Category Archives: Verschiedenes

Meine besten Bücher 2023

Die Einleitung meines Rückblicks aus dem vergangenen Jahr könnte ich in diesem Jahr eigentlich kopieren und an dieser Stelle erneut einfügen. Ähnlich wie 2022 sind es auch in diesem Jahr wieder über hundert Rezensionen geworden, in denen ich mich hier meinen Lektüren etwas genauer gewidmet habe und diese Lektüreeindrücke und Gedanken hier auf dem Blog verschriftlicht habe.

Daneben gab es wieder schöne Momente und Initiativen, die das solistische Schreiben hier schön ergänzen. So durfte ich Teil der Sachbuchblogger für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 sein. Auch zur Preisverleihung des Tukan-Preises in München war ich eingeladen (mehr zu Thomas Willmanns Buch auch hier in der Bestenliste). Unbestrittenes Highlight zweifelsohne meine Teilnahme am Literarischen Quartett, die es leider nicht in die Mediatheken schaffte, mir aber viel Freude bereitete.

Daneben gab es wieder Literaturabende, Moderationen und sogar diesmal zwei Messebesuche mit Leipzig im Mai und Frankfurt im Oktober. Vieles habe ich erlebt – und hier hoffentlich auch dazu beigetragen, das ein oder andere Buch noch etwas bekannter oder sichtbarer zu machen.

Nun aber genug der einleitenden Worte, es folgen nun meine sechzehn besten Bücher des Jahres. Die ausführlichen Besprechungen lassen sich alle auf dem Blog nachlesen und sind in den Texten verlinkt. Der Klick aufs Cover bringt euch auf die Seite der Onlinebuchhandlung Yourbookshop. Mehr zu dieser Verlinkung habe ich am Ende des Textes vermerkt. Und jetzt viel Spaß:

Benjamín Labatut – MANIAC

ChatGPT und die Frage der Künstlichen Intelligenz waren Schlagwörter, denen man in diesem Jahr kaum entgehen konnte. Viele Romane behandeln das Thema dabei eher unterkomplex. Wie es besser geht, das zeigt der Chilene Benjamín Labatut in seinem Roman MANIAC, der von John von Neuman und dessen Erfindung, einem Supercomputer erzählt. Literarisch ambitioniert, hervorragend gebaut – solche Literatur schafft keine Künstliche Intelligenz der Welt!

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Das gute Literatur ihre Zeit zur Reife braucht, das beweist Thomas Willmann mit seinem Roman Der Eiserne Marquis eindrücklich. Debütierte er 2010 mit seinem Alpenwestern Das stille Tal, blieb es gute 13 Jahre lang still um ihn. Das hatte seinen guten Grund. Handschriftlich verfasste er dieses monumentale Epos, das von Liebe, Begehren, Technikgläubigkeit und der Menschenmühle des Krieges erzählt – und von noch so viel mehr.

Lauren Groff – Die weite Wildnis

Letztes Jahr in der Jahresbestenliste für Matrix, dieses Jahr eine Spitzenplatzierung für Die weite Wildnis – Lauren Groff hat einfach einen Lauf. Hier gelingt ihr ein beeindruckendes Porträt eines Überlebenskampfes in der amerikanischen Wildnis, die mal lebensfeindlich, manchmal erhebend ist. Nature Writing, Erzählung über die Untertanmachung der Erde, historischer Roman und die literarische Hymne auf eine Überlebenskünstlerin, alles drin!

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Der coronabedingten Isolationen haben wir gewissermaßen dieses Buch zu verdanken, das der Schriftsteller Kazuo Ishiguro in dieser Zeit wiederentdeckte und empfahl. Auch schließe mich an und empfehle meinen literarischer Sommerhit des Jahres aus der Feder von R. C. Sherriff. Bittersüß erzählt Zwei Wochen am Meer von der Sommerfrische einer durchschnittlichen englischen Familie an der Südküste Englands, lang vor Massentourismus und Event-Fixierung. Ein Buch, das den Sommer feiert, aber auch um seine Vergänglichkeit weiß. Berührend!

Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der Suhrkamp-Verlag und Andreas Pflüger können den Champagner schon einmal kalt stellen. Der Deutsche Krimipreis 2023 dürfte ihm für sein Werk Wie Sterben geht sicher sein – und das absolut zurecht. Sein Buch führt zurück in die Hochphase des Kalten Kriegs und passt erstaunlich wieder gut in die Gegenwart. Einen anspruchsvolleren, literarisch ausgeklügelteren und mitreißenderen, kurz: besseren Krimi als diesen habe ich 2023 nicht gelesen. Mein Tippschein für den Krimipreis ist ausgefüllt!

Louise Kennedy – Übertretung

Irland zur Hochzeit der Troubles – und mittendrin die katholische Lehrerin Cushla, die gleich mehrere Übertretungen wagt. Die Affäre mit einem Protestanten und die Übertretung sämtlicher Zurückhaltung, als es um das Wohl einen ihrer Schüler geht. Hier explodieren die Bomben, ist das Leid der Zivilbevölkerung auf jeder Seite spürbar. Kurzum: man ist in Louise Kennedys Debüt ganz dicht dran und bekommt eine Ahnung, wie es sich angefühlt haben muss, als der IRA-Terror seinen Höhepunkt auf der grünen Insel erreichte.

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Völlig untergegangen in Sachen öffentlicher Aufmerksamkeit ist diese literarische Wiederentdeckung, die uns der Reclam-Verlag zugänglich gemacht hat: in Die Kaiserstadt entwirft Paul Zifferer ein vielschichtiges Porträt Wiens kurz nach dem Ende des Großen Krieges. So kehrt Toni Muhr aus dem Krieg heim, findet sich seiner Erfindung und irgendwie auch seiner Frau beraubt. Das will er aber nicht auf sich sitzen lassen und wird zu einer Art austrakianischem Kohlhaas, während um ihn herum die Habsburgermonarchie zerbröselt.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Noch einmal Wien, noch einmal die Kaiserstadt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, genauer gesagt am Vorabend des Kriegseintritt Österreichs in den Großen Krieg. Edelbauer lässt ihre Figuren in Echtzeit durch die Stadt hetzen. Absteigen in die Wiener Unterwelt und das eigene Unterbewusstsein, Kriegseuphorie, geheimnisvolle Träume, irgendwo zwischen Schnitzler, Sebastian Schippers Victoria und Sense 8. Das ist ebenso luzide wie präzise, sprachmächtig wie vorwärtstreibend – einfach inkommensurabel!

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Bücher mit soziologischem Erzählanspruch gab es in diesem Jahr einige (man denke beispielsweise nur an Teresa Präauers Kochen im falschen Jahrhundert). So genau und so treffend wie Vincenzo Latronico in seiner Vermessung des Berliner Ex-Pat-Milieus ist es in meinen Augen allerdings niemandem gelungen, soziologische Genauigkeit und literarische Präzision miteinander zu einem Bild einer Bevölkerungsschicht zu verbinden, bei der man trotz allem Hochglanz-Chic vielleicht doch nicht dazugehören möchte.

Angela Steidele – Aufklärung

Zugegeben, hier habe ich geschummelt, erschien Angela Steideles Buch doch eigentlich schon vor einem Jahr – aber erst jetzt kam ich zur Lektüre und fand einen begeisternden historischen Roman vor. Wissenssatt löst er den Anspruch des Titels auf ganzer Linie ein, erzählt vom intellektuellen Leben in den Gassen Leipzigs, das dem Treiben im Inneren eines Bienenstocks gleicht und rückt nicht zuletzt die die in den Vordergrund, die sonst im Schatten der Geschichte verschwinden – die Frauen.

Claire Keegan – Das dritte Licht

Wie man aus wenigen Seiten das Größtmögliche herausholen kann, das stellt die Irin Claire Keegan immer wieder beeindruckend unter Beweis. Auch in Das dritte Licht gelingt ihr das Kunstwerk, auf kleinstem Raum ein großes Schicksal zu erzählen, nämlich das eines Mädchens, das zu einem anderen Ehepaar gegeben wird, das sich der Pflege des Kindes annimmt. Wie jede der beteiligten Figuren an der neuen Situation wächst, schildert sie so ergreifend, das eine Platzierung hier in der Bestenliste nur konsequent ist.

James Kestrel – Fünf Winter

Noch einmal Krimi, noch einmal Suhrkamp, noch einmal Breitwandkino. In Fünf Winter erzählt James Kestrel die Geschichte eines Ermittlers auf Honolulu, dem bei seinen Mordermittlungen alles andere als eine Kleinigkeit dazwischenkommt. Es ist der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der nicht nur die Überführung eines Mörders stoppt, sie bringt den unbestechlichen Cop sogar bis nach Japan, ehe er seine unterbrochenen Ermittlungen weiterführen kann. Großes Kino!

Charlotte Gneuß – Gittersee

Dieses Buch hatte ich eigentlich nicht auf dem Schirm. Wieder DDR, wieder Coming of Age? Mein Interesse hielt sich in Grenzen. Doch dann besprachen wir Gittersee im Literarischen Quartett und ich sah alle Vorurteile widerlegt. Denn Charlotte Gneuß erzählt stimmig vom Aufwachsen einer jungen Frau im sozialistischen Planstaat namens DDR, vom Sich-Verfangen im Gespinst der Staatssicherheit, vom unaufhörlichen Irren der Nadel des eigenen Lebenskompasses in den Jugendjahren. Das ist ein großartiges Debüt!

Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Noch so ein Überraschungscoup mit ihrem Debüt gelingt der Autorin Dana Vowinckel. Ihr Buch kommt genau zur richtigen Zeit, erzählt es doch von jüdischem Leben in der DDR, von unterschiedlichen Wegen der Eltern- und Jugendgeneration in Deutschland. Besonders wichtig ist dieses Debüt in den aktuellen Zeiten, in denen der Antisemitismus um sich greift. Denn Gewässer im Ziplock zeigt, wie gelebtes Judentum aussieht und leistet wichtige Aufklärungsarbeit.

André Hille – Jahreszeit der Steine

Wenn es eine thematische Häufung an Büchern gab, dann war das im Jahr 2023 zweifelsohne das Thema Vaterschaft. Von Deniz Utlu bis zu Christian Dittloff, alle dachten über Väter, männliche Prägung und moderne Vaterschaft nach. Am gelungensten in meinen Augen tat das André Hille, der im erzählerischen Rahmen eines einzigen Tages in Jahreszeit der Steine alle essenziellen Themen behandelte und hinterfragte – und in dessen Überlegungen ich mich auch persönlich wiederfand.

Emmanuel Maeß – Alles in allem

Zugegeben – Emanuel Maeß Prosa ist nicht jedermanns Sache – aber auf alle Fälle meine. Spracharabesken, aus der Zeit gefallene Themen, Zauderer und Prokrastineure als Helden – das alles nimmt mich sehr für den Autor ein, der in Alles in allem von einem ewigen Theologiestudenten und dessen Irren zwischen verschiedenen Frauenfiguren erzählt. Unzeitgemäß, aber eben deshalb auch für mich in diesem Jahr passend und begeisternd.


Sämtliche hier vorgestellte Bücher habe ich auch in einer Liste bei der unabhängigen Onlinebuchhandlung Yourbookshop hinterlegt. Dort könnt ihr die Bücher kaufen und damit zugleich eure favorisierte Buchhandlung vor Ort unterstützen. Und ein kleiner Teil vom Erlös kommt auch meiner Arbeit hier zugute, damit es auch im nächsten Jahr wieder spannende Entdeckungen gibt. Schaut doch mal vorbei, wenn ihr mögt!

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Bibliotheken im Kreuzfeuer

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas – Do Not Go Gentle into That Good Night

Diese bekannten Zeilen aus Dylan Thomas‘ Gedicht sollen am Anfang dieses Textes stehen, der zugleich einer der letzten diesen Jahres ist. Denn wie es sich am Ende eines Jahres gehört, geziemt sich ein Rückblick auf das vergangene Jahr auch aus berufsfachlichem Winkel. Allzu verklärend und weihnachtsmilde soll dieser allerdings nicht ausfallen, sondern in Verwandtschaft zu jenen 1951 erstmals publizierten Zeilen Dylan Thomas‘ stehen, deren unversöhnlichen und kämpferischen Impetus ich auch gerne auf Bibliotheken übertragen möchte.

Denn obwohl man meinen könnte, dass es den Bibliotheken gut geht und angesichts wenig in der Öffentlichkeit vernehmbarer Klagen alles in bester Ordnung ist, markiert 2023 in meinen Augen auch eine Zäsur in Sachen Gefährdung von Bibliotheken, Wissen und damit letzten Endes auch unserer Gesellschaft.

Zensur allenorten?

Der Kernvorwurf, der Bibliotheken seit dem Erstarken rechter Kräfte immer deutlicher gemacht wird, ist der der Zensur. Alles ist heute irgendwie Zensur. Entscheidet sich beispielsweise die Stadtbücherei Augsburg, nach einem gemeinsamen Arbeitsprojekt mit Studierenden der lokalen Fachhochschule, dokumentationsbegleitend zum Forschungsprojekts rassismussensible Sticker auf der Rückseite mancher Kinderbücher anzubringen, um diese Werke zu kontextualisieren, lautet der in Leserbriefen und Zuschriften vorgebrachte Vorwurf Zensur.

Dass keine Bücher aus dem Bestand entnommen, sondern auf peripherer Stelle lediglich mit weiterführenden Informationen versehen wurden, die aus heutiger Sicht problematische Aspekte des Buchs in den Blick nehmen und Vorleser*innen Ratschläge an die Hand geben, das fiel in den meisten Zuschriften unter den Tisch. Dass eine wissenschaftliche Einordnung und Ergänzung wohl das Gegenteil von Zensur darstellt, geriet nicht nur hier völlig aus dem Blick.

Entscheidet sich ein Verlag (in England wohlgemerkt!), Neuausgaben von Roald Dahls Werken um in Augen der Verantwortlichen problematische Begriffe zu glätten und heutigen Gegebenheiten anzupassen, dann ist das Zensur, wenn man vielen Meinungsäußerungen in den Feuilletons oder Online-Kommentaren Glauben schenken darf.

Dass man über solche Beispiele und Eingriffe in Werke oder Kontextualisierungen trefflich streiten kann, das ist völlig unbenommen (auch ich sehe manche Auswüchse mehr als kritisch, das sei an dieser Stelle angemerkt).

Der beliebige Vorwurf der Zensur

Dass es sich bei den erwähnten Beispielen um einen Fall von Zensur handelt, ist aber völlig unzutreffend. Das zeigt schon ein Blick in die Begriffsdefinition, die der Duden wie folgt liefert:

Zensur, die: von zuständiger, besonders staatlicher Stelle vorgenommene Kontrolle, Überprüfung von Briefen, Druckwerken, Filmen o. Ä., besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität

Begriffsdefinition des Duden zum Thema „Zensur“

Dieser von überwiegend rechten Kräften eingebrachte Vorwurf einer Kontrolle von Druckerzeugnissen hinsichtlich einer wie auch immer gearteten Konformität ist falsch. Eine staatliche Stelle, die von oben herab die Medienwelt diktiert und Vorgaben hinsichtlich zu verbreitender und nicht zu verbreitender Bücher macht, es gibt sie hierzulande nicht. Bibliotheken bieten im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung freien Zugang zu Wissen und Information – und wenn sich ein privatwirtschaftlicher Verlag zu Eingriffen in bei ihm publizierten Werken entscheidet, dann mag das je nach Lesart eine Anpassung an den Zeitgeist oder fortschrittliches Denken sein – nur eines nicht: Zensur oder Ausdruck einer ominösen „Cancel Culture“.

Der geradezu inflationäre Gebrauch des Vorwurfs der Zensur sorgt für eine Schleifung des eigentlich so konkreten Begriffs, der duch die Unschärfe bei der Begriffsverwendung des Wortes immer beliebiger und unkonkreter werden lässt.

Dabei gäbe es doch jeden Anlass zu Sorge angesichts Zensur und Bibliotheken. Nur findet diese Zensur nicht auf der oft inkriminierten „linken“, zeitgeistig und „woken“ Seite statt, sondern tatsächlich an jenem rechten Rand, von dem der Vorwurf so oft geäußert wird. Auch liegt der Schauplatz nicht in Europa, sondern befindet sich auf der anderen Seite des Atlantiks in Amerika, dem selbsterklärten „Land of the free“.

Book bans im „Land of the free“

So frei ist die Bibliothekswelt dort im „Land of the free“ allerdings nicht mehr, besonders wenn man in den von Gouverneur Ron deSantis regierten Bundeststaat Florida blickt. Dort sind mittlerweile sogenannte „Book Bans“ von staatlicher Stelle an der Tagesordnung und damit ein tatsächlicher und konkreter Fall von – Zensur.

Eingebettet in größere Agenda der orchestrierten Rückschrittlichkeit sind es etwa neben dem Feld des weiblichen Körpers in Form von Abtreibungsverboten auch die Bibliotheken als Hort der Aufklärung und des Erkenntnisgewinns, die in den Fokus der republikanischen Hardliner geraten sind.

So erließ Floridas Gouverneur jüngst ein sogenanntes „Stop-Woke“-Gesetz, das nach Ansicht der Gesetzgeber der Indoktrination von Kindern entgegenwirken soll und das die legislative Grundlage für Buchbann und Zensur liefert. Durch dieses Gesetz ist es möglich, missliebige und dem eigenen Weltbild widersprechende Titel zu melden und für die Entfernung aus (Schul)Bibliotheken vorzuschlagen.

Eine Möglichkeit, von der immer stärker Gebrauch gemacht wird und die nicht nur in Florida, sondern auch beispielsweise im Staat Idaho auch kuriose, vor allem aber sehr bedenkliche Blüten treibt. So scheiterte ein von der republikanischen Partei eingebrachtes Vorhaben dort nur knapp, das bibliothekarisches Personal haftbar gemacht hätte, wenn den Beschwerden von Kund*innenseite aus nicht nachgegangen worden wäre.

Steigende Zahlen von Zensuranträgen

Ein bedenklicher Trend, der sich auch mit Zahlen untermauern lässt. So belief sich die Zahl zur Löschung angemahnter Bücher laut Zählung der American Library Association (ALA) im Jahr 2021 auf 330 Löschanträge, die überwiegend von Elternseite aus eingebracht wurden (und deren Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte, da viele der Löschanträge gar nicht erfasst wurden).

Im vergangenen Jahr betrug die Zahl von Zensuranträgen bereits 1269, die sich insgesamt auf 2571 Titel erstreckten, Tendenz steigend. Das lässt für das Jahr 2023 wenig Gutes hoffen, ebenso wie die Tatsache, dass es für Politiker*innen bereits als Wahlkampfmittel opportun zu sein scheint, ganz offensiv mit der möglichen Schließung von unbliebsame Bibliotheken im Falle eines politischen Erfolgs zu drohen.

Im Fadenkreuz der Bücherkämpfer (die wohl selbst eine kleine Minderheit darstellen, aber im lautstarken Verbund eine erschreckend effiziente Einheit bilden) stehen überwiegend Bücher aus dem LGBTQ-Spektrum, die der gewünschten heteronormativen Norm und Form zuwiderlaufen. Aber auch Wissenschaft beispielsweise in Form der Evolutionslehre oder Schwarzer Geschichte hat es zunehmend schwerer in den Buchregalen des Landes.

Das sorgt mittlerweile für solche bedenklichen Auswüchse, dass sogar das eigentlich einheitsstiftende Poem The hill we climb der im Zuge der Inauguration Joe Bidens zu Bekanntheit gelangten Dichterin Amanda Gorman in Florida zur Zensur vorgeschlagen wurde. Der Vorwurf: Rassismus.

Studierende in den USA demonstrieren gegen Book bans an Bibliotheken.
Protest gegen Buchbann in den USA

Kann man über solch absurde Vorwürfe wie auch die Uninformiertheit der Möchtegern-Zensoren lachen (die den Gedichtband in ihrem Beschwerdeantrag kurzerhand der schwarzen Talkmasterin Oprah Winfrey anstelle von Amanda Gorman zuschrieben), so vergeht einem doch das Lachen, wenn man sieht, dass derartige Anträge Erfolg haben und Gormans Buch aus vielen Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt wurde.

Importierte Kulturkämpfe

Nun sind die USA bekanntermaßen natürlich nicht Deutschland. Angesichts der Begeisterung vieler politischer Akteure, US-amerikanische Kulturkämpfe auch hierzulande zu importieren und etablieren, kann ich aber nur davor warnen, sich auf diesen Kampf gegen die freiheitlich-demokratisch-fortschrittliche Gesinnung von Bibliotheken einzulassen.

Erste warnende Beispiele gab es in diesem Jahr ja bereits etwa mit der im Juni geplanten Kinderbuchlesung mit Drag-Künstler*innen, die die Münchner Stadtbibliothek anbot. Wenig war da von der liberalitas bavariae zu spüren, sondern nur ein erhitztes Debattenklima, das sich in einem veritablen Sturm der Entrüstung, Demonstrationen und Drohungen gegenüber der Bibliothek äußerte.

Man kann nur hoffen, dass diese mit viel medialem Getöse begleitete Kampagne gegen Bibliotheken und ihr Eintreten für eine offene und pluralistische Gesellschaft eine negative Ausnahme war, die sich so schnell nicht mehr wiederholt. Ein Blick nach Amerika straft diese Hoffnungen allerdings Lügen. Was bleibt also, wenn wir auf das kommende Jahr blicken?

Gehen wir nicht versöhnt in die Nacht und den Beginn des kommenden Jahres, ganz wie Dylan Thomas es fordert. Kämpfen wir gegen die mögliche Verdunklung einer aufgeklärten Welt. Bleiben wir wachsam, stärken Bibliotheken mit einem Eintreten für ihre informatorische Arbeit und wehren aller Anfänge, ihre Arbeit und das dahinterstehende Weltbild einer offenen Gesellschaft infrage zu stellen. Beziehen wir Position, hinterfragen wir plumpe Zensur-Vorwürfe, stellen Meinungen Fakten entgegen und sorgen für eine Versachlichung der Debatten und leisten damit auch öffentlich das, wofür Bibliotheken seit jeher eintreten. Die Gesellschaft braucht es dringender denn je!


[Disclaimer: die im Artikel zum Ausdruck kommende Meinung ist meine Privatmeinung, die in keinerlei Zusammenhang mit meiner beruflichen Arbeit steht.]

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Das Literarische Quartett und ich

Warum nicht selber einmal Literarisches Quartett spielen? Vor zwei Wochen war es soweit und ich durfte im Rahmen der Frankfurter Buchmesse an einer besonderen Ausgabe des Quartetts mit Gastgeberin Thea Dorn teilnehmen. Was ich dabei so erlebt habe:


Es war ein Aufruf auf der Internetseite des Literarischen Quartetts, den ich zufällig beim Surfen entdeckte und der mich neugierig machte. Dort wurde dazu aufgerufen, sich beim ZDF zu melden, wenn man als Zuschauer selbst einmal beim Literarischen Quartett mitmachen möchte. Neben aufgezeichneter Sonderausgaben wie dem U21-Quartett gab es schon auf der vergangenen Buchmesse in Leipzig zwei solcher Runden, einmal mit Zuschauer*innen und einmal mit Buchhändler*innen, die in der Glashalle mit Gastgeberin Thea Dorn über diverse Neuerscheinungen diskutieren durfen.

Nun also das Ganze in Frankfurt, wohin ich mich sowieso begeben hätte. Die Bewerbung ans ZDF sollte man gleich mit einem Titel flankieren, über den man gerne auf der Bühne diskutieren wollte. Zur Auswahl standen die Bücher der beiden letzten Ausgaben des Literarischen Quartetts, von denen ich mir Damenopfer von Steffen Kopetzky zum Wunschbuch erwählte (damals vorgestellt von Cara Platte aus der U21-Ausgabe, die mit Adam Soboczynski, Juli Zeh und Gastgeberin Thea Dorn über das Buch diskutierte).

Auf der Bühne in Frankfurt

Pass für die Literaturbühne des Literarischen Quartetts
Pass für den Auftritt auf der Literaturbühne in Frankfurt

Zwei Anrufe und eine Mail später herrschte Gewissheit: ich darf in Frankfurt als literaturkritischer Laie mit auf der Bühne diskutieren. Das Ganze war war allerdings noch mit einer Umentscheidung verbunden, da mir nun vonseiten der Redaktion die Titel V13 von Emmanuel Carrère oder Vaters Meer von Deniz Utlu zur Auswahl gestellt wurden, die ich zwei Wochen später in Frankfurt präsentieren sollte. Unbesehen entschied ich mich für Utlu, bei dem mich die auseinanderklaffende Kritik reizte, die das Buch seit dem Vortrag eines Textausschnitts bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur erfuhr. Dort fiel der Text in weiten Teilen der Jury durch, nach Veröffentlichung des Buchs mehrten sich aber die lobenden Stimmen, gar eine Nominierung für den Bayerischen Buchpreis heimste das Buch ein. In meinen Augen also gutes Diskussionsmaterial, weshalb ich mich blind für Utlus Text entschied.

Spannend blieb auch die Frage der Mitdiskutierenden. Außer der Auswahl der weiteren Bücher (Sinkende Sterne von Thomas Hettche und Gittersee von Charlotte Gneuß) und der Mitteilungen von Zeit und Ort, an denen ich mich vor der gemeinsamen Bühne von ARD, ZDF und 3sat einzufinden hatte, gab es keine Informationen. Bewusst hatte ich im Vorfeld darauf verzichtet, mir die Diskussionen zu den drei Titeln in den regulären Ausgaben des Literarischen Quartetts zu Gemüte zu führen, um möglichst unvoreingenommen und frei von Argumentationsfiguren oder Fremdinterpretationen in die Diskussion zu gehen.

Diskussion unter Zeitdruck

Gespannt traf ich also Freitag Nachmittag vor Ort im Foyer der Buchmesse ein, wo es dann in die Maske ging und ich anschließend Gastgeberin Thea Dorn und die weiteren Mitstreitenden kennenlernte. Ich durfte die Bühne mit der Wuppertaler Deutschlehrerin und Aron Broks teilen, der neben seinen Texten für die taz jüngst auch mit seinem Buch Nackt in der DDR – Mein Großvater Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat reüssierte. Nachdem die Reihenfolge der Titel festgelegt wurde und die Zeit für die Diskussion zunehmend schrumpfte (schließlich musste auf der Bühne passgenau an den nächstfolgenden Gesprächspart inklusive Umbau übergeben werden), konnte es dann losgehen.

Wir stürzten uns in die Diskussion zu den drei Werken und waren uns mal weniger einig (im Fall Thomas Hettches), mal gab es einen größeren Konsens (wie im Falle von Charlotte Gneuß). Auch die Diskussion zu meinem an letzter Stelle vorgestellten Patenbuch von Deniz Utlu arbeitete interessante Aspekte heraus und stand für eine reizvolle Diskussion, die Thea Dorn gut zu steuern wusste. Natürlich war die gnadenlos herabzählende Zeit definitiv zu kurz, um vertiefend in Debatten einzusteigen und verschiedene Aspekte an den Büchern eingehender zu beleuchten – einen großen Spaß hat es aber trotzdem gemacht, mit meinen beiden Mitdiskutant*innen und Thea Dorn als Moderation zu streiten und für die Titel zu werben.

Was bleibt?

Die Diskutant*innen, leider ohne Aron Broks

Was bleibt von dem Abend im Foyer auf der Buchmesse? Leider keine bleibende Erinnerung außer ein paar Fotos im Backstage und einem gemeinsamen Eintrag in das Frontispiz unsere Diskussionstitel – denn diese Ausgabe des Literarischen Quartetts wurde vom ZDF zwar professionell gefilmt und übertragen, aber eben nicht archiviert und ist damit leider nicht nachschaubar. Das ist wirklich schade, war das Diskussionsniveau für mein Empfinden doch durchaus vorzeigbar und stand hinter manch anderer regulären Ausgabe des Quartetts nicht nennenswert zurück.

Was ich aber für mich mitnehme, ist die Erkenntnis, wie viel Spaß mir es macht, coram publico über Bücher, Bewertungen, literarische Motive und subjektive Leseeindrücke zu diskutieren. Sollte sich die Möglichkeit ergeben – ich wäre auf alle Fälle gerne wieder mit von der Partie!


Bildquelle Titelbild: Lichtbildforum.de

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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2023

Zu den Traditionen auf diesem Blog zählt schon seit einigen Jahren das Tippen möglicher Titel, die es auf die Nominierungsliste des Deutschen Buchpreises geschafft haben. So auch dieses Jahr, in dem wieder das Deutscher Buchpreis-Lotto wage. So sind es folgende Bücher, denen ich Chancen ausrechne, dass sie die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 vielleicht berücksichtigt.

Dabei ist es nicht unbedingt eine Liste mit Lieblingsbüchern, einige der Titel würde ich in meine persönliche Auswahl zum Buch des Jahres nicht unbedingt aufnehmen. Aber wie das bei einem Lotto so ist – eine abgewogene Mischung aus Intuition und Vermutung ergibt diese Liste, die eine ziemliche ziemliche Österreich-Lastigkeit aufweist und auf der sich viele Titel rund um die boomenden Themen der Mutter- und Vaterschaft drehen. Auch Climate Fiction, migrantische Erfahrung und historische Rückschau dürfen hier natürlich nicht fehlen. Alles spekulativ wie immer, aber das ist ja seit jeher integraler Bestanddteil dieses Buchpreis-Lottos. Nun Vorhang auf für meinen literarischen Tippschein:

Und hier noch einmal die Bücher in einer Titelliste. Bereits auf dem Blog vorhandene Besprechungen sind hervorgehoben, unverlinkte Titel erscheinen in den nächsten Tagen noch ausführlicher hier auf dem Blog.

Gibt es Bücher, die für euch gesetzt sind oder die ihr euch auf der Longlist wünscht? Schreibt es gerne in die Kommentare – ich bin gespannt!

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Meine besten Bücher 2022

Viel habe ich auch im vergangenen Jahr gelesen und auch viel besprochen. Über 100 Rezensionen sind neben Meinungsstücken, Vorschauberichten und Co. zusammengekommen. Dabei ist dieses Jahr zum ersten Mal ein Schwerpunkt bei den weiblichen Erzählerinnen, von denen ich mehr Bücher besprochen habe denn von männlichen Autoren. Dass dabei viele Highlights darunter waren, die dementsprechend auch die Liste dominieren, das sollte nicht überraschen. Besonders konnten mich in diesem Jahr auch die Verlage Ullstein und Hanser mit ihrem Programm überzeugen. Auch das schlägt sich in der Auswahl nieder.

In der Rückschau sind es die folgenden sechzehn Bücher, die ich zu meinen persönlichen Highlights des Jahres zähle und dementsprechend noch einmal kurz würdigen möchte. Bücher, die über die Lektüre und weit darüber hinaus in meinem Kopf blieben und denen eine Qualität innewohnt, die sie auch über kurzlebige Trends erhebt und von denen ich mir sicherlich den ein oder anderen Titel auch ein zweites Mal vornehmen werde.

Ausführliche Besprechungen und bibliographische Daten finden sich wie immer nach einem Klick auf die entsprechenden Cover. Nun hier also mein literarisches Best of des Jahres 2022:

Percival Everett – Erschütterung

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Dieses Buch habe ich gleich zu Beginn des Jahres gelesen – und es ist bei mir in Gedanken geblieben, bis zum Ende des Jahres. Percival Everett gelingt es in Erschütterung, die Geschichte des Universitätsprofessors Zach Wells mitreißend zu erzählen, obwohl dessen Lebenswelt und Schicksal so gar nichts Mitreißendes an sich hat. Wie er diesen Zach Wells zeigt, der sämtlichen Halt im Leben verliert, das ist große Kunst. Dabei verschmilzt Everett Themen wie Migration, Campusroman und Krankheitsgeschichte miteinander. Was freue ich mich schon auf den neuen Roman von Everett, der schon bald abermals bei Hanser erscheinen wird!

Annika Büsing – Nordstadt

Mit Nordstadt hat Annika Büsing den Trend des Schwimmbad-Romans losgetreten, der im kommenden Jahr viele Nachahmer finden wird. Bei ihr ist das Hallenbad der Handlungsort, in dem die Bademeisterin Nene ihren Dienst versieht und auf Boris trifft. Zwischen den beiden Außenseitern aus prekären Verhältnissen entspinnt sich eine widerborstige Romanze. Stilistisch toll erzählt und in meinen Augen auch eine hervorragende Klassenlektüre für gehobene Klassenstufen.

Natalie Buchholz – Unser Glück

Welchen Preis sind wir bereit, für unser Wohnglück zu zahlen? Diese Frage verhandelt Natalie Buchholz in ihrem neuen Roman Unser Glück, indem sie eine Münchener Kleinfamilie in den Mittelpunkt stellt, die eine bezahlbare Traumimmobilie gefunden hat, noch dazu in Schwabing. Wenn da nur nicht der Haken mit dem anderen, undurchsichtigen Untermieter wäre, der sich ein Zimmer in ihrer Immobilie ausbedungen hat…

Anna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Immer wieder kommt es zu ganz unwahrscheinlichen Schwerpunkten in verschiedenen Büchern einer Saison – so auch bei Anna Bervoets‘ Roman, der ebenso wie Berit Glanz in Automaton den Alltag einer Content-Moderatorin in den Mittelpunkt stellt und dabei eindringlich spürbar macht, wie die Seele bei dieser Art von Arbeit Schade nimmt

Lauren Groff – Matrix

Ein Utopie weiblicher Selbstverwaltung und Autarkie, angesiedelt im Mittelalter. In Matrix erzählt Lauren Groff die Geschichte der Äbtissin Marie de France, die als illegitimer Königsspross von ihrer Schwester, Eleanore von Aquitanien, dem Thron möglichst weit fortgehalten werden soll – und so ein Kloster zu unbekannter Blüte führt. Hier trifft historischer Roman auf Science Fiction, großartig erzählt und gestaltet.

Fatma Aydemir – Dschinns

Völlig überladen und überfrachtet, und zugleich doch so gut, so relevant und wichtig, dieser Roman von Fatma Aydemir. Als Stellvertreterfiguren erzählt sie von den vier Kindern Hüseyins, die sich nach dem Tod des Famileinvaters aufmachen zu dessen Beerdigung und dabei alle möglichen Probleme im Gepäck haben. Auch die Mutter kommt zu Wort. So bekommt man ein ganzes Panorama von Migrantenschicksalen der ersten und zweiten Generation zu lesen. Beeindruckend!

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Ein meisterlicher Weihnachtsroman, gespeist aus Dicken’schem Geist, und das als Lektüre im Sommer? Unbedingt empfehlenswert! Während draußen die Temperaturen neue Höchststände erreichten, las ich Claire Keegans kleinen, aber schwergewichtigen Roman, der an den Weihnachtstagen in einem von Armut geprägten Irland des Jahres 1985 spielt und der trotzdem von Hoffnung und Mut kündet – und der ein Loblied auf den Mut des Einzelnen singt.

Melinda Cowley – Heller – Der Papierpalast

Für mich der perfekte Sommerroman. Warum? Weil er nicht sonnenhell und kitschig ist, sondern auch die von den Schattenseiten des Lebens erzählt. Untreue, Begehren und Lebenslügen sind Thema in diesem Roman, der um die 50-jährige Elle Bishop kreist und in dem Melinda Cowley-Heller zeigt, dass sich die Sommeridylle dort im sogenannten Papierpalast an der Küste Neuenglands als erstaunlich brüchig erweisen kann. 

Eckart Nickel – Spitzweg

Kunstvolles Parlando, konsequentes l’art pour l’art, das ist Spitzweg von Eckart Nickel, eine ebenso knallige wie stilbewusste Dreiecksgeschichte dreier Schulfreund*innen, bei der die Kritik eines Kunstwerks in der Schule einen wilden, geradezu anachronistischen Reigen aus Ereignissen auslöst. Nicht zuletzt auch äußerlich ein wahres Kunstwerk, dessen inhaltliches Gewicht man besser nicht hinterfragen sollte, sondern sich eher auf die Schauwerte einlassen sollte.

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Dieses Buch ist für mich die Definition eines guten Schmökers. Denn das Buch vereint das Doppelporträt einer jungen, skandamumwitterten Schauspielerin und einer unbeugsamen Pilotin, deren ungeklärtes Schicksal Ausgangspunkt einer Verfilmung ist, in der die Schauspielerin jene Pilotin verkörpern soll. Unterhaltung mit Anspruch, ein großartiges Erzähltalent – und viele hunderte Seiten, um darin zu versinken!

Eberhard Seidel – Döner

Zugegeben, ich bin kein großer Freund des Döners. Zu mächtig, olfaktorisch zu belastend, gerade in Mittagspausen – meine Vorbehalte gegen diese Speise waren nicht gerade klein. Und dennoch gelingt Eberhard Seidel  ein Buch, das mich über die Maßen begeistert hat, verknüpft er doch die Kulturgeschichte des Döners mit der der Migration und erzählt von den Ausgrenzungen und tödlichen Gefahren, die ebenfalls mit dem Döner assoziiert werden.

Amor Towles – Lincoln Highway

Zwei Jungen auf der Suche nach ihrer Mutter, der legendäre Lincoln Highway als Reiseroute – und dennoch entwickelt sich alles anders als geplant in Amor Towles‘ neuem Roman, der einem wilden Roadtrip gleicht, den sich Mark Twain und Jules Verne zusammen ausgedachte haben könnten. Ein Buch von alter amerikanischer Romanschule und dabei stets unvorhersehbar. Tolle Unterhaltung!

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Ich habe ja bekanntlich eine Schwäche für gut gemachte politische Romane. Und auch Lucy Frickes neues Werk fällt in diese Kategorie. Ihr gelingt das Kunststück, ebenso mitreißend, wie lustig, berührend und gesellschaftlich relevant von der Diplomatin Fred zu erzählen, die von einem Einsatz in Südamerika bis zu einer Botschaftsposition in der Türkei die ganze Ohnmacht unserer demokratischen Handlungsweisen zu spüren bekommt.

Deb Colin Unferth – Happy Green Family

Politisch im weiteren Sinne ist auch Deb Colin Unferths großartiger Roman Happy Green Family, der von einer waghalsigen Rettungsaktion erzählt. Ein einzelnes Huhn ist dabei der Auslöser, der zu einer ganzen Lawine aus Chaos und Gefahr führt. Denn drei ganz unterschiedliche Figuren sagen hier der industriellen Hühnerzucht und Eierproduktion den Kampf an und wollen eine bessere Welt. Ob das funktionieren kann?

Négar Djavadi – Die Arena

Wie würden eigentlich Victor Hugo oder Honoré de Balzac von Paris schreiben, wenn sie in diesen Tagen leben würden? Vermutlich genau so, wie das Négar Djavadi in Die Arena tut. Sie erzählt von Politiker*innen, einem Spindoktor, Polizist*innen und jugendlichen Gangs, die in dieser Arena namens Paris aufeinandertreffen – mit explosiven Folgen.

Gabriele Riedle – In Wüsten. In Dschungeln. Im Krieg.

Hätte es die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nicht gegeben, wäre mir dieses Buch wirklich entgangen, obwohl ich es schon dienstlich für meine Bibliothek erworben hatte. So habe ich nun dank der Nominierung ein sprachlich anspruchsvolles und im besten Sinne welthaltige Buch entdeckt, das ebenso vom Newsdruck wie auch vom Seelenleben einer Kriegsreporterin erzählt. Vor allem ist das Buch ein Dokument von der Unrast unserer Tage.

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