Category Archives: Kriminalroman

James Carlos Blake – Red Grass River

Im tiefsten Süden Amerikas, in den Everglades, da leben sie, die Mitglieder der Familie Ashley. James Carlos Blake setzt der kriminellen Bande mit Red Grass River ein ebenso eindringliches wie mitreißendes Denkmal. Ein Epos über Gut und Böse – und die Grenze dazwischen, die sich nicht immer so leicht ziehen lässt.


Falls sich der Teufel je einen Garten angelegt hat, dann die Everglades. Der größte und gemeinste Sumpf, den Sie je zu sehen bekommen – größer als so mancher Staat der USA. All die Kiefernwälder und das Zwergpalmetto-Gestrüpp, die Zypressensümpfe, das ganze Kletterpflanzengewirr. Doch vor allem ist es ein Fluss, ein Fluss, wie es auf der Erde keinen zweiten gibt. Er ist hundert Kilometer breit, fünfzehn Zentimeter tief und verläuft vom Lake Okeechobee bis zum südlichen Ende des Staates über einem Morast ohne festen Boden. Das Ganze ist mit Binsenschneide, einer Art Sauergras, überwuchert, scharf wie ein Rasiermesser. Zwischen diesem schneidend scharfen Gras gibt es weit und breit nichts außer vereinzelten Hammocks – höher gelegene, mit Laubbäumen und Palmen beweachsene Inseln -, die größtenteils noch kein Mensch je betreten hat. Da draußen wirkt die Welt viel größer und der Himmel kennt kein Ende.

James Carlos Blake – Red Grass River, S. 9

So führt uns der sogenannte Liars Club in den Handlungsort des Romans von James Carlos Blake ein. Bei diesem Club handelt es sich um einen amorphen Erzählchor, der sich immer wieder kommentierend in die Geschichte einschaltet, die uns der 1947 in Mexiko geborene Blake erzählt.

Es ist eine Kommentierung, die aus viel Gerüchten und Tratsch besteht. Beim Thema, um das es sich in dem Roman dreht, verwundert das aber nicht. Denn die Familie Ashley, deren schwerkriminelle Mitglieder von Schwarzbrennerei über Alkoholschmuggel bis hin zu Banküberfällen so gut wie alle Schattierungen des Verbrechens im Süden der USA verübten, rief von Bewunderung bis Hass wahrhaftig eine Vielfalt von Gefühlen und Reaktionen hervor. Immer wieder sorgte das Treiben dieser historisch verbürgten Bande für Aufsehen und wurde durch spektakuläre Coups zum Stadtgespräch.

Die Ashley-Gang und ihr kriminelles Treiben

Den Werdegang der Familie, ihr kriminelles Tun und die Rivalität mit der Familie Baker, die als Sheriffs und Deputys auf der gegenüberliegenden Seite des Gesetzes standen, zeichnet James Carlos Blake mit einem sicheren Gespür für Action, Figuren und Lokalkolorit nach.

James Carlos Blake - Red Grass River (Cover)

So vereint Red Grass River Gewalt in Form von Schießereien, Schlägereien und zahlreiche Todesfälle mit Liebe, familiären Zusammenhalt, Momenten der Hingabe und der Lust, Eros und Thanos, Verfolgungsjagden, Gefängnisepisoden bis hin zu unglaublich sinnlichen Schilderungen der Naturlandschaft der Everglades, die als Rückzugsort der Ashleys nicht von ungefähr den Namen The devil’s garden trägt.

Es ist ein intensives Leseerlebnis, das uns James Carlos Blake hier zwischen Galveston und Miami kredenzt. Nicht nur Fans des ausgezeichneten Cowboyspiels Red Dead Redemption 2 kommen hier auf ihre Kosten.

Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung Floridas zu Beginn des 20. Jahrhunderts schildert Blake Werden und Vergehen, Momente großer Liebe, aber auch Momente ebenso großen Hasses.

Der Reiz von James Carlos Blakes Roman liegt neben dem Erzählbogen mitsamt der meisterhaft geschilderten Szenen von der Flucht per Eisenbahn bis hin zum Schmugglerhandwerk in den Sümpfen auch in der dahinter aufscheinenden Rivalität zwischen Gut und Böse.

Sheriff und Ashley-Gang belauern sich, bekriegen sich – aber wer nun auf welcher Seite von Gut und Böse steht, das ist nicht immer wirklich eindeutig und macht so aus diesem Pageturner auch ein wuchtiges Drama mit Grauschattierungen.

Fazit

Fast meint man die Alkoholausdünstungen, Nebelschwaden und den Pulverdampf während der Lektüre selbst zu riechen. Ein großartiges Gangsterepos in den Sümpfen Floridas zwischen Schwarzbrennern und Fellhändlern, Bankräubern und Sheriffs, Gut und Böse, alter Verbrecherwelt und neuen Betrüger. Das ist ganz große Unterhaltung und wieder mal ein echter Griff, den der Münchner Liebeskind-Verlag hier getan hat!


  • James Carlos Blake – Red Grass River
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • ISBN 978-3-95438-087-9 (Liebeskind)
  • 528 Seiten. Preis: 24,00 €
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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Chris Lloyd – Paris Requiem

Zweiter Einsatz für Eddie Giral im von den Nationalsozialisten besetzten Paris. Chris Lloyd gelingt mit Paris Requiem abermals ein souveräner und traumwandlerisch sicher erzählter Kriminalroman mit einem unangepassten Helden, der diesmal nicht nur zu einem Pakt mit dem Teufel gezwungen ist.


Vor zwei Jahren erschien mit Die Toten vom Gare d’Austerlitz der erste Roman des Briten Chris Lloyd, den Herausgeber Thomas Wörtche für seine Krimiedition bei Suhrkamp aufgetan hatte. Gleich zum Einstand gelang Lloyd ein überzeugender Kriminalroman, der seinen Helden Eddie Giral hervorragend einführte. Nicht einmal vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris ließ sich der bei der Pariser Polizei angestellte ehemalige Jazzclub-Rausschmeißer von der Arbeit abhalten. In einem komplexen Fall rund um eine Gruppe ermordeter Polen bewies er seinen kriminalistischen Riecher und sein Talent für Ironie und Aufrichtigkeit in schweren Zeiten.

Im zweiten historischen Krimi gelingt es Lloyd nun, das Begonnene auf großartige Art und Weise fortzuführen. Denn die Nazis sind noch immer in Paris präsent. Während die Vichy-Regierung unter General Pétain die Kollaboration anstrengt, regt sich in Paris langsam subtiler Widerstand gegen die Abwehr, Gestapo und SD, die die Straßen der Hauptstadt kontrollieren.

Eddie versieht seinen Dienst mit viel Widerwillen gegenüber den neuen Machthabern in der Stadt, allen voran Major Hochstetter von der Abwehr, der ein genaues Auge auf ihn hat. Zwischen Nazis und organisiertem Verbrechen versucht er irgendwie die Ordnung aufrechtzuerhalten und bangt zudem auch noch um seinen Sohn, den er im ersten Band der Reihe zur Flucht aus Paris verholfen hat.

Tod im Jazzclub

Chris Lloyd - Paris Requiem (Cover)

Als er nun an einen Tatort in einem von den Besatzern stillgelegten Jazzclub gerufen wird, ist Giral mehr als irritiert. Denn der Tote, der mit Anglergarn gefesselt auf einem Stuhl sitzt, sollte sich eigentlich nicht in dem Club, sondern hinter Gittern befinden. Schließlich hat Eddie selbst für seine Inhaftierung gesorgt. Doch irgendwie scheint es das Mordopfer aus dem Gefängnis geschafft zu haben, um sich nun mit zugenähten Lippen im Jazzclub wiederzufinden. Wer hatte mit dem Toten noch eine Rechnung offen?

Bei seiner Suche bewegt sich Eddie auf vertrautem Terrain. Halbseidene Gestalteten, Kaschemmen und Jazzclubs, in denen sich Nazis und Unterweltgrößen die Klinke in die Hand geben, sind Stationen seiner Suche, die er immer unter genauer Beobachtung Major Hochstetters vorantreibt. Dabei stößt er auf die Spur anderer Gefangener, die offenbar widerstandslos aus der Haft entlassen wurden und die sich nun zusammengetan haben scheinen – aber mit welchem Ziel? Dass ihm bei seiner Suche in Paris immer wieder der Name „Capeluche“ begegnet, ohne dass er der Lösung des Mordfalls im Jazzclub nennenswert näherkommt, all das macht die Sache nicht unbedingt einfacher.

Eddie Giral vs. Major Hochstetter

Paris Requiem ist ein starkes stück Kriminalliteratur, bei dem die schnodderige und von ironie geprägte Haltung des Ich-Erzählers Eddie mit einem guten Timing, einem ebenso gut entwickelten Plot und einem hochinteressanten Kapitel französischer Geschichte zusammenfallen.

Gekonnt lässt Lloyd, der bereits zur Geschichte der Résistance forschte, sein Wissen in den Roman einfließen, ohne diesen damit zu beschweren. Die Deals der Unterwelt mit den neuen Herren in der Stadt, der Mangel der Stadtbevölkerung und der erstarkende Widerstand gegen die Nationalsozialisten sowie das Kompetenzgerangel zwischen Sicherheitsdienst, Abwehr und Gestapo sind nur einige Punkte, die den Hintergrund zu Paris Requiem ausmachen.

Im Duell Eddies gegen den faszinierend mephistophelischen Hochstetter hat der Roman seine stärksten Szenen. Großartig etwa die Begeisterung des deutschen Majors ausgerechnet für Beethovens Freiheitsoper Fidelio, was ihn in einen Konflikt mit Eddie bringt, der als gebildeter Franzose die Volkserziehung der Deutschen überhaupt nicht schätzt. Dieser Tanz mit dem Teufel, der schon im ersten Band der Reihe begann, er geht hier in eine neue Runde und wird noch einmal ein ganzes Stück komplizierter.

Leben im besetzten Paris

Daneben macht Paris Requiem auch das Leben im besetzten Paris erfahrbar. Lloyd zeigt in starken Szenen den Vernichtungswillen der Deutschen, der sich von jüdischen Bewohnern der Stadt bis hin zu den sogenannten Frontstalags erstreckt. Das mühselige Anstehen für Essensmarken der einfachen Bevölkerung und der im Gegensatz dazu florierende Schmuggel von Whisky oder Pervitin, die kleinen und großen Deals, sie sind stetes Thema in Lloyds Welt.

Während sich Eddie immer wieder seinen Entwachern entzieht, auf eigene Faust sogar bis in die nachtschwarzen Wäldern Compiègnes vordringt, verstrickt er sich immer mehr in Abhängigkeiten und Versprechungen. Eine zusehends komplizierter und gefährlicher werdende Gemengelage, die er französische Ermittler nur durch sein Talent für Ironie erträglich macht (und sich damit in guter Gesellschaft ähnlich angelegter Ermittlungsfiguren wie Adrian McKintys Sean Duffy oder Ben Aaronovitchs Peter Grant befindet).

Fazit

Viele Fronten und Sorgen, ein raffinierter Mörder, eine Stadt im Ausnahmezustand und mittendrin Eddie zwischen Abwehr, Gestapo, Jazzkneipen und alten Versprechungen, das kennzeichnet Paris Requiem. Abermals gelingt Chris Lloyd ein toll gesetzter Krimi, der historische Kulisse und einen Krimiplot vorzüglich zu verbinden weiß. Ebenso wie der erste Band der Reihe ist auch dieser neue Krimi wieder ein hervorragendes Stück historischer Kriminalliteratur, das sich neben französischer Stimmen wie Didier Daenickx vorzüglich ausnimmt!


  • Chris Lloyd – Paris Requiem
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47373-3 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 18,00 €
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I. L. Callis – Doch das Messer sieht man nicht

Boxerin, Reportin, jung und schwarz. Anaïs Maar, die Heldin von I. L. Callis historischem Kriminalroman Doch das Messer sieht man nicht vereint viele unterschiedlichen Facetten in sich. Dass es als junge Frau schwer ist, seinen Platz im täglichen Leben zu behaupten, das kennt sie schon zur Genüge. Doch als Schwarze ist das noch einmal eine ganz andere Kategorie. Denn während Josephine Baker für Aufregung in der Stadt sorgt, hat es Anaïs unter den erstarkenden Braunhemden immer schwerer in der Stadt. Und dann ist da auch noch der „Ripper von Berlin“.


Weckt der Titel des neuen Romans der in Österreich lebenden Autorin I. L. Callis Anklänge an Brechts Dreigroschenoper, so erweist sich Doch das Messer sieht man nicht selbst aber weniger von Brechts Moritat von Mackie Messer denn von klassischen Serienkillererzählungen beeinflusst. Denn auch im Berlin der Zwischenkriegszeit geht ein Mörder um, der sich eines Messers bedient, um seine weiblichen Opfer zu brutal zu töten.

Der Ripper von Berlin

Was in London 1888 das Stadtviertel Whitechapel war, ist nun im Jahr 1927 für den Mörder der Krögel in Berlin, ein von Armut und einfachem Handwerk geprägten Teil der ehemaligen Garnisonsstadt. Dort sucht sich der Mörder seine weiblichen Opfer und verstümmelt sie aufs Grausamste.

I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht (Cover)

Ein schrecklicher Umstand, der wiederum aber die Karriere der jungen Anaïs Maar entscheidend befördert. Denn diese möchte als Kulturredakteurin eigentlich ihrem Vorbild Egon Erwin Kisch nachstreben, sieht sich aber schon bald auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, da die Zeitungsbranche auch schon im 1927 ächzt und stöhnt und der Berliner Brennpunkt, bei dem sie eine Anstellung gefunden hat, im harten Konkurrenzkampf der Boulevardblätter ins Hintertreffen zu geraten droht.

Kurzerhand wird Anaïs auf die Story eines Frauenmordes im Krögel gesetzt. Eine Geschichte, die eigentlich keine Besonderheit wäre, würde sich der Morde nicht eben durch die besondere Brutalität auszeichnen. Kurzerhand macht die Reporterin, die sich nicht nur im harten Alltag der Zwischenkriegszeit, sondern auch im Ring aufs Durchboxen versteht, an die ihr zugteilte Arbeit und verfasst einen ersten Artikel. Darin macht sie aus dem Täter mit der griffigen Formulierung den „Ripper von Berlin“, womit ihr ein erster Wirkungstreffer gelingt.

Eine Reporterin boxt sich durch

Nicht nur, dass sie die Redaktion des Boulevardblatts auf sich aufmerksam macht und mit ihren Storys zum „Ripper von Berlin“ zum Stadtgespräch macht – auch die Aufmerksamkeit des Täters weckt die junge schwarze Reporterin.

Um Anaïs‘ Geschichte herum gruppiert die gebürtige Italienerin weitere Figuren, die abwechselnd in den erzählerischen Fokus rücken. Da ist die junge Josefine, die eigentlich gerne so wie der Filmstart Lillian Harvey wäre, aber in der Realität immer weiter die gesellschaftliche Leiter nach unten rutscht. Der Ikonenmaler Maxim Bronski oder der prominente Wahrsager Thor Jonasson, dazu noch Redakteure, Boxtrainer und andere Figuren, deren Wege sich später kreuzen werden.

Das ist alles sehr solide gemacht und berlinert nicht nur im vielfach verwendeten Dialekt recht ordentlich. Vom Wartesaal am Bahnhof Zoo, einer Boxhalle hinter dem Schlesischen Bahnhof bis zum Treiben am Nollendorfplatz reichen die Schauplätze, die I. L. Callis in ihrem Roman aufbietet.

Ähnlich wie Volker Kutscher in seinen Gereon Rath-Krimis oder Susanne Goga mit ihren Krimis um Leo Wechsler ist auch Doch das Messer sieht man nicht eine historischer Krimi, der das vergangene Berlin und seine turbulenten politischen Zeiten noch einmal auferstehen lässt. Die große Armut, das Erstarken der rechten Kräfte, die Straßenschlachten und die sich wandelnde Stimmung fängt I. L. Callis nachvollziehbar ein. Durch die schwarze Hautfarbe von Anaïs findet zudem die Komponente des Rassismus ins Buch, dem sie sich sich ausgesetzt sieht, während in der gleichen Stadt Josephine Baker für ihr Auftreten gefeiert wird.

Fazit

Diese originelle Heldin ist es, die dem Roman etwas Profil gegenüber den vielen anderen historischen Berlinkrimis verleiht. Inhaltlich ist der in Doch das Messer sieht man nicht präsentierte Fall ordentlich, wenn auch die Gestaltung des Ganzen weitestgehend in der Reproduktion konventioneller Erzählmuster verharrt. Hätte I. L. Callis den anderen Figuren auch etwas von der Tiefe zugestanden, die sie Anaïs hier schon in Ansätzen verliehen hat, wäre das Buch auch auf der Personenebene noch stärker geworden.

So macht das Buch durch die Blicke in die unterschiedlichen Milieus, die aufstrebende Reporterin Anaïs Maar und auch die augenfällige Gestaltung seine Punkte, ähnlich wie Anaïs im Boxring gegen ihren Trainer Kalle in dessen Boxschule. Kurzum: ein solider historischer Krimi aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit.


  • I. L. Calis – Doch das Messer sieht man nicht
  • ISBN 978-3-7408-2048-0 (Emons)
  • 352 Seiten. Preis: 17,00 €
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David Hewson – Die Medici-Morde

Venedig zur Zeit des Carnevale kann auch seine tödlichen Seiten haben. Das muss in David Hewsons Krimi ein eitler TV-Historiker feststellen, der die Wahrheit über Die Medici-Morde enthüllen wollte, stattdessen aber nun tot in einem der vielen Kanäle der Stadt treibt. Ein gelungener Krimi, der sich trotz seiner Aufmachung nicht in spektakulär-spekulatives Fahrwasser von Dan Brown und Co begibt, sondern souverän das wenig touristische Venedig und dessen Historie erkundet.


Es ist eine spektakuläre These, mit der der ebenso eitle wie bekannte TV-Historiker Marmaduke Godolphin seine ehemaligen Getreuen und Bekannten nach Venedig lockt. Er will die Wahrheit herausgefunden haben über die Ermordung Alessandro de‘ Medicis, der am 6. Januar 1537 von seinem Verwandten Lorenzino de‘ Medici ermordet wurde. Beteiligt an dem Mordkomplott soll nämlich niemand anderes als der Maler Michelangelo gewesen sein.

Eine aufsehenerregende Enthüllung und die Gelegenheit für Godolphin, seine etwas zum Erliegen gekommene Karriere wieder mit einem lukrativen TV-Vertrag anzukurbeln. Doch bevor es soweit ist, wird die Leiche des mit der Ritterwürde nobilitierte Fernsehstar aus einem der Kanäle gefischt. Im Bauch des in historischer Gewandung gekleideten Godolphins steckt ein Dolch, der dem sogenannten Aldobrandini-Dolch verdächtig ähnlich sieht. Einst entwarf Michelangelo höchstpersönlich diese Waffe, die den Star der italienischen Hochrenaissance mit dem einstigen Attentat innerhalb der de‘ Medici-Sippe in Verbindung bringen könnte.

Tod eines TV-Historikers

Doch wer wollte Marmaduke Godolphin tot sehen und ist eventuell etwas dran an der These, die der Historiker öffentlichkeitswirksam präsentieren wollte? Soll eventuell gar eine unbequeme historische Enthüllung verhindert und vertuscht werden?

David Hewson - Die Medici-Morde (Cover)

All das untersucht Capitano Valentina Fabbri von den italienischen Carabinieri, der der Gedanke an einen Mord in Venedig zuwider ist, vor allem zur Zeit des Carnevale. Morde in Venedig ereignen sich nur in Büchern von Ausländern, die ihrer kriminellen Fantasien in Büchern ihren Lauf lassen, wie es an einer Stelle des Romans ganz selbstironisch heißt – Donna Leon lässt grüßen.

Aber nun, da tatsächlich ein offensichtlich Ermordeter in den Kanälen der Stadt treibt, setzt Fabbri auf die Hilfe von Arnold Clover, der nicht nur Valentina Fabbri, sondern auch uns Leser*innen ganz direkt von seinen Begegnungen mit Godolphin erzählt. Schließlich sollte er als vor kurzem nach Venedig gezogener Archivar im Ruhestand Godolphin unterstützen und diesem zuarbeiten.

Wie diese Zuarbeit aussah, was er zusammen mit Godolphin und dessen „Goldenem Zirkel“ ehemaliger Gefolgsleute aus Cambridge und Oxford erlebte, das erzählt er Stück für Stück Fabbri, die sich und Clover einen Tag gegeben hat, um Licht ins Dunkel um den Ermordeten zu bringen. Ein Tag, der neben vielen Rückblenden auch aus jeder Menge Essen besteht. Denn um das Vorhaben Marmaduke Godolphins zu rekonstruieren, nutzen Fabbri und Clover die ganze Fülle der venezianischen Gastronomie mitsamt einer Vielzahl an Gängen, um die Kriminalistische mit dem Kulinarischen zu verbinden. Zwischen dolci, baccala und Espressos dem wahren Mörder Godolphins auf die Schliche zu kommen.

Eher Inspector Barnaby denn Dan Brown

Mag man angesichts des reißerischen Titels und der knalligen Aufmachung von Die Medici-Morde von einem Thriller ausgehen, dass man es mit einem Buch im Fahrwasser von Dan Brown und Co zu tun bekommt, bei dem ein Ermittler durch die Serenissima hetzt, Zeichen und historische Spuren entschlüsselt und sich die Leichen häufen, so lässt es David Hewson doch deutlich ruhiger angehen und erinnert eher an Inspector Barnaby denn Robert Langdon.

Der britische Krimischriftsteller David Hewson, der unter anderem schon die dänische Krimiserie Kommisarin Lund in Buchform verwandelte, zeigt hier eine unbekannte Seite Venedigs abseits der klassischen Touristenspots und Erzählplätze. Sein Venedig im Carnevale ist doch recht kalt und ungastlich. Die Einkehr in den unterschiedlichen gastronomischen Angebote der Stadt verheißt ein wenig Verschonung vor der allgegenwärtigen Kälte und den Nebelschwaden.

Ebenso gemütlich wie die kulinarische Auskleidung dieses Krimis ist auch das an den Tag gelegte Ermittlungstempo. Obschon der einzige Tage, den sich Valentina Fabbri für ihre Ermittlungen gibt, mehr als ambitioniert erscheint, erweist sich der Krimi als ruhige Rückblendenrevue, aus denen sich immer mehr das tatsächliche Geschehen rund um Marmaduke Godolphin herausschält – bis hin zum Höhepunkt der Tatnacht.

Dazwischen gibt es falsche Fährten und theatralen Mummenschanz, Eitelkeiten und sogar einen Ausflug nach Verona, wo sich wieder einmal eine Bibliothekarin als entscheidende Stütze in der Lösung des Falles erweist.

Fazit

David Hewson zeigt hier wie schon im zuvor erschienenen Roman Der Garten der Engel seine Orts- und Geschichtskenntnis Venedigs – und sein kriminalliterarisches Talent. Ruhig und routiniert entwickelt er diesen Venedigkrimi zwischen Kriminalistik und Kulinarik. Das ist gut gemacht – sowohl für Fans von Venedig-Krimis als auch für Anhänger klassischer britischer Ermittlerkrimis eine Empfehlung!

Wer nach der Lektüre neugierig geworden ist auf dieses winterliche und kalte Venedig: der Autor selbst gibt hier noch etwas mehr Auskünfte über seinen Roman und dessen Schauplätze:


  • David Hewson – Die Medici-Morde
  • Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
  • ISBN 978-3-85256-895-9 (Folio)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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