Category Archives: Verschiedenes

Meine besten Bücher 2024

Schnell ging dieses Jahr zu Ende – und auch wenn die weltpolitische Lage von zerbrochener Regierung hierzulande über die Wiederwahl Donald Trumps in den USA bis hin zum gescheiterten Klimagipfel in Baku nur wenig Hoffnungsstiftendes hervorzubringen wusste, so ist doch wenigstens literarisch gesehen dieses Jahr wieder ein höchst vielfältiges und bereicherndes gewesen.

Reinen Eskapismus sollte man dabei allerdings nicht betreiben, denn auch der Buchbranche geht es nicht gut. Schlagzeilen über renommierte Häuser wie den Suhrkamp-Verlag, der einen neuen Eigner bekam, um wieder in sichereres ökonomisches Fahrwasser zu gelangen, weiter schrumpfender mediale Berichterstattung über die Kultur und das Aus von etablierten Fernsehsendungen wie Lesenswert (und damit auch verbunden das Versanden von Debatten über Literatur) dazu noch schrumpfende Kulturetats und damit auch weniger Geld für die wichtige Arbeit von Bibliotheken und Co. – all das lässt nicht unbedingt zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Dennoch will ich mich auch 2025 weiterhin bemühen, so gut ich das neben meiner eigentlichen Arbeit schaffe, hier auf dem Blog der Literatur ein Schaufenster zu geben, auch wenn ich an den Abrufzahlen merke, dass hier ebenfalls das Interesse an der vorgestellten Literatur merklich schrumpft.

Dass sich meine Versuche dennoch eines gewissen Interesses in Form von knapp eintausend Abonnentinnen und Abonnenten erfreuen, motiviert mich weiterhin, dieses Projekt hier nicht einzustellen.

Nach diesen Präliminarien aber nun Vorhang auf für das, um das es anstelle von mir wirklich gehen soll, nämlich die Literatur in Form von diesjährig erschienenen Titel, die für mich ganz besonders herausgeragt haben. Der Klick auf die Cover führt zu den ausführlichen Besprechungen.

Paul Murray – Der Stich der Biene

Paul Murray - Der Stich der Biene (Vorschaubild)

Will man noch einmal eine voluminöse Familiengeschichte lesen, die das Tolstoi’sche Diktum der Familien, die alle auf ihre eigene Art traurig sind, bestätigt? Unbedingt, wenn der Autor dieser Geschichte Paul Murray heißt. Denn er erzählt in Der Stich der Biene literarisch markant von den vier Mitgliedern der Familie Barnes, die im Laufe des Romans höchst lesenswert auseinanderdriften bis hin zur Frage, ob das wirklich noch eine Familie ist, die hier im Mittelpunkt steht.

Nathan Hill – Wellness

Nathan Hill - Wellness (Cover)

Von der ganzen Familie reduziert Nathan Hill in seinem zweiten Streich namens Wellness in seiner erzählerischen Grundkonstellation auf eine Paarbeziehung herunter. Der unterschiedliche Blick auf die Ehe und die Frage, wie eine gelungene Ehe im 21. Jahrhundert aussehen kann, dieser Frage geht der US-amerikanische Schriftsteller in seinem Roman nach, der neben dem genauen Blick auf die Figuren auch durch die stilistische Fülle an Erzählansätzen überzeugt.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Nicole Seifert - Einige Herren sagten etwas dazu (Cover)

Ilse Schneyder-Lengyel, Ruth Rehmann, Christine Koschel oder Elisabeth Plessen – nie gehört? Kein Wunder, wie Nicole Seifert in ihrem Sachbuch Einige Herren sagten etwas dazu zeigt. Denn obwohl sie alle auf den Tagungen der Gruppe 47 lasen, kennt heute kaum jemand ihre Namen. Warum das so ist, das führt die Literaturwissenschaftlerin Seifert in ihrem Buch sehr lesens- und bedenkenswert aus und zeigt, was uns durch die Marginalisierung dieser Autorinnen alles entgangen ist.

Lucy Fricke – Das Fest

Angesichts der Polykrisen unserer Zeit kann man schon einmal die Hoffnung verlieren. Wie schön, dass es da noch Lucy Fricke gibt. Mit ihrem unnachahmlichen Talent für Menschenzeichnungen macht sie einen Regisseur zu dessen 50. Geburtstag selbst zur Figur in einem von einer Freundin wohlorchestrierten Spiel. Diese bereitete ihm einen Fest-Tag, der eindrücklich unter Beweis stellt, dass es nie zu spät ist, sein Leben zum Guten zu ändern.

Ann Napolitano – Hallo, du Schöne

Ann Napolitano - Hallo du Schöne

Ein modernes Update des Klassikers von Little Women von Louisa May Alcott liefert die Autorin Ann Napolitano in ihrem Buch Hallo du Schöne. Sie erzählt darin von und den vielfältigen Herausforderungen, die das Leben für die vier Töchter einer Chicagoer Familie im 21. Jahrhundert bereithält. Was hält eine Familie im Inneren zusammen? Wie tief kann Verbundenheit reichen und wann stößt sie an Grenzen? Das erkundet Ann Napolitano mit ihren Little Women aus Chicago gelungen.

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Uwe Wittstock - Marseille 1940 (Vorschaubild)

Was Flucht eigentlich bedeutet und welchen Einsatz es Fluchthelfer und Flüchtende abverlangte, ihre Leben zu retten, das zeigt Uwe Wittstock in seinem erzählenden Sachbuch Marseille 1940 eindrücklich. Mit Sinn für Komposition und Rasanz schildert er die Schicksale von Franz Werfel, Anna Seghers, Klaus Mann und vielen anderen, deren Fluchtrouten größten teils in Marseille kulminierten – und an deren Rettung ein Mann entscheidend beteiligt war: Varian Fry

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner

Der Wolf kommt – oder sind es eigentlich nicht fremde Menschen, die die dort in der Lüneburger Heide auf Ablehnung stoßen? Markus Thielemann hat einen eminent politischen Roman geschrieben, der die bäuerliche Lebenswelt auf dem Land ebenso beleuchtet wie völkisches Siedlungsdenken. Für mich persönlich mein Favorit auf den Gewinn des Deutschen Buchpreises 2024, der dann aber an Martina Hefter ging. Auch in Ordnung, aber dieser literarische Donner, er grummelt immer noch nach.

Samantha Harvey – Umlaufbahnen

Samantha Harvey - Umlaufbahnen (Vorschaubild)

Eine schwerelos schwebende Erzählstimme, die die Astronaut*innen an Bord einer Raumstation begleitet und der es gelingt, fast immersiv das Leben in der Schwerelosigkeit und die doch unentrinnbare Erdanziehungskraft dort oben zu beschreiben. Dieses Kunststück vollführt Samantha Harvey in Umlaufbahnen, die es damit nicht nur zum Gewinn des Booker Prizes, sondern auch zu einem Platz hier in der Liste geschafft hat.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road

Andrew O'Hagan - Caledonian Road (Vorschaubild)

Mein Favorit des Jahres, der alles das mitbringt, was ich zu schätzen weiß: ein großer Schmöker, vielschichtiges Romanpersonal von Lords bis zu Möchtegern-Gangstern, dazu der über ein Jahr beschriebene Niedergang eines Public Intellectual, der auch als Niedergang des Britischen Weltreichs gelesen werden kann. Das alles bietet Andrew O’Hagan in seinem famosen Roman Caledonian Road, der mich diesen Sommer wunderbar unterhalten hat und mit dem der britische Autor auf den Spuren großer englischer Gesellschaftsromane wandelt.

Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Rom, die Sehnsuchtsstadt, aber auch als Grund für Verzweiflung und das Mittel der Ironie als letzter Rettungsweg: Ihn beschreitet Golo Maurer in seinem ebenso komischen wie liebevollen Blick auf die ewige Stadt. Müll, nicht erscheinende Busse und dann auch noch Klobrillen, die sich allen Fixierungsversuchen verwehren. Das sind Themen, die den Kunsthistoriker und Bibliothekar umtreiben – und mich grandios unterhielten und dem Abgleich mit der römischen Realität im Sommerurlaub standhielten.

Daniel Mason – Oben in den Wäldern

Daniel Mason - Oben in den Wäldern (Vorschaubild)

Ein Grundstück in Massachusetts ist es, das im erzählerischen Mittelpunkt von Daniel Masons drittem und bislang besten Roman steht. Literarisch klug miteinander verzahnt kombiniert Mason Geschichten von der Zeit der Siedler bis in unsere Gegenwart hinein – und verpackt diese Geschichten in ganz unterschiedliche Stile, die von Übersetzer Cornelius Hartz gekonnt ins Deutsche übertragen werden. So entsteht Oben in den Wäldern ein literarischer Garten, der reiche Frucht bringt.

Maike Albath – Bitteres Blau

Maike Albath - Bitteres Blau (Vrschaubild)

Italien als Gastland der Buchmesse präsentierte sich bemerkenswert rückwärtsgewandt und verbannte die Bücher in eine kleine Kammer am Rande der großen Piazza. Wie staunenswert und präsentabel die Fülle an Stimmen und Themen eigentlich ist, das zeigt Maike Albath, indem sie in Bitteres Blau die neapolitanische Literaturszene in den Blick nimmt und durch diesen kleinen Ausschnitt auf das Große Ganze von der Mafia bis Elena Ferrante blickt.

Tana French – Feuerjagd

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Mit soziologisch scharfem Blick erzählt Tana French von dem, was ein kleines Dorf im irischen Hinterland zusammenhält. Doch lässt ein möglicher Goldrausch das komplizierte Gefüge aus Lügen, gegenseitiger Kontrolle und Misstrauen implodieren? Dem geht Tana French in ihrem Roman Feuerjagd nach und gönnt ihrer jugendlichen Heldin Trey und dem pensioneten Polizisten Cal einen zweiten Auftritt, diesmal im glutheißen Sommer, bei dem nicht nur die Sonne vom Himmel brennt.

Percival Everett – James

Percival Everett - James (Vorschaubild)

Welche Chancen in Neuinterpretationen bekannter Kunstwerke liegen, das stellt Percival Everett in James eindrücklich unter Beweis. James erzählt Mark Twains Klassiker Huckleberry Finn noch einmal – allerdings mit einem entscheidenden Kniff. Diesmal steht der Sklave Jim im Mittelpunkt, der von Percival Everett nicht nur seinen richtigen Namen James zurückerhält, sondern vor allem auch eine eigene Stimme. Mit dieser erzählt er uns eine Geschichte, die im Gedächtnis bleibt.

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde

Leo Vardiashvilis Roman Vor einem großen Walde ist eine hervorragende Einführung in ein Land, das in diesem Jahr die Schlagzeilen dominierte: Georgien. Dessen wechselvolle Geschichte und Zerrissenheit scheint in Vardiashvilis Roman auf, der zugleich von einer Schnitzeljagd auf den Spuren von Hänsel und Gretel erzählt. Nur gibt es hier nicht unbedingt eine Hexe, aber familiäre Geheimnisse, die entdeckt werden wollen.

Scott Preston – Über dem Tal

Ein Jahr, das mit Bauernprotesten begann, endet für mich auch mit einem enorm starken Text aus dem Agrarmilieu, genauer gesagt der Schafzucht. Das Leben von Schafzüchtern am Rande der Legalität ergründet Scott Preston in seinem Debüt Über dem Tal, das mit einer beeindruckenden Sprachmacht aufwartet (übersetzt von Bernhard Robben). Sein Cumbria ist in düstere Farben gepinselt, was das Buch umso eindringlicher macht. Eine echte Überraschung aus dem Nichts, die das Jahr literarisch wirklich enorm stark abgeschlossen hat!

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Vorschaufieber Frühjahr 2025

Nur mehr gut 30 Tage, bis das alte Jahr vergangen ist. Grund genug, eine Vorausschau auf die kommenden Bücher zu wagen, auf die ich mich im Frühjahr des kommenden Jahres besonders freue.

Wie immer ist eine handverlesene Auswahl entstanden, die große und kleine Häuser, internationale wie nationale Stimmen und Genres in sich vereint. Hinter den Covern verbergen sich weiterführende Infos zu den Büchern auf den entsprechenden Verlagsseiten. Ein Klick genügt!

Vielleicht ist ja auch für euch der ein oder andere Titel dabei, auf den ihr euch freut. Lasst es mich gerne wissen!

National

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung (Hanser). Tommy Goerz – Im Schnee (Piper). Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin (Klett-Cotta). Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg). Steffen Schröder – Der ewige Tanz (Rowohlt).

Steffen KopetzkyAtom (Rowohlt). Burkhard Spinnen, Charles Wolkenstein – Erdrutsch (Kanon). Antje Rávik Strubel – Der Einfluss der Fasane (S. Fischer). Arno Frank – Ginsterburg (Klett Cotta). David Finck – Der Schwindel (Piper).

Annegret Liepold – Unter Grund (Blessing). Ricarda Messner – Wo der Name wohnt (Suhrkamp). Katharina Köller – Wild Wuchern (Penguin). Rebekka Frank – Stromlinien (S. Fischer). Annett Gröschner – Schwebende Lasten (C. H. Beck).

International

Charlotte McConaghyDie Rettung (aus dem Englischen von Jan Schönherr, S. Fischer). Cristina Henriquez – Der große Riss (aus dem Englischen von Maximilian Murrmann, Hanser). Rachel Kushner – See der Schöpfung (aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Rowohlt). Jente Posthuma – Woran ich lieber nicht denke (aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, Luchterhand). Niall Williams – Das ist Glück (aus dem Englischen von Tanja Handels, Ullstein).

Susan Barker – Old Soul (aus dem Englischen von Volker Oldenburg, Suhrkamp nova). Taffy Brodesser-Akner – Die Fletchers von Long Island (aus dem Englischen von Sophie Zeitz, Eichborn). William Boyd – Brennender Mond (aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, Kampa), Tan Twan Eng – Das Haus der Türen (aus dem Englischen von Michaela Grabinger, Dumont). Yael van der Wouden – In ihrem Haus (aus dem Englischen von Stefanie Ochel, Gutkind).

Aurélien Bellanger – Die letzten Tage der Linken (aus dem Französischen von Frank Weigand, Claassen). Gabriela Wiener – Unentdeckt (aus dem Spanischen von Friederike von Criegern, kanon). Colum McCann – Twist (aus dem Englischen von Thomas Überhoff, Rowohlt). Nenad Veličković – Nachtgäste (aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak, Jung und Jung). Jean-Baptiste del Amo – Der Menschensohn (aus dem Französischen von Karin Uttendörfer, Matthes und Seitz).

Liz Moore – Der Gott des Waldes (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, C. H. Beck). Lai Wen – Himmlischer Frieden (aus dem Englischen von Judith Schwaab, Claassen) María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier (aus dem Spanischen von Peter Kultzen, Unionsverlag). Hugo Lindenberg – Die imaginäre Nacht (aus dem Französischen von Lena Müller, Edition Nautilus). Emma Pattee – Auf der Kippe (aus dem Englischen von Stefanie Jacobs, Piper).

Alan Murrin – Cost Road (aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, dtv). Camilla Barnes – Keine Kleinigkeit (aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Piper). Angie Kim – Happiness Falls (aus dem Englischen von Wibke Kuhn, hanserblau). Amanda Peters – Beeren pflücken (aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit). Essie Chambers – Swift River (aus dem Englischen von Simone Jakob, Eichborn).

Krimi

Andreas Storm – Die Victoria Verschwörung (Kiepenheuer Witsch). Eli Cranor – Ozark Dogs (aus dem Englischen von Cornelius Hartz, Atrium). Samuel W. Gailey – Tiefer Winter (aus dem Englischen von Andrea Stumpf, Polar Verlag). Louise Doughty – Deckname: Bird (aus dem Englischen von Astrid Arz, Suhrkamp). Nicolás Ferraro – Ámbar (aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, Pendragon).

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Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2024

Morgen in einem Monat ist es schon wieder soweit und die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 erscheint. Auch dieses Jahr beteilige ich mich wieder an der wilden Spekulation zum Thema Deutscher Buchpreis. Wie immer versammele ich 20 Bücher, denen ich einen Platz auf der Longlist zutraue.

Nachdem ich meinem Versuch im letzten Jahr, hoffe ich diesmal, meine Tippquote weiterhin stabil zu halten. Etwas schwer getan habe ich mich dieses Jahr tatsächlich, preiswürdige Titel auszumachen. Zumindest bislang war für meinen Geschmack in diesem Lesejahr noch nicht allzu vieles dabei, das sich auf den ersten Blick für eine solche Liste prädestiniert wäre. Und auch unabhängige Verlage fehlen in der Aufstellung in erheblichem Maße. Entschieden habe ich mich für viele höchst gegenwärtige Romane, die inmitten unsere Gegenwart zielen.

Was dann die finale Auswahl aber tatsächlich ausfallen wird – und ob die Jury alle Erwartungen und Vorhersagen unterläuft, das wissen wir erst am 20. August um 10:00 Uhr. Dann nämlich erscheint die diesjährige Longlist zum Deutschen Buchpreis. Bis hierhin meine Tipps:


Was sind eure Tipps? Was könnte sich auf der Liste finden?

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Die tote Debatte

Der Buchbranche und der Leserschaft geht es nicht schlecht – wenn man sich auf den boomenden Bereich des Genres New Adult kapriziert. Fans stehen auf Messen Schlange für Selfies mit Autorinnen, signierte Bücher und besondere Ausstattungen. Farbschnitte werden heiß diskutiert und alleine in der Woche, in der ich diese Zeilen schreibe, stammen sechs der Titel der Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste Paperback aus dem Hause Lyx.

Solcher Absatz weckt natürlich auch Begehrlichkeiten. Sogar eine Marke wie Gräfe und Unzer wagt angesichts solcher Erfolgsmeldungen jüngsten Nachrichten zufolge den Sprung ins Tummelbecken des New Adult-Segments. Man wolle „psychologische Expertise“ mit belletristischer Handlung verschmelzen, um zum Genre so „hochrelevante neue Aspekte“ beizutragen, lässt sich die Vertreterin des Verlags zitieren. Dass trotz solcherlei Stanze eigentlich ökonomische Interessen angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs solcher Genretitel im Vordergrund stehen, darf nicht ausgeschlossen werden.

Doch was passiert eigentlich außerhalb dieser Erfolgssparte? Wenig Hoffnungsstiftendes. Denn obschon die steigenden Preise die Verluste auf dem Buchmarkt etwas ausgleichen können, sinkt doch die Zahl der Buchkäufer und scheinen die Verlage rat- und ideenlos. Und noch trostloser sieht es beim Thema des Sprechens über die Bücher selbst aus.

Denn nicht nur die professionelle Kritik und ihre Institutionen steht unter Druck, auch das Sprechen über Bücher im digitalen Raum durch Leserinnen und Leser selbst verödet zunehmend. Ist die digitale Literaturdebatte gar schon tot?

Elon Musk ist schuld

Blickt man auf die Gründe, warum die Literaturdebatte im digitalen Raum so verkümmert ist, könnte man es sich natürlich einfach machen, indem man auf den Mann zeigt, der schuld ist: Elon Musk.

Mit seiner Übernahme und anschließenden Abwirtschaftung des früheren Debattenraums Twitters hin zu X hat er für eine konsequenze Verödung des Mediums gesorgt. Eine Ausdünnung der Moderation ging mit dem beschönigend unter dem wolkigen Begriff der „Free Speech“ subsummierten Einlass radikaler, zumeist rechter Kräfte einher. Blaue Haken, früher ein Zeichen von Verifizierung und wenigstens einer Art von Relevanz, sind zur Ramschware verkommen. Reichweiten stagnieren, rechte Positionen fluten die Plattform und so ist es kein Wunder, dass dies zu einer Abwanderung vieler interessanter Stimmen geführt hat.

Eine wirkliche alternative und ähnlich relevante Plattform hat sich zumindest in meinen Augen bislang nicht etablieren können. Der blaue Himmel alias Blue Sky bleibt in Sachen Reichweite weit hinter den Erwartungen zurück und auch Mastodon bekommt sein Image als sympathisches, aber doch sehr nischiges und spezielles Kommunikationsforum nicht wirklich los. Auch die von Instagram angebotene Kommunikationsplattform Threads konnte sich bislang noch nicht wirklich durchsetzen.

Die Verbindlichkeit eines belebten Marktplatzes der Meinungen und Stimmen, wie es Twitter zur besten Zeit war, hat auch – über ein Jahr nach dem Niedergang des Mediums – keine der als mögliche Nachfolger gehandelten Plattformen entwickeln können. Wirkliche Debatten entspinnen sich so kaum.

Die Probleme liegen tiefer

Aber die Probleme liegen tiefer, als alleine bei Elon Musk die Schuld zu suchen. So ist die Zersplitterung der Kommunikationsplattformen nur Ausdruck dessen, was der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren auf die griffige Formel der Gesellschaft der Singularitäten gebracht hat.

Alles differenziert sich aus, Menschen suchen sich vermehrt ihre Nischen, in denen sie ihren Interessen nachgehen, die auch Distinktion erlauben und in denen sie das Gefühl von Besonderheit verspüren. Die Bindungskraft des Gemeinsamen, sie verliert sich zunehmend. Das kann man gut finden, etwa wenn sich im Bereich der Literatur einer verbindender Kanon auflöst, sogar Goethes Faust nicht mehr Pflichtlektüre in Schulen ist und so eine größere Vielfalt an Stimmen und vorher Übergangenem womöglich Einzug hält.

Gleichzeitig birgt das Ganze natürlich auch eine Gefahr, wenn man sich nicht mehr auf Standards und gemeinsame Nenner einigen kann, alles irgendwie gleich wertig ist und sich frühere klare Richtschnüre in einem einzigen Knoten der Beliebigkeit verheddern. So geht nicht nur die Orientierung verloren, auch die Weitung der eigenen Perspektive wird auf diesem Weg nicht unbedingt einfacher.

Die Orientierung geht verloren

Was sich im Digitalen vollzieht, findet auch in kulturkritischen Öffentlichkeit seinen Abdruck. Formate, die früher Orientierung versprachen, sie sind zunehmend auf dem Rückzug, wenn sie nicht eh schon verschwunden sind. Rezensionsplätze schrumpfen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte Die Zeit nicht einmal mehr ihre traditionelle Beilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Radio scheinen sich Programmdirektionen durchzusetzen, für die Anspruch in der Programmgestaltung einer potentiellen Abschreckung der Hörenden gleichkommt, welche unbedingt vermieden werden soll (die vielfache Streichung von Formaten des Senders Bayern 2 im Frühjahr diesen Jahres zugunsten einer besseren „Durchhörbarkeit“ der Radiostrecken ist hier ein trauriges Beispiel).

Auch im Fernsehen ist die Literaturkritik und das Gespräch über Bücher auf dem Rückzug. Sprechendes Bild hierfür ist die eigene Verzwergung des einstigen Hochamts der Literaturkritik, nämlich des Literarischen Quartetts. Früher vielbeachtet, scheinen heute die Sendungen nicht nur unter Ausschluss des Publikums vor Ort alleine sitzend unter einer Lampe am Tisch stattzufinden. Relevanz und Anspruch gehen anders.

Dass nun auch noch jüngsten Pressemeldungen zufolge Denis Schecks Sendungen Lesenswert und das Lesenswert Quartett als Orte des Austauschs über Bücher und Schreiben aufgrund von Sparvorhaben des SWR zugunsten eines wie auch immer gearteten digitalen Angebots eingestellt werden, fügt sich traurigerweise in diesen Trend ein. Hätten die Öffentlich-Rechtlichen wenigstens ein Konzept für Literaturvermittlung und Kritik im Netz, das über einzelne Podcasts oder Videos hinausgeht, könnte man dies ja vielleicht noch irgendwie gutheißen.

Richtungsweisende Ideen fehlen

Aber richtungsweisende Ideen und Visionen, sie fehlen auch hier und zeigen, dass die Programmverantwortlichen ratlos vor der Fragestellunge einer angemessenen Literaturrepräsentation offline wie online stehen. Kürzungen oder Streichungen von etablierten Formaten gehen ihnen deutlich leichter von der Hand, als Antwort auf die von ihnen erzeugten Leerstellen zu geben.

All das bedauere ich umso mehr, weil eine Polyphonie an Stimmen und Meinungen ja auch den eigenen Blick auf die Lektüre schärft. Debatten und Streit fordern eine eigene Positionsbestimmung heraus, ermöglichen einen neuen Blick auf Gelesenes. Man muss alte Wertungsmaßstäbe überdenken, eventuell verschieben oder gar neu entwickeln. Durch den Austausch über das Gelesene werden neue Perspektiven möglich und man justiert den eigenen Blick auf Geschriebenes.

Aber wie soll das funktionieren, wenn Literatursendungen und Rezensionen zusammengestrichen werden, wenn sich die Teilnehmenden und Anstifter*innen solcher Debatten aus dem gemeinsamen Gespräch verabschieden und die Gesellschaft der Singularitäten sogar schon jenen Ort durchdrungen haben, der eigentlich in seiner Konzeption für eine Verbindung von alles und jedem stand, nämlich das Internet?

Das Netz trägt nicht mehr

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es an selbst an jenem Ort, der qua Grundgedanke und Konstruktion für Austausch, Wissenserweiterung und Kollaboration ausgelegt ist, nicht mehr so recht gelingt, solche fruchtbringenden Debatten zu führen.

Ermöglichte das Netz parallel zur etablierten und institutionalisierten Literaturkritik auch den Aufstieg der eigentlichen Zielgruppe der Literatur, nämlich den ganz normalen Lesenden, hin zu Kritikern, die auf verschiedenen Plattformen und Formaten Literaturvermittlung und -kritik für ihr Publikum anboten, so ist dieser Aufstieg der Laien-Literaturarbeit schon längst zum Erliegen gekommen.

Viele Blogger*innen, die sich speziell dem gehobenen Segment der Literatur verschrieben haben, haben ihre Blogs aufgegeben. Ermüdet von der zeitraubenden Arbeit, die bis heute gerne von der profesionellen Literaturkritik belächelt und als unliebsame Konkurrenz markiert wird, haben sie sich aus dem Diskurs zurückgezogen.

Der Output in Form von Postings und Dikussionsbeiträgen ist merklich geschrumpft. Viele der früheren Blogger und Bloggerinnen haben durch einen Job Zugang in die Buchbranche gefunden, sind nun Verlagsmitarbeitende oder Buchhändler*innen. Der Podcast als Gespräch zwischen zwei oder mehr Lesenden hat das digitale Schreiben über Bücher zugunsten des Sprechens in Teilen abgelöst. Reichweiten für Posts und Beiträge sinken. All das sorgt verbunden mit einer oftmals mangelnde Wertschätzung der kostenlosen und stundenintensiven digitalen Besprechungsarbeit für eine Verödung der literaturkritischen Arbeit durch Laien.

Kaum Widerhall und gähnende Leere

Wo früher von Interessierten erregt in Kommentarspalten und Meinungsbeiträgen über Buchpreislisten, Nominierungen, Titel oder Auswahlverfahren vom Bachmannpreis bis hin zum Deutschen Buchpreis gestritten wurde, herrscht heute weitestgehend Stille und gähnende Leere

Ein Symbol hierfür war für mich die Verkündung der Nominierungen des Preises der Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr.

Haben die Literaturpreise tendentiell eher im Herbst Saison, liegt das Feld großer Literaturpreise im Frühjahr hierzulande fast brach. Ein großer Preis wie der der Leipziger Buchmesse, immerhin gleich in drei Sparten vergeben, sollte da doch eigentlich aufhorchen lassen. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung horchte von den Leser*innen niemand recht auf, erst recht äußerte sich niemand vernehmlich. Im Netz fand der Preis kaum Widerhall. Kaum ein Leser dürfte die drei ausgezeichneten Titel noch aus dem Gedächtnis hersagen können, fanden die Bücher doch im digitalen Kulturraum fast überhaupt nicht statt.

Selbst wenn sich eine Debatte entzündet, sind es Äußerlichkeiten, mit denen sich die Debatten aufhalten und selten tiefer dringen. So war es in diesem Frühjahr wieder einmal die Zusammensetzungen der jüngst konstituierten Literaturjury des Deutschen Buchpreises, die auf Instagram die Gemüter erhitzte (oder zumindest lauwarm erwärmte).

Auch die letzte so zu nennende Debatte, die durch den Insiderberichts von Juliane Liebert und Ronya Othmann aus bzw. über der Jury des Internationalen Literaturpreis des HKW ausgelöst wurde, war hierfür symptomatisch. So ging es im Netz und in den Feuilletons um den von Liebert und Othmann erhobenen Vorwurf der außerliterarischen Kriterien bei der Entscheidungsfindung in Literaturjurys. Der damals ausgezeichnete Roman, das literarische Für und Wider der inkriminierten Titelauswahl, das alles aber fand in der Debatte nahezu nicht statt.

Blickerweiternd sind solche Debatten dann meistens auch nur in geringem Maße, versteifen sie sich doch auf äußere, denn inhaltliche Ästhetiken.

Mehr Debatte wagen!

Das ist bedauerlich, denn wir bräuchten mehr solcher blickerweiternden Debatten fernab von affirmativen Welten wie Instagram oder auf Sender-Empfänger-Modell ausgelegte Plattformen wie TikTok dringend (dass es in der boomenden Subsparte BookTok ausgerechnet wieder ein älterer Herr ist, der einen ebenso alten Kanon reproduziert, ist dabei mehr als nur eine Kuriosität für sich, die nicht nur die Bloggerin Katharina Herrmann kritisiert).

Mehr Debatte, mehr Streit, mehr Stimmen und mehr Tiefe in der Auseinandersetzung über Bücher und literarische Bewertung, das alles könnte den eigenen Blick, den gemeinschaftlichen Blick auf Literatur erweitern. Profitieren würde davon nicht nur das eigene Lesen – und weiter gefasst die Qualität der Literatur; auch die Verlage hätten ja etwas davon, wenn die Literatur wieder mehr ins Gespräch und den Austausch kommt. Für den kriselnden Buchmarkt könnte es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bislang fehlen in meiner Wahrnehmung solche Iniativen aber völlig. Dabei wäre es wirklich wichtig, die tote Debatte insbesondere im Netz, aber auch in der medialen Öffentlichkeit wiederzubeleben.

Ein wertschätzender Blick auf die Akteure in den Debatten, Lust am gegenseitigen Austausch und Streit sowie entsprechende Infrastrukturen, um solche Debatten zu führen, all das könnten Ansätze für eine erste Wiederbelebungsmaßnahmen sein. Es wäre höchste Zeit, die Rettungsmaßnahmen einzuleiten und wieder mehr Debatte zu wagen!

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Meine besten Bücher 2023

Die Einleitung meines Rückblicks aus dem vergangenen Jahr könnte ich in diesem Jahr eigentlich kopieren und an dieser Stelle erneut einfügen. Ähnlich wie 2022 sind es auch in diesem Jahr wieder über hundert Rezensionen geworden, in denen ich mich hier meinen Lektüren etwas genauer gewidmet habe und diese Lektüreeindrücke und Gedanken hier auf dem Blog verschriftlicht habe.

Daneben gab es wieder schöne Momente und Initiativen, die das solistische Schreiben hier schön ergänzen. So durfte ich Teil der Sachbuchblogger für den Deutschen Sachbuchpreis 2023 sein. Auch zur Preisverleihung des Tukan-Preises in München war ich eingeladen (mehr zu Thomas Willmanns Buch auch hier in der Bestenliste). Unbestrittenes Highlight zweifelsohne meine Teilnahme am Literarischen Quartett, die es leider nicht in die Mediatheken schaffte, mir aber viel Freude bereitete.

Daneben gab es wieder Literaturabende, Moderationen und sogar diesmal zwei Messebesuche mit Leipzig im Mai und Frankfurt im Oktober. Vieles habe ich erlebt – und hier hoffentlich auch dazu beigetragen, das ein oder andere Buch noch etwas bekannter oder sichtbarer zu machen.

Nun aber genug der einleitenden Worte, es folgen nun meine sechzehn besten Bücher des Jahres. Die ausführlichen Besprechungen lassen sich alle auf dem Blog nachlesen und sind in den Texten verlinkt. Der Klick aufs Cover bringt euch auf die Seite der Onlinebuchhandlung Yourbookshop. Mehr zu dieser Verlinkung habe ich am Ende des Textes vermerkt. Und jetzt viel Spaß:

Benjamín Labatut – MANIAC

ChatGPT und die Frage der Künstlichen Intelligenz waren Schlagwörter, denen man in diesem Jahr kaum entgehen konnte. Viele Romane behandeln das Thema dabei eher unterkomplex. Wie es besser geht, das zeigt der Chilene Benjamín Labatut in seinem Roman MANIAC, der von John von Neuman und dessen Erfindung, einem Supercomputer erzählt. Literarisch ambitioniert, hervorragend gebaut – solche Literatur schafft keine Künstliche Intelligenz der Welt!

Thomas Willmann – Der eiserne Marquis

Das gute Literatur ihre Zeit zur Reife braucht, das beweist Thomas Willmann mit seinem Roman Der Eiserne Marquis eindrücklich. Debütierte er 2010 mit seinem Alpenwestern Das stille Tal, blieb es gute 13 Jahre lang still um ihn. Das hatte seinen guten Grund. Handschriftlich verfasste er dieses monumentale Epos, das von Liebe, Begehren, Technikgläubigkeit und der Menschenmühle des Krieges erzählt – und von noch so viel mehr.

Lauren Groff – Die weite Wildnis

Letztes Jahr in der Jahresbestenliste für Matrix, dieses Jahr eine Spitzenplatzierung für Die weite Wildnis – Lauren Groff hat einfach einen Lauf. Hier gelingt ihr ein beeindruckendes Porträt eines Überlebenskampfes in der amerikanischen Wildnis, die mal lebensfeindlich, manchmal erhebend ist. Nature Writing, Erzählung über die Untertanmachung der Erde, historischer Roman und die literarische Hymne auf eine Überlebenskünstlerin, alles drin!

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Der coronabedingten Isolationen haben wir gewissermaßen dieses Buch zu verdanken, das der Schriftsteller Kazuo Ishiguro in dieser Zeit wiederentdeckte und empfahl. Auch schließe mich an und empfehle meinen literarischer Sommerhit des Jahres aus der Feder von R. C. Sherriff. Bittersüß erzählt Zwei Wochen am Meer von der Sommerfrische einer durchschnittlichen englischen Familie an der Südküste Englands, lang vor Massentourismus und Event-Fixierung. Ein Buch, das den Sommer feiert, aber auch um seine Vergänglichkeit weiß. Berührend!

Andreas Pflüger – Wie Sterben geht

Der Suhrkamp-Verlag und Andreas Pflüger können den Champagner schon einmal kalt stellen. Der Deutsche Krimipreis 2023 dürfte ihm für sein Werk Wie Sterben geht sicher sein – und das absolut zurecht. Sein Buch führt zurück in die Hochphase des Kalten Kriegs und passt erstaunlich wieder gut in die Gegenwart. Einen anspruchsvolleren, literarisch ausgeklügelteren und mitreißenderen, kurz: besseren Krimi als diesen habe ich 2023 nicht gelesen. Mein Tippschein für den Krimipreis ist ausgefüllt!

Louise Kennedy – Übertretung

Irland zur Hochzeit der Troubles – und mittendrin die katholische Lehrerin Cushla, die gleich mehrere Übertretungen wagt. Die Affäre mit einem Protestanten und die Übertretung sämtlicher Zurückhaltung, als es um das Wohl einen ihrer Schüler geht. Hier explodieren die Bomben, ist das Leid der Zivilbevölkerung auf jeder Seite spürbar. Kurzum: man ist in Louise Kennedys Debüt ganz dicht dran und bekommt eine Ahnung, wie es sich angefühlt haben muss, als der IRA-Terror seinen Höhepunkt auf der grünen Insel erreichte.

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Völlig untergegangen in Sachen öffentlicher Aufmerksamkeit ist diese literarische Wiederentdeckung, die uns der Reclam-Verlag zugänglich gemacht hat: in Die Kaiserstadt entwirft Paul Zifferer ein vielschichtiges Porträt Wiens kurz nach dem Ende des Großen Krieges. So kehrt Toni Muhr aus dem Krieg heim, findet sich seiner Erfindung und irgendwie auch seiner Frau beraubt. Das will er aber nicht auf sich sitzen lassen und wird zu einer Art austrakianischem Kohlhaas, während um ihn herum die Habsburgermonarchie zerbröselt.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Noch einmal Wien, noch einmal die Kaiserstadt kurz vor dem Ersten Weltkrieg, genauer gesagt am Vorabend des Kriegseintritt Österreichs in den Großen Krieg. Edelbauer lässt ihre Figuren in Echtzeit durch die Stadt hetzen. Absteigen in die Wiener Unterwelt und das eigene Unterbewusstsein, Kriegseuphorie, geheimnisvolle Träume, irgendwo zwischen Schnitzler, Sebastian Schippers Victoria und Sense 8. Das ist ebenso luzide wie präzise, sprachmächtig wie vorwärtstreibend – einfach inkommensurabel!

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Bücher mit soziologischem Erzählanspruch gab es in diesem Jahr einige (man denke beispielsweise nur an Teresa Präauers Kochen im falschen Jahrhundert). So genau und so treffend wie Vincenzo Latronico in seiner Vermessung des Berliner Ex-Pat-Milieus ist es in meinen Augen allerdings niemandem gelungen, soziologische Genauigkeit und literarische Präzision miteinander zu einem Bild einer Bevölkerungsschicht zu verbinden, bei der man trotz allem Hochglanz-Chic vielleicht doch nicht dazugehören möchte.

Angela Steidele – Aufklärung

Zugegeben, hier habe ich geschummelt, erschien Angela Steideles Buch doch eigentlich schon vor einem Jahr – aber erst jetzt kam ich zur Lektüre und fand einen begeisternden historischen Roman vor. Wissenssatt löst er den Anspruch des Titels auf ganzer Linie ein, erzählt vom intellektuellen Leben in den Gassen Leipzigs, das dem Treiben im Inneren eines Bienenstocks gleicht und rückt nicht zuletzt die die in den Vordergrund, die sonst im Schatten der Geschichte verschwinden – die Frauen.

Claire Keegan – Das dritte Licht

Wie man aus wenigen Seiten das Größtmögliche herausholen kann, das stellt die Irin Claire Keegan immer wieder beeindruckend unter Beweis. Auch in Das dritte Licht gelingt ihr das Kunstwerk, auf kleinstem Raum ein großes Schicksal zu erzählen, nämlich das eines Mädchens, das zu einem anderen Ehepaar gegeben wird, das sich der Pflege des Kindes annimmt. Wie jede der beteiligten Figuren an der neuen Situation wächst, schildert sie so ergreifend, das eine Platzierung hier in der Bestenliste nur konsequent ist.

James Kestrel – Fünf Winter

Noch einmal Krimi, noch einmal Suhrkamp, noch einmal Breitwandkino. In Fünf Winter erzählt James Kestrel die Geschichte eines Ermittlers auf Honolulu, dem bei seinen Mordermittlungen alles andere als eine Kleinigkeit dazwischenkommt. Es ist der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der nicht nur die Überführung eines Mörders stoppt, sie bringt den unbestechlichen Cop sogar bis nach Japan, ehe er seine unterbrochenen Ermittlungen weiterführen kann. Großes Kino!

Charlotte Gneuß – Gittersee

Dieses Buch hatte ich eigentlich nicht auf dem Schirm. Wieder DDR, wieder Coming of Age? Mein Interesse hielt sich in Grenzen. Doch dann besprachen wir Gittersee im Literarischen Quartett und ich sah alle Vorurteile widerlegt. Denn Charlotte Gneuß erzählt stimmig vom Aufwachsen einer jungen Frau im sozialistischen Planstaat namens DDR, vom Sich-Verfangen im Gespinst der Staatssicherheit, vom unaufhörlichen Irren der Nadel des eigenen Lebenskompasses in den Jugendjahren. Das ist ein großartiges Debüt!

Dana Vowinckel – Gewässer im Ziplock

Noch so ein Überraschungscoup mit ihrem Debüt gelingt der Autorin Dana Vowinckel. Ihr Buch kommt genau zur richtigen Zeit, erzählt es doch von jüdischem Leben in der DDR, von unterschiedlichen Wegen der Eltern- und Jugendgeneration in Deutschland. Besonders wichtig ist dieses Debüt in den aktuellen Zeiten, in denen der Antisemitismus um sich greift. Denn Gewässer im Ziplock zeigt, wie gelebtes Judentum aussieht und leistet wichtige Aufklärungsarbeit.

André Hille – Jahreszeit der Steine

Wenn es eine thematische Häufung an Büchern gab, dann war das im Jahr 2023 zweifelsohne das Thema Vaterschaft. Von Deniz Utlu bis zu Christian Dittloff, alle dachten über Väter, männliche Prägung und moderne Vaterschaft nach. Am gelungensten in meinen Augen tat das André Hille, der im erzählerischen Rahmen eines einzigen Tages in Jahreszeit der Steine alle essenziellen Themen behandelte und hinterfragte – und in dessen Überlegungen ich mich auch persönlich wiederfand.

Emmanuel Maeß – Alles in allem

Zugegeben – Emanuel Maeß Prosa ist nicht jedermanns Sache – aber auf alle Fälle meine. Spracharabesken, aus der Zeit gefallene Themen, Zauderer und Prokrastineure als Helden – das alles nimmt mich sehr für den Autor ein, der in Alles in allem von einem ewigen Theologiestudenten und dessen Irren zwischen verschiedenen Frauenfiguren erzählt. Unzeitgemäß, aber eben deshalb auch für mich in diesem Jahr passend und begeisternd.


Sämtliche hier vorgestellte Bücher habe ich auch in einer Liste bei der unabhängigen Onlinebuchhandlung Yourbookshop hinterlegt. Dort könnt ihr die Bücher kaufen und damit zugleich eure favorisierte Buchhandlung vor Ort unterstützen. Und ein kleiner Teil vom Erlös kommt auch meiner Arbeit hier zugute, damit es auch im nächsten Jahr wieder spannende Entdeckungen gibt. Schaut doch mal vorbei, wenn ihr mögt!

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