteten Finale mit verschiedenen Schauplätzen und Enthüllungen stimmen Tempo und Figurenführung nicht hundertprozentig. Angesichts des über weite Strecke wirklich stimmigen Erzählkonzepts fällt das aber nicht gravierend ins Gewicht.

Schwächen in den Figuren, Stärken in der Naturbeschreibung

Auch sind manche Wandlungen in den Figuren nicht immer wirklich plausibel. So mutiert etwa die Schwägerin innerhalb weniger Tage von der naiven luxusverwöhnten Gattin zur knallharten Meth-Köchin á la Walter White. Und auch ein paar Klischees weniger hätten der Geschichte gut getan. Wenn beispielsweise Mackenzie wieder in das familieneigene Drogengeschäft trotz seiner vorherigen Abstinenz eintaucht, ist es neben neuer Kleidung und Haarschnitt eine schwere Goldkette, die seine Rückkehr auf die böse Seite der Macht illustriert. Das alles hätte man leicht weglassen können, ohne dass die Geschichte dadurch schwächer geworden wäre, im Gegenteil.

So muss man hier aber über ein paar wenige missglückte Bilder, Dialoge aus B-Movies und Unwuchten im Erzählen hinwegblicken, wird dafür aber wieder mit wirklich starken Naturschilderungen und Schauplätzen belohnt. Heimlicher Hauptdarsteller ist diesmal die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens mit ihren Höhlen, Kelpwäldern und gefährlichen Strömungen, insbesondere wenn der sogenannte Schwarze Wind über die Küstenlandschaft fegt und Tod und Verderben bringt.

Wenn Kyle Perry diese Unterwasserwelten beschreibt und die Tauchgänge der Protagonisten dort in Worte kleidet, dann ist das ganz starke Nature-Writing-Prosa, die sich hier mit einem in weiten Teilen überzeugenden und frisch erzählten Kriminalroman verbindet.

Suspense und Natur, es ist hier alles drin. So lautete mein Urteil über Kyle Perrys Debüt – und auch in seinem zweiten Roman löst er diese beiden Versprechen wieder ein und rundet so das Leseerlebnis zu einer überzeugenden Angelegenheit.

Fazit

Erneut arbeitet Kyle Perry in Der Rausch der Tiefe daran, Tasmanien auf der Krimilandkarte zu verankern. Und auch hier macht er wieder einen guten Job, insbesondere, wenn er die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens in den Blick nimmt und uns mitnimmt in die gefährlichen Höhlen und von ihren Geheimnissen erzählt.

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Adam LeBor – District VIII

Ein ungarischer Ministerpräsident, der nach Gutsherrenart regiert und für seinen eigenen Machterhalt über Leichen geht? Der langjährige Ungarn-Korrespondent Adam LeBor zeichnet in seinem Krimi District VIII ein ungeschöntes Bild der Zustände in Ungarn, erinnert an die Anfänge der „Flüchtlingskrise“ 2015 und schickt einen neuen Ermittler auf die Straßen Budapests.


Balthazar Kovács heißt dieser Ermittler, der als Kriminalbeamter bei der Budapester Mordkommission seinen Dienst versieht. Eine anonyme SMS lockt ihn am Morgen des 4. September 2015 zur Grenze des VIII. Bezirks in der Nähe des Platzes der Republik. Dort auf einem verlassenen Grundstück sollte sich eigentlich eine Leiche befinden. Doch als Kovács den Tatort betritt, ist die Leiche verschwunden. Lediglich eine SIM-Karte kann er an dem potentiellen Ort eines Verbrechens ausmachen, das ist alles.

Ein kleiner Roma-Junge aus dem VIII. Bezirk gibt Kovács einen Hinweis, doch dann tauchen schon Mitglieder der Gendarmerie auf, die den Tatort als den ihrigen reklamieren. Anführer der Gruppe ist Kocács´ ehemaliger Kollege Attila Ungar, der den Budapester Mordermittler bedroht und einschüchtern möchte. Doch das lässt sich der sture Kriminalbeamte nicht sagen, sein Instinkt in Sachen Verschleierung von größeren Ungereimtheiten ist geweckt. Und so beschließt er gegen die Order der omnipräsententen Gendarmen nach Rücksprache mit seinem Chef eine geheime Ermittlung durchzuführen.

Schnell stellt sich heraus, dass der Ermittler mit Romnja-Wurzeln hier in ein Wespennest gestochen hat. Denn Spuren zum Verbrechen führen zu seiner eigenen Familie, die den VIII. Bezirk in Budapest kontrolliert. Spuren führen aber auch zum Keleti-Bahnhof, in dem tausende Geflüchtete ausharren, darunter auch die Familie des Ermodeten, der aus Syrien geflohen war. Und auch die Politik mischt kräftig in der Sache mit, allen voran die Justizministerin Réka Bardossy und der skrupellose ungarische Ministerpräsident Pal Pálkovic, der seine Finger im Spiel zu haben scheint.

Ein Krimi mit einigen Themenkomplexen

District VIII ist ein Krimi, der einige Themenkomplexe beackert. Da ist zum einen die Thematik der Flüchtlingskrise, die sich im September 2015 durch das Agieren des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zusehends verschärfte, bis sich Deutschland zur Aufnahme der Geflüchteten entschied. Mit seinem Krimi ruft Adam LeBor die Erinnerungen an die Geschehnisse und Bilder aus dem Keleti-Bahnhof in Budapest noch einmal wach.

Adam LeBor - District VIII (Cover)

Zudem möchte der britische Auslandskorrespondent auch über die rechtspopulistische (nepotistische, autokratische und in Teilen antisemitische) Regierung Viktor Orbans erzählen, die er hier mithilfe eines fiktiven Doppelgängers des ungarischen Ministerpräsidenten bis hinein ins tiefkriminelle Milieu überdehnt. Denn sein Präsident Pal Pálkovic zieht hier die Strippen, hat mithilfe seiner Prätorianergarde, den ermächtigten und Sonderbefugnissen ausgestatteten Gendarmen, ein kraftvolles Instrument zur Umgehung des Rechts und der Gewaltenteilung bei der Hand und fungiert als Dealer für illegale Pässe und EU-Mitgliedschaften. All das muss Balthazar Kovács erkennen, wobei Adam LeBor einen multipersonalen Erzählansatz wählt, um die ganze Verkommenheit des politischen Machtapparats zu zeigen, der mit Schleusern und Kriminellen gemeinsame Sache macht.

Neben diesen beiden großen Themenkomplexen ist es auch noch die Herkunft Balthazar Kovács aus dem Romnja-Milieu, das in District VIII eine große Rolle spielt. Denn der titelgebende Bezirk ist der mit den meisten Romnja in ganz Budapest – und auch Balthazar selbst ist Teil dieser ethnischen Minderheit, wenngleich ihn sein Job zu einem Paria seiner Familie gemacht hat.

Ein Ermittler mit Romnja-Hintergrund

Das Leben der Romnja, ihr sozialer Codex und das Miteinander dort im achten Bezirk schildert LeBor in einigen Erklärpassagen, wie es überhaupt einige solcher Erklärexkurse im ganzen Buch gibt. Denn District VIII zeigt klar die Herkunft des Autors als Journalist, der mithilfe der fiktiven Politik-Doppelgänger seine Erfahrung über die aktuelle ungarische Politik unter Viktor Orban in seinen Roman einfließen lässt.

Das klappt manchmal prima, bisweilen holpert der Erzählfluss aber auch etwas und könnte ab und an eine etwas ordnende Hand gebrauchen könnte. So sind die Themenkomplexe und vielen Figuren nicht immer ganz organisch miteinander verbunden beziehungsweise bleiben auch etwas erwartbar, etwa wenn eine der Hauptfiguren, die Investigativjournalistin Eniko Szalay früher einmal mit Balthazar liiert war ehe sie für kurze Zeit nach London ging. Nun arbeitet sie aber im Zuge der verschwundenen Leiche des Flüchtlings aus Syrien wieder mit diesem zusammen und das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sollte eine*n nicht wirklich überraschen.

Auch ist die Titelgebung des 2017 im Original erschienen Krimis etwas inkonsistent, wenn doch die Übersetzung im Buch beharrlich (und im Deutschen deutlich idiomatischer) vom VIII. Bezirk spricht, der Titel dann aber vom District VIII kündet.

All das sind so kleine Ecken und Kanten bei einem gesellschaftspolitisch spannenden Krimi, die sich mit der Routine kommender Titel in meinen Augen durchaus abschleifen könnten. Zu den gelungensten Aspekten des Buchs zählt in meinen Augen die Schilderung der Vorgänge am Keleti-Bahnhof – und auch Balthazar Kovács hat als Charakter durchaus Potenzial für die kommenden Bände.

Fazit

So liefert Adam LeBor in District VIII Einblicke in ein Ungarn zur Zeit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und zeigt ein politisches Budapest voller krimineller Energie, von Kopf bis Fuß im Morast des Unrechts steckt und das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt und bei dem aufrechte Polizisten und Investigativjournalistinnen mit viel Kraft ihre Kämpfe fechten müssen.


  • Adam LeBor – District VIII
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-948392-66-6 (Polar)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter verschwinden spurlos während der Silvesternacht von ihrem sturmumtosten Standort vor der Küste von Cornwall. Es fehlt von ihnen jede Spur, die Wanduhren sind stehengeblieben, der Turm von innen verriegelt. Was bei Ellery Queen oder John Dickson Carr ein klassischer Rätselkrimi geworden wäre, wird bei Emma Stonex zu einer Meditation um Verlust und den Umgang mit dem Ungewissen.


Es mutet wirklich wie ein Rätsel aus einem Kriminalroman aus dem Goldenen Zeitalter der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ein verschlossener Leuchtturm auf der Insel Maidens Rock, 28 Kilometer südlich von Land’s End gelegen. Seine Bewohner, drei Männer, ohne jedes Lebenszeichen verschwunden. Und so schießen nach dem Bekanntwerden der Umstände die Spekulationen ins Kraut. Handelt es sich um einen Mord? Wurden die drei Männer entführt? Oder ist es zu einer Tragödie auf Maidens Rock gekommen?

Es bleibt nicht mehr viel übrig vom Turm. Nur noch die Laterne. Acht Etagen durchsucht und acht Etagen leer. Also hinauf auf die Spitze, und da ist sie, die Laterne der Maiden, ein riesiger Glühstrumpf umschlossen von Linsen so zart wie Vogelschwingen.

»Das war’s. Sie sind weg.«

Am Horizont ziehen Federwolken heran. Die Brise frischt auf, ändert die Richtung, treibt weiße Kämme über die tanzenden Wellen. Es ist, als wären die Wärter nie hier gewesen. Entweder das, oder als wären sie ganz nach oben geklettert und einfach davongeflogen.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, S. 28 f.

Verschwunden aus dem Leuchtturm

Emma Stonex - Die Leuchtturmwärter

Um das zu herauszufinden, will sich ein Schriftsteller mit den drei hinterbliebenen Partnerinnen der Leuchtturmwärter treffen. Er möchte ein Buch über das Rätsel von Maiden Rock verfassen und sucht hierfür das Gespräch mit den Frauen. Doch nicht alle der drei Frauen wollen mit dem Autoren reden. Auch untereinander herrscht überwiegend Funkstille, da die Frauen ganz unterschiedliche weitere Lebenswege eingeschlagen haben. Eine neue Familie oder Einsamkeit, Verdrängung der Geschehnisse oder ruheloses Grübeln. In den Gesprächen, die wir aus Perspektive des Autors erleben, entstehen langsam drei ganz unterschiedliche Leben, die sich um die Leerstelle in ihrem Leben herum gebildet haben.

Dabei erzählt Emma Stonex abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, die durch die Nachforschungen des Reporters im Jahr 1992 aufgewühlt werden und ihre Sicht auf das Geschehen schildern. Aber auch die drei Leuchtturmwärter kommen zu Wort, die von ihrem Alltag auf dem Leuchtturm zwanzig Jahre zuvor erzählen. Man erhält Einblicke in eine Welt voller Einsamkeit, die ganz eigene Riten, Abläufe und Codes besitzt, die sich auch durch die Tätigkeit fernab der Zivilisation bedingen.

Drei Männer, drei Frauen – und ihre Perspektiven

Allmählich puzzelt Emma Stonex diese sechs Perspektiven aus den unterschiedlichen Jahren zusammen, um eine Variante anzubieten, was sich in der Silvesternacht auf Maidens Rock abgespielt haben könnte. Jeder der Wärter und jede der drei Frauen trägt ihr Scherflein zu der Entwicklung bei, die am Ende auch nur ein Erklärungsversuch bleibt, der aber keinen allgemeingültige Anspruch formuliert. Das macht das Buch so überzeugend, weil neben den Perspektiven der drei Paare und der Befragten auch Raum für Spekulationen und Schwebendes bleibt.

Das Ganze basiert dabei aber auf tatsächlichen Begebenheiten, wie schon die Anmerkung der Autorin zu Beginn des Buchs klarmacht.

Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hebriden. Sie hießen Thomas Marshall, James Ducal und Donald MacArthur. The Lamplighters wurde von diesem Ereignis inspiriert und in respektvoller Erinnerung daran geschrieben, aber es ist eine fiktionale Geschichte und hat keine Ähnlichkeit mit dem Leben und der Persönlichkeit dieser Männer.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, Anmerkung

Und auch an dieser Stelle geht Emma Stonex noch einmal auf die Hintergründe zu den Taten ein, die ihren Roman um das Verschwinden der drei Leuchtturmwärter inspirierte.

Fazit

So ist Die Leuchtturmwärter eine Studie über den Verlust im Leben und auch ein genaues Bild, was die Einsamkeit der Leuchtturmwärter belangt. Die Autorin lässt eventuelle Erwartungen eines Rätselkrimis ins Leere laufen und zeigt vielmehr Einsamkeit und Entfremdung in allen möglichen Schattierungen. Ein überraschendes Buch, das Erwartungen zuwiderläuft und wenig romantisierenden vom Alltag im Leuchtturm und dem Umgang mit Leerstellen im Leben zeigt.


  • Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter
  • Aus dem Englischen von Eva Kemper
  • ISBN 978-3-10-397037-1 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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