Carlos Franz – Das verschwundene Meer

Vor dem Hintergrund der Militärdiktatur in Chile spielt Carlos Franz‚ dunkle Geschichte, die eine Richterin ihre Erinnerungen an die damalige Zeit noch einmal wachruft und zeigt, wie schnell Idealismus in einer Diktatur zerbrechen kann. Das verschwundene Meer ist schwere Kost, die aber durch ihre Ausführung besticht.


50 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur in Chile erschien im Mitteldeutschen Verlag vor zwei Jahren das in der zugrundeliegenden Version im Original bereits 2014 unter dem Titel El desierto veröffentlichte Werk des chilenischen Autors Carlos Franz in der Übersetzung von Lutz Kliche. Auch wenn die eher an ein verspieltes Kinderbuch erinnernde Gestaltung des Buchs auf eine völlig falsche Fährte führt – im Inneren erwartet die Leser*innen ein dunkler Roman, der den Schrecken jener Jahre noch einmal vor Augen führt.

Schauplatz des Ganzen ist der Ort Pampa Hundida, ein in der Salzwüste gelegener kleiner Ort im Norden Chiles. Dorthin kehrt die Richterin Laura zurück, nachdem sie zwanzig Jahre zuvor aus Chile nach Berlin geflohen war. Doch wie das so ist mit der Vergangenheit – auch Laura lässt sie nicht los. Der Grund für ihre Rückkehr ist ein Schreiben, in dem ihre Tochter Claudia eine zentrale Frage stellt, die die Rückkehr Lauras an den Ort ihres einstigen Wirkens auslöst.

Wo warst du, Mamá, als all diese schrecklichen Dinge in deiner Stadt geschahen?“ Während sie die Kontrolle über das Fahrzeug zurückgewann, dachte Laura wieder an den Brief von Claudia, voller Fragen wie dieser, den sie drei Monate zuvor in Berlin erhalten hatte. Er steckte, neben ihrem Pass, den Flugtickets und ihrer Antwort, in ihrer Aktentasche; viele Seiten, an denen sie drei Monate lang geschrieben hatte, nur um sich während des Flugs nach Chile, beim Schreiben eines Postskriptums, endgültig darüber klar zu werden, dass die einzig richtige, wahrhaftige Antwort an ihre Tochter genau diese Heimreise war.

Carlos Franz – Das verschwundene Meer, S. 8

Rückkehr nach Pampa Hundida

Carlos Franz - Das verschwundene Meer (Cover)

Nun also kehrt Laura zurück, während der kleine und sonst so beschauliche Ort von Pilgern fast überschwemmt wird, die zur „Diablada“ ebenfalls nach Pampa Hundida gereist sind. Die Pilger und Büßer erflehen den Schutz von der Heiligenstatue der Stadt und geißeln sich dabei auch selbst. Ein Spektakel, das jährlich die Massen anzieht, die dort in der Wüste ihre Sünden bereuen.

Während nun also dieses Pilgerprozession ihrem Höhepunkt zusteuert, ist Laura zurückgekommen, um sich ebenfalls den Sünden der Vergangenheit zu stellen. Vor Ort will sie endlich das schaffen, was ihr vor zwanzig Jahren nicht gelungen ist, nämlich Gerechtigkeit.

Damals fiel ein Trupp Soldaten unter Führung des ebenso gefährlichen wie dominanten Major Mariano Cáceres Latorre in der Stadt ein, der in der Salzwüste draußen vor den Toren der Stadt ein Lager für Gefangene errichten sollte. Gegner des neuen Staats unter Führung Augusto Pinochets sollten dort inhaftiert und erschossen werden. Ein Vorgehen, das jeglichem Recht widersprach, dem sich Laura als idealistische junge Richterin verpflichtet sag. Und doch konnte sie dem tödlichen Unrecht dort in der Wüste nicht Einhalt gebieten.

Warum dem so war, das versucht Laura in einem Akt der Selbsterklärung darzulegen, indem sie einen Brief an ihre Tochter formuliert, in dem sie auf die damaligen Geschehnisse und ihre Rolle darin zurückblickt. Dieser Briefe bildet den zweiten Erzählstrang des Romans, der um die erzählte Gegenwart nun Jahre später in Pampa Hundida herumgewoben ist. Immer wieder wechselt Carlos Franz diese Erzählstränge ab und treibt beide gleichermaßen voran.

Wie funktioniert ein System der Unterdrückung und des Unrechts?

Die Feigheit der Stadtoberen von Pampa Hundida, Lauras eigene Schwäche, all das besieht die mittlerweile desillusionierte Richterin, die ihren einstigen Idealismus und den Verrat an ihren Werten mit schmerzhafter Detailschärfe darlegt. Während für Pampa Hundida nun eine neue Zeit angebrochen scheint, kann sie die Vergangenheit nicht ruhen lassen und rührt damit auch an den Grundfesten der neuen Gesellschaft. Denn wäre es nicht einfacher, die damaligen Verbrechen einfach ruhen zu lassen und sich darauf zu konzentrieren, eine neue, bessere Gesellschaft zu werden? Nicht nur Laura fragt sich das, in vielen Dialogen mit jungen und alten Kräften, mit idealistischen wie realistischen bis opportunistischen Kräften loten das Franz‘ Figuren in (bisweilen vielleicht etwas arg theoretischen) Disputen bis hin zu Grundsatzdebatten aus.

„Diesmal werde ich die ich dich nicht enttäuschen, Laura. Diesmal greife ich ein…“

„Ich werde eingreifen“, sagte er, Claudia. Und die tiefe Stimme, die Radiosprecherstimme, in die ich mich einst verliebt hatte, kippte dabei, als sei ein Stimmband gerissen, während die weichen, femininen Lippen zitterten.

„Warum hast du denn nicht vorher eingegriffen?“, fragte ich so sachlich wie möglich (wenn eine Furie oder eine Bacchantin sachlich sein kann). Doch diesmal wich Mario nicht aus, senkte nicht den Blick. Wahrscheinlich hatte er während der vierundvierzig Tage, die er bei mir gewacht und heimlich getrunken hatte, darüber nachgedacht. „Ich hatte Angst“, sagte er. „Ich wollte lieber nichts wissen. Doch jetzt werde ich eingreifen“, wiederholte er noch einmal.

Ich spürte, wie mir ein Lachanfall die Kehle emporstieg, Claudia, ein perverses, böses Lachen; ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht seinem Spiegelbild laut ins Gesicht zu lachen. Jetzt würde er „eingreifen“. Und er sagte es ganz ehrlich und treuherzig, völlig immun gegen die Absurdität, seiner offenkundigen Feigheit, seiner Lächerlichkeit gegenüber. Und sogar immun etwas Schlimmerem gegenüber, seiner offenkundigen Faszination“.

Carlos Franz – Das verschwundene Meer, S. 411 f,

Die Brutalität der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet

Das verschwundene Meer blickt durch seine an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterte Heldin und ihr Verhalten auf die ganze chilenische Gesellschaft von einst und jetzt. Junge und idealistische Figuren treffen auf Pragmatiker, die sich einst ebenso gut mit dem Unrecht zu arrangieren wussten, wie sie nun mit der Vergangenheit abgeschlossen haben. Denn damals schanzte das Dorf Laura die Aufgabe zu, mit dem Major zu verhandeln und für einen Schutz der Gemeinschaft zu sorgen. Langsam entsteht aus der Vergangenheit ein Bild von fatalen Dynamiken und Feigheit, die das System der Gewalt und des Unrechts unter Augusto Pinochets ermöglichte und das sich bis auf die niedrigste Ebene der Gesellschaft auswirkte.

Die neue Gesellschaftsordnung, sie wurde bis ins letzte Glied exekutiert, wie der Roman anschaulich vor Augen führt.

Das Wort der Exekution ist dabei sehr ernst zu nehmen. Denn Carlos Franz zeigt die ganze Brutalität des damaligen Systems, in dem sich der Major verschiedener Formen der Erniedrigung und Unterwerfung bediente, um sich die Menschen untertan zu machen, von den Gefangenen unter der sengenden Sonne in der Salzwüste bis hin zu Laura, für die er als „patroncita“ eine ganze besondere Form der Unterwerfung ersann.

Man braucht ein gerütteltes Maß an Resilienz, um die Gewalt und Erniedrigung zu ertragen, die einem hier entgegenschlägt. Laura kennt in ihrer Selbstbeschau keine Gnade und legt das erfahrene Unrecht und die vielfache Gewalt detailliert dar und holt damit jene gewaltgesättigte Epoche der chilenischen Geschichte wieder ans Tageslicht, die hierzulande kaum bekannt ist oder wieder schnell vergessen wurde.

Fazit

Damit leistet Das verschwundene Meer wichtige Arbeit, weil der Roman nicht alleine das Unrecht und die Gewalt jener Jahre unter Pinochet besieht sondern weit darüber hinausgeht. Dieses Buch bleibt nicht im Allgemeinen, sondern blickt auf den Antrieb und die Faktoren für die Funktionsfähigkeit jenes System der Unterdrückung, indem bei Carlos Franz mithilfe des Mikrokosmos Pampa Hundida auf das große Ganze blickt. Durch seine Richterin Laura, deren Idealismus und Vertrauern in das Rechtssystem in jenem System so zermahlen wird wie die Knochen der Toten in der Wüste, schafft Franz eine Anschaulichkeit, die man so schnell nicht mehr vergisst und die wachmacht für jene Wirkkräfte, die auch heute noch in zu vielen Gegenden der Welt (wieder) an Einfluss gewinnen.


  • Carlos Franz – Das verschwundene Meer
  • Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
  • ISBN 978-3-96311-826-5 (Mitteldeutscher Verlag)
  • 487 Seiten. Preis: 30,00 €
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