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Scott Preston – Über dem Tal

Als hätten Daniel Woodrell, Ian McGuire und James Rebanks gemeinsame Sache gemacht: der Brite Scott Preston überrascht in seinem Debüt Über dem Tal mit einem sprachmächtigen Noir mit Nature Writing-Anteilen, der die Landschaft Cumbrias feiert und der von Übersetzer Bernhard Robben in ein klangreiches Deutsch übertragen wurde. Eine echte Entdeckung!


Es grenzt an Schottland und England, passt aber zu keinem der beiden Länder wirklich – zumindest der Einschätzung des Erzählers Steve Elliman nach: die Rede ist von Cumbria, das mitsamt seiner rauen Natur und den verschlossenen Bewohnern den Schauplatz des Debütromans von Scott Preston bildet.

Hier lebt der Schafzüchter Steve zusammen mit seinem Vater. Andere Höfe sind weit weg, die einzige Gesellschaft bilden die Herdwick-Schafe, die er zusammen mit seinem Vater züchtet und die die Hügel Cumbrias abweiden. Doch diese jahrhundertealte Praxis gerät schon am Beginn von Über dem Tal aus dem Takt. Denn wir schreiben das Jahr 2001 und die Maul- und Klauenseuche grassiert auch in diesem abgelegenen Teil Englands.

Schafzucht in Caldhithe

Genauso wie andere Höfe in der Nachbarschaft ihres Zuhauses müssen auch die Ellimans ihre gesamte Schafherde keulen. Eindrücklich erzählt Preston von dem brutalen Geschäft, bei dem die Züchter vom Militär „unterstützt“ werden. Scheiterhaufen mit Tieren brennen die ganze Nacht hindurch, die Lebensgrundlage der Züchter löst sich mit den Kadavern der Tiere in öligem, schwarzem Rauch auf.

Scott Preston - Über dem Tal (Cover)

Nicht lange nach diesem einschneidenden Erlebnis stirbt Steves Vater. Der im Vergleich zu den maulfaulen Nachbarin äußerst redebedürftige Mann findet Anschluss auf Caldhithe, dem Hof von William Herne. Dort verdingt er sich erneut als Schafzüchter.

Doch zunächst wollen neue Tiere für die Herde gewonnen werden, womit der Roman in die Gefilde eines Noir-Romans aus dem Hinterland abbiegt, wie man sie aus US-amerikanischer Produktion, beispielsweise von Daniel Woodrell oder Eli Cranor kennt. Denn um in den Besitz neuer Tiere zu gelangen, begeben sich William und Steve auf eine nächtlichen Diebestour, um eine fremde Herde zu stehlen. Dabei leisten ihnen Colin Tinley und dessen Subalterne Schützenhilfe. Damit ist der Weg in die Illegalität markiert, denn alle, die sich im Umfeld von Colin bewegen, werden durch den Kontakt mit ihm auf die falsche Seite des Gesetzes gelockt.

Auch Steve muss das im Lauf des Buchs lernen, wie er in seinem aus der Rückschau heraus erzählten Bericht feststellt. Doch trotz aller Klarsicht gelingt es ihm nicht, sich von Caldhithe zu lösen. Für seinen Verbleib vor Ort gibt es aber auch gute Gründe, die Preston in seinem souverän erzählten Roman an späterer Stelle noch nachführt.

Nature Writing trifft auf Cumbria Noir

Über dem Tal kombiniert das Nature Writing eines Robert MacFarlane, Einsichten in die Welt der Schafzucht, wie sie beispielsweise auch der ebenfalls in Großbritannien Herdwick-Schafe züchtende James Rebanks in seinem Sachbuch Mein Leben als Schäfer schildert. Dabei schreckt Preston auch nicht vor Brutalität zurück, beschreibt detailliert die Keulung der Schafe oder die verhängnisvollen Konsequenzen, die ein Umgang mit Menschen wie Colin Tinley hat.

Abgebunden wird all das aber durch die Sprachmacht Scott Prestons, die im Übersetzer Bernhard Robben einen kongenialen Spielpartner gefunden hat. Über dem Tal ist voll mit Neologismen und urwüchsigen Sprachbildern, die der Vielfalt der Natur dort hoch oben im Norden Englands Rechnung tragen, sodass man selbst durch die Hügelketten und Berghänge zu stapfen meint:

Die Sonne schoss über einem Durcheinander weit entfernter Hügel auf, als wäre sie am Grunde eines Tals gefangen gewesen. Ich versuchte nicht zu blinzeln, als ihr Licht die Breitseite der Fells aufleuchten ließ. Der Höchste war Shinmara, dessen Gipfel oft bis weit in den Frühling hinein weiß blieb. Die Ostflanke war von Steinbrüchen durchrecht, mit Schieferminen, längst erschöpft, der Stein verkauft, für Dachpfannen oder Billardtische verbraucht. Nord- und Südhang fielen zu den Rippenbögen von Brimlaw Haws und Niskr Crag ab, bis sie in den Felsgrund der Irischen See übergingen.

Es hatte Augenblicke gegeben, in denen ich wollte, dass sich all das in Luft auflöste – die Berge, die Wanderwege, die Schafe, die Wandervögel, die Eremiten, der Regen, jetzt aber, in diesem Moment, hätte ich hier sitzen bleiben und meine Knochen zu Steinmandeln werden lassen können.

Scott Preston – Über dem Tal, S. 111

Dazu kommt ein Gefühl für Rhythmus, Sprache, Lakonie und stimmige Vergleiche, die sich in die übrige Welt des Romans großartig einbetten. Den Versuch, nachtschlaffe Schafe zu bewegen, vergleicht Preston etwa mit dem Vergleich, der das Verrücken von Nierensteine zu einer leichteren Aufgabe macht, als diese starren Tiere zu bewegen. Hier schreibt ein Autor, dessen souveränen Umgang mit Sprache auch durch seine vormalige Tätigkeit als Werbetexter und Student für Kreatives Schreiben bedingt sein dürfte.

Souveräne Registerwechsel

Auch als der Roman einen leichten Registerwechsel vollzieht und sich zu einem hochtourigen Thriller entwickelt, behält Scott Preston die erzählerischen Fäden souverän der Hand. Wie er die Natur in die Handlung einbettet und umgekehrt, dann auch noch das Tempo anzieht bis, sich das Ganze in einen atemlosen Thriller kehrt, der in Passagen wie der folgenden gipfelt, das ist schriftstellerisches Können:

Ich ließ das Steuer nach links fliegen, um Boden zu gewinnen, kurvte blindlings, schoss durch die spacken Gassen. Malte die Zäune silbrig, flog haarscharf dran vorbei. Sah auf die Uhr – wir hatten eine Stunde gebraucht. Wäre Noah bei uns gewesen, hätte er jedes verdammte Tier der Welt in seine Arche verfrachten können. Sah einen halben Lorbeerstrauch aus den Kotflügeln ragen, aber wir hatten es geschafft, waren wieder auf der richtigen Straße. Bog donnerte direkt hinter uns her.

Scott Preston – Über dem Tal, S. 153

Es ist eine solche Sprachmacht, wie man sie hierzulande vielleicht am ehesten von Andreas Pflüger kennen dürfte. Prestons Talent für Bilder und Stimmungen verbindet sich mit einem Gefühl für stimmige Charaktere und Landschaften, das mich wirklich beeindruckt hat. Dass es sich bei Über dem Tal um ein Debüt handelt, ist umso bemerkenswerter!


  • Scott Preston – Über dem Tal
  • Aus dem Englischen von Bernhard Robben
  • ISBN 978-3-10-397600-7 (S. Fischer)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter

Dass Weihnachten nicht unbedingt immer ein Fest der Liebe und der Harmonie ist, das beweisen viele Familienfeste landauf, landab. Bei den Edgeworths in Ivy Compton-Burnetts Roman Ein Haus und seine Hüter ist das nicht anders. Doch hier stellt das wenig besinnliche Weihnachtsfest nur der Auftakt zu einem ganzen Reigen aus Konflikten, Ehen und Toden dar, der sich im Laufe des Romans entspinnt und der der Autorin dem Vergleich mit Jane Austen auf Drogen eingetragen hat, wie das Magazin Harpers Bazar einmal schrieb. In der vorliegenden Ausgabe der Anderen Bibliothek kann man sich davon überzeugen, dass der Vergleich durchaus zutrifft.


Nein, dieses Weihnachtsfest lässt sich wirklich nicht gut an. Schon alleine, dass sich die Kinder und der Neffe nicht rechtzeitig zum Frühstück einfinden wollen, erzürnt den Patriarchen Duncan Edgeworth. Dann noch eine kritikwürdige Predigt in der Kirche, eine Nachbarin, die die Familie heimsucht, um persönlich noch einmal die Weihnachtsbotschaft und die Erwartungen eines Besuchs der Mette vorzutragen. Und zu allem Überfluss ist da auch noch ein – zumindest in den Augen des Familienvorstandes – unziemliches Buch, das sein Neffe Grant als Geschenk erhalten soll, welches Duncan Edgeworth aber lieber in den prasselnden Kamin wirft, anstelle es dem jungen Mann zu überlassen.

Ein wenig besinnliches Weihnachtsfest

Die Zeichen in Ivy Compton-Burnett ursprünglich 1935 erschienenen Roman Ein Haus und seine Hüter stehen wahrlich nicht auf Harmonie und Besinnlichkeit. Dass die gereizte Stimmung der ersten Seiten weit über die Festtage hinaus andauern wird, das zeigt sich dann auch recht rasch im Lauf des Romans. Denn im Laufe der knapp 370 Seiten Romanhandlung kommt es zu einem ganzen Reigen an Konflikten und Reibereien, die den eingangs zitierten Vergleich mit Jane Austen auf Drogen gar nicht so abwegig erscheinen lassen.

Es ist schon unglaublich, was in diesem Haus vor sich geht!

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 249

Der erzählerische Motor, der diesen Roman beständig antreibt, sind seine Dialoge. Sie sind es, die über allem stehen und auch die äußere Handlung in den Hintergrund treten lassen, obschon auch hier eine ganze Menge in Compton-Burnetts Roman passiert. Diese Gespräche und Dispute dominieren alle Szenen und stehen auch in ihrer Anmutung in der der Tradition des viktorianischen Romans einer Jane Austen. Man debattiert, verlobt sich, lästert, streitet, pflegt Gerüchte, hütet Geheimnisse und redet aneinander vorbei.

Ivy Compton-Burnett in der Tradition von Jane Austen

Ivy Compton-Burnett - Ein Haus und seine Hüter (Cover)

Doch wo es etwa in Jane Austens stilprägendem Roman Stolz und Vorurteil mit dem Tête-a-tête von Elizabeth Bennet und Mr. Darcy noch relativ gemächlich zugeht, geht Ivy Compton-Burnett in die Vollen. Die 1884 in Middlesex geborene Autorin schafft es, im Laufe des Romans ganze drei Ehen des Familienpatriarchen Duncan Edgeworth durchzuexerzieren. Dazu kommen diverse Todesfälle, ein Mordverdacht, ein potentiell uneheliches Kind und noch einiges mehr, was in den Dialogen der Figuren zutage tritt.

Verschmähte Liebe, enttäuschte Hoffnungen und nicht immer glaubwürdige erzählerische Volten stehen im Mittelpunkt von Ein Haus und seine Hüter, das den Zerbröckelungsprozess einer Familie zeigt, die auch einmal über drei Seiten hinweg debattieren kann, wo nun das Porträt der verstorbenen Hausherrin zu platzieren ist.

„Ich bezweifle, dass es hilfreich ist, sich der Familie gegenüber taub zu stellen.“

„Der Familie“, sagte Duncan tonlos. „Wir sind überhaupt keine richtige Familie mehr. Es fehlt die Kraft, die uns miteinander verbunden hat.“ Er seufzte schwer. „Du machst es mir nicht gerade leicht, diesen Tag zu beginnen.“

Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter, S. 112

Die Wiederentdeckung einer vergessenen Autorin

Zwar trifft der englische Titel A house and it’s head den Kern des Romans noch etwas genauer, da der herrische Hausvorstand Duncan Edgeworth mitsamt seiner immer neu ansetzenden Eheversuche das Gravitationszentrum dieses Romans bildet. Aber auch die deutlich offenere Variante der Haushüter im Deutschen hat seine Berechtigung, schließlich hat bewachen alle Mitglieder der Familie Edgeworth das Haus in unterschiedlichen Formen und hüten so ziemlich alles, außer ihre Zungen.

Das Haus wird hier zur Bühne des Misstrauens, des Verschweigens, der Geheimnisse und der Konflikte, was die drückende Enge dieses Romans immer wieder unterstreicht.

Mit Ein Haus und seine Hüter hat Ivy Compton-Burnett ein Werk geschrieben, das sich stark an die Tradition der viktorianischen Gesellschaftsromane anlehnt. Dieses Werk bildet den Auftakt zu einer erstaunlich produktiven Karriere, wie Hilary Mantel im Vorwort zu diesem Roman schreibt. Ganze achtzehn weitere Werke aus der Feder der 1969 verstorbenen Autorin sollten folgen, „die immer stimmiger und kraftvoller wurden, zugleich aber „den Gefahren einer allzu großen Leserschaft nicht ausgesetzt“ waren, wie ihr Freunde sagten. Ihr britischer Verleger schien ihre Arbeit nicht zu verstehen oder zu schätzen und unternahm nur wenig, um sie zu fördern“, so Mantel.

Fazit

Der herausgebenden Anderen Bibliothek unter Leitung von Nele Holdack und Rainer Wieland sowie Übersetzer Gregor Hens ist es nun zu verdanken, dass diese Gefahr der allzu großen Leserschaft jetzt deutlich zunimmt. Denn ihre deutsche Neuveröffentlichung macht es möglich, diese hierzulande reichlich unbekannte Autorin (noch einmal) neu zu entdecken und tief in diesen dialogstarken, nicht immer völlig plausiblen, aber doch in der Unterhaltungstradition von Jane Austen und Co. stehenden Roman einzutauchen. Die schlechte Laune und den Zwist an den Weihnachtstagen kann man dann einfach den Edgeworths überlassen, um nach der Lektüre selbst deutlich frohgemuter in die Feiertage zu gehen.


  • Ivy Compton-Burnett – Ein Haus und seine Hüter
  • Aus dem Englischen von Gregor Hens
  • 978-3-8477-0469-0 (Die Andere Bibliothek, Band 479)
  • 372 Seiten. Preis: 48,00 €
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David Mitchell – Utopia Avenue

Ein altes Bonmot des Musikjournalismus lautet, dass das Schreiben über Musik dem Tanzen von Architektur ähnele. Auch in David Mitchells Roman Utopia Avenue greift der britische Schriftsteller diese Sentenz auf und zeigt zugleich, dass diese grundfalsch ist. Denn Mitchell macht in seinem Roman Musik erlesbar. So liefert er in seinem jüngsten Roman die mitreißende Biografie einer fiktiven britischen Band, erweckt die 60er Jahre eindrucksvoll wieder zum Leben und schreibt nebenbei gleich noch am eigenen literarischen Kosmos weiter.


Fiktive Biografien erfreuen sich unter britischen Schriftstellern großer Beliebtheit. William Boyd etwas erfand mit Nat Tate einen fiktiven Künstler, dessen Leben er in einer Biografie präsentierte und gleich hinterher mithilfe von Größen wie David Bowie oder Gore Vidal die passende Party zu Ehren seines fiktiven Protagonisten gab, auf der viele der Anwesenden schworen, Nat Tate selber zu kennen.

Auch David Mitchell bewährt sich nun in diesem Genre, obgleich er keine Täuschungsmanöver wie sein Kollege William Boyd durchführt. Aber mit seiner Biografie einer fiktiven Band schafft er es ungemein plastisch, vom Rock ’n Roll der 60er Jahre zu erzählen und eine Band zu kreieren, deren Existenz man durchaus Glauben schenken könnte.

Die Karriere von Utopia Avenue

David Mitchell - Utopia Avenue (Cover)

Aus Sicht der vier Bandmitglieder erzählt er von der Entstehung der unvergleichlichen Band Utopia Avenue, die sich durch das Zutun des Musikmanagers Levon Frankland in London gründet. Er bringt den in Geldnöten schwebenden Bassisten Dean Holloway, den Schlagzeuger Griff Griffin, die Folksängerin Elf Holloway und den ebenso eigenwilligen wie außergewöhnlichen Gitarristen Jasper de Zoet zusammen.

Den Bandfindungsprozess, das Ringen um künstlerische Identität und den steinigen Weg zum Erfolg schildert Mitchell ausgiebig und wechselt dabei auch immer wieder zwischen den Perspektiven der einzelnen Bandmitgliedern. Intensiv beschwört sein Roman die Atmosphäre des Swinging London in den 60er Jahren herauf. Die Welt der verrauchten Kneipen und Musikstudios in Soho ist diejenige, in der sich der Roman in der ersten Hälfte bewegt, ehe sich die Welt mit weiteren Platten und Touren für die Künstler*innen über den Atlantik hinweg weitet.

Eintauchen in die Musikwelt der 60er Jahre

Utopia Avenue begutachtet die Kennzeichen einer vergangenen Musikwelt lange vor Streamingdiensten und Handymitschnitten von Konzerten. Die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Band zu sein und neidvoll auf erfolgreiche andere britische Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones zu blicken, das vermittelt Mitchell eindrücklich. Das mangelnde Verständnis im heimischen Umfeld, die Skepsis gegenüber diesen langhaarigen Musikern, die Kunst des Songwriting, Korruption im Musikbusiness und halbseidene Manager – all das greift sein Roman auf.

Zwischen Orten der Musikgeschichte wie dem Chelsea Hotel und dem Troubadour in Los Angeles und Cameos von Stars wie Frank Zappa bis hin zu David Bowie lässt einen der Roman tief in die Musikgeschichte eintauchen. Mitchell kreiert mit seiner fiktiven Bandbiografie einen in höchstem Maße unterhaltsamen Roman, der darüber hinaus noch ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk von David Mitchell ist.

Verbindungen zu anderen Werken David Mitchells

Denn natürlich lässt sich Utopia Avenue völlig unabhängig von anderen Werken David Mitchells lesen. Noch mehr Spaß macht die Lektüre allerdings, wenn man schon in den Genuss früherer Werke von David Mitchell kam. Allen voran Der Wolkenatlas und Die tausend Herbste des Jacob de Zoet sind als Titel zu nennen, auf die der jüngste Roman des Briten vielfach rekurriert.

„Elf! Elf! ELF! Elf! Elf! ELF!“ Die Frau führte den Mund an Elfs Ohr. „Ich bin Luisa Rey vom Spyglass Magazine, aber das ist eine andere Geschichte – viel Glück und das Atmen nicht vergessen.“

Elf atmet. „Okay.“

David Mitchell – Utopia Avenue, S. 472#

Nicht nur Größen der Musikgeschichte bestreiten in Utopia Avenue Gastauftritt – auch einige Figuren aus David Mitchells anderen Werken haben hier ihre Auftritte und leben somit über frühere Bücher hinaus. Luisa Rey, die in der zitierten Szene Elf Mut zuspricht, kennt man schon aus Der Wolkenatlas, wo sie die zentrale Figur einer der sechs im Buch miteinander verknüpften Geschichten war. Dieses Prinzip spinnt Mitchell weiter, allen voran, wenn sich die Handlung aus dem historisch-fantastischen Roman Die tausend Herbste des Jacob de Zoet in diesem Buch weiterspinnt.

Denn die Vergangenheit, sie ist natürlich nie vergangen. Und wenn es im Wolkenatlas heißt, dass wir mit anderen in der Vergangenheit und der Gegenwart verbunden sind, dann gilt das natürlich nicht nur für den bekanntesten Roman von Mitchell, sondern auch für sein Gesamtwerk und damit auch für Utopia Avenue. Im Falle von Jasper ist es die Vergangenheit seiner Vorfahren in Japan zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich mit ihm verbindet und diesen Roman ganz Mitchell-typisch auch ein Stück ins Fantastische gleiten lässt.

Fazit

So zupft Utopia Avenue Handlungsbögen aus anderen Werken mal etwas direkter, mal in kaschierter Form an und fügt das Buch neben seiner solitären Lesebarkeit auch in das übrige vielgestaltige Werk David Mitchells ein, ohne dass die Lesbarkeit des Buchs in irgendeiner Form darunter leiden würde.

Utopia Avenue ist eine höchst unterhaltsame Zeitkapsel, die die 60er Jahre in Soho und an anderen zentralen Stellen der Musikkultur dicht erlebbar aufschließt und die von Mitchells Stammübersetzer Volker Oldenburg wieder einmal fabelhaft ins Deutsche übertragen wurde. Auch ohne Kenntnis anderer Werke David Mitchells ist das ein großer Lesespaß, der sich durch die Kenntnisse anderer Werke aber noch einmal verstärkt und auch das Bedürfnis weckt, (wieder) tiefer in seinen Erzählkosmos einzutauchen.

Und nicht zuletzt beweist er, dass es eben doch geht, über Musik zu schreiben und sie alleine mit Worten fast hörbar zu machen.


  • David Mitchell – Utopia Avenue
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-498-00227-5 (Rowohlt)
  • 752 Seiten. Preis: 26,00 €
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Andrew O’Hagan – Caledonian Road

In seinem dickleibigen Gesellschaftsroman Caledonian Road wartet Andrew O’Hagan mit einer tröstlichen Nachricht auf. Mag manch einer auch über englische Adelstitel verfügen, in elitären Clubs verkehren oder ein gefragter Public Intellectual sein – das alles schützt auch nicht vor Unglück und sozialem Abstieg. Alles bröckelt und zerbröselt in diesem Roman . Das alles liest sich aber höchst unterhaltsam, bisweilen sogar vergnüglich.


Die Caledonian Road, sie ist eine im zentralen Londoner Stadtteil Islington gelegene Straße, die sich über eine Länge von circa 3 Kilometern erstreckt. Im Süden beginnt sie nahe des Bahnhofs King’s Cross und führt dann, von typischen mittelhohen Gebäuden und Geschäften gesäumt, in den Norden. Sogar ein Gefängnis findet sich entlang der Straße, ebenso wie der sogenannte Thornhill Square. Bei diesem handelt es sich um eine von Häusern umgebene Grünfläche, die einst im Zuge der Krönung Königin Elisabeth II. aufbereitet wurde und die der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

Einer der Anwohner an diesem schon längst von der Gentrifizierung erfassten Platz ist Campbell Flynn, Kunstprofessor und gefragter Autor und Redner, einer der prägenden Public Intellectuals des Vereinigten Königreichs.

Campbell Flynn, groß und elegant und zweiundfünfzig, war eine Sprengladung im Savile-Row-Anzug, ein Mann, der glaubte, seine Kindheit läge längst hinter ihm und er habe von ihr nichts mehr zu befürchten. Er hatte Geheimnisse, Sorgen, doch wenn er nun auf seiner Taxifahrt zum Fenster hinausschaute, sah er St Paul’s im strahlenden Sonnenlicht oben auf Ludgate Hill, und die Engel von London standen an seiner Seite.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 15

Der Zerfall eines Public Intellectual

Eine Eigentumswohnung am Thornhill Square, ein Wochenendhaus auf dem Land in Suffolk, eine beglückende Ehe mit seiner Frau Elizabeth und zwei Kindern, Verbindungen in die besten Kreise der Oberschicht bis hinein zum Hochadel, Podcasts, eine aufsehenerregende Vermeer-Biografie in seiner Publikationsliste. Was kann einen solchen Mann noch schrecken? Doch einiges, wie sich im Lauf von Andrew O’Hagans fast achthundert Seiten starken Romans zeigt.

Andrew O'Hagan - Caledonian Road (Cover)

Denn im Laufe eines Jahres zerbröckelt und zerbröselt so ziemlich alles, was sich Campbell Flynn aufgebaut hat, beziehungsweise das, was er sicher glaubte. Denn nicht nur das Vereinigte Königreich ist nach dem Brexit ein Schatten seiner selbst und liegt nun im Zuge der Corona-Pandemie danieder, auch seine obersten Repräsentanten haben schon bessere Zeiten gesehen. So irrlichtert nicht nur der englische Premier herum, auch die gesamt Oberschicht in Campbells Umfeld scheint ihren Fokus verloren zu haben.

Russische Oligarchen, die sich mitsamt ihrem Nachwuchs in die Oberschicht eingekauft haben, Industrielle, die nicht nur beruflich danebengreifen oder der alte Adel, der sich mal auf ein schwimmendes Boot flüchtet, mal auf riskante Deals einlässt: Andrew O’Hagan webt im Laufe seines Romans einen ganzen Kosmos aus Figuren, die so anders sind, als es die Klischee der britischen Oberschicht wollen. Nicht nur, dass die Figuren so ziemlich alles konterkarieren, wofür die althergebrachte Britishness steht. Auch im Abwärtsstrudel sind O’Hagan Figuren vereint.

Ein klug verzahnter Gesellschaftsroman

Doch konzentriert sich Caledonian Road dabei nicht nur auf die Oberschicht im Verfall – auch die Mittelschicht bis hin zum Gangsta-Nachwuchs porträtiert O’Hagan in seinem klug verzahnten Gesellschaftsroman. Mittendrin findet sich Campbell, der von Geldsorgen geplant unter Pseudonym ein Männlichkeitsbuch namens Männer, die in Autos weinen verfasst hat. All die Interviews, Vorworten für Ausstellungskataloge oder Podcast-Staffeln bringen keine große Besserung seines Zustandes. Allerdings hat er im Studenten Milo einen Ausweg für seine aktuelle Misere gefunden, schließlich bringt diese ihm mit seinem Furor als Schwarzer auf die weiße Mehrheitsgesellschaft auf neue Ideen, wenn sich schon die die finanziellen und häuslichen Probleme samt Untermieterin nicht so wirklich verdrängen lassen.

Campbell starrte das alles an, er war gefangen in dem riesigen Netz der Verwicklungen, sein Verstand konnte diesen Wust an Ereignissen nicht mehr verarbeiten.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 702

Doch je mehr er sich von Milo in dessen Theorien einspinnen lässt, umso weiter entfernt er sich auch von seiner eigenen Familie. Das Buchprojekt hat sich sowieso schon verselbstständigt und ist kaum mehr einzufangen – zur Freude der Leserinnen und Leser. Sie dürfen in O’Hagans Buch die zugegeben nicht sonderlich neue, aber enorm unterhaltsame und tröstliche Binse verfolgen, dass auch andere Menschen Probleme haben, selbst wenn sie sich weit vor einem auf der gesellschaftlichen Leiter befinden.

Diese Gemengelage an Verwicklungen und Entwicklungen trägt den erzählerischen Bogen über die 800 Seiten locker. Andrew O’Hagan, der als Editor-at-Large bei der London Review of Books arbeitet, zeigt eindrücklich, dass seine Beschäftigung mit anderen Literaten reichlich Früchte getragen hat.

Fazit

Leicht, beschwingt, dann auch wieder traurig und fatal fesselt Caledonian Road über seine gesamte Lauflänge. Andrew O’Hagan gelingt ein faszinierender Gesellschaftsroman, der das ganze Panorama der britischen Gesellschaft von Möchtegern-Gangstern bis hinauf in die adelige Oberschicht einfängt und mit Campbell Flynn einen Starintellektuellen in den Mittelpunkt stellt, dessen Fall und Fatalismus man gerne nachverfolgt. Selten war ein Taumeln durchs eigene Leben in diesem Bücherherbst so unterhaltsam wie hier!


  • Andrew O’Hagan – Caledonian Road
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-9881600-3-4 (Park x Ullstein)
  • 784 Seiten. Preis: 30,00 €
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Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Ist es der Verbleib des Bernsteinzimmers? Oder die Hintergründe des Kennedy-Attentats? Die Formel für den nächsten Bestseller auf dem Buchmarkt? Nein, Das größte Rätsel aller Zeiten, das der Titel von Samuel Burrs Debütroman ankündigt, ist dann doch etwas profaner. So will der Waise Clayton Stumper das Rätsel seiner eigenen Herkunft lösen. Einst ausgesetzt in einer Hutschachtel vor dem Haus einer Gemeinschaft von Rätselmacher ist es nun an der Zeit zu ergründen, woher er kommt und was ihn ausmacht. Den Weg dabei weisen ihm natürlich – Rätsel.


Kreuzworträtsel, Sudokus, große Rätselhefte in Bahnhofsbuchhandlungen, kleine Geduldsspiele – sie alle dienen dem Zeitvertreib und sind höchst populär. Wer aber stellt sie eigentlich her? Die Antwort in Samuel Burrs Romanerstling lautet: die Gemeinschaft der Rätselmacher.

Was vielleicht nach einer elitären Loge klingt, entpuppt sich aber aber als Zusammenschluss einer Gemeinschaft von Eigenbrötlern und Spezialisten verschiedener Disziplinen, die gemeinsam in einem Anwesen in der Grafschaft Bedfordshire leben.

Samuel Burr - Das größte Rätsel aller Zeiten (Cover)

Vom Labyrinthbauer über eine Quizkönigin bis zu einem Maler von Puzzles reicht die bunt zusammengewürfelte Truppe. Zusammengehalten wird sie von Pippa Allsbrook, die sich ihrerseits für die Erstellung kniffliger Kreuzworträtsel kenntlich zeichnet. Einst rief sie die Gemeinschaft in London ins Leben und führte ganz unterschiedliche Menschen zusammen, mittlerweile aber sind fast vierzig Jahre seit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher ins Land gezogen.

Die Gemeinschaft ist hoch betagt, einige Mitglieder der Gruppe hat inzwischen auch das Zeitliche gesegnet. So nun auch Pippa, die als Spiritus Rector die Gruppe der Rätselerfinder*innen zusammengehalten hat. Als echte Rätselkönigin hinterlässt sie dem jungen Clayton Stumper dabei als Vermächtnis natürlich ein Rätsel.

Das Rätsel der Herkunft

Dieses Rätsel dreht sich ganz um dessen eigene Herkunft. Einst wurde er vor dem Haus der Rätselmacher*innen ausgesetzt und von der Gemeinschaft adoptiert. Eine Lösung für die Frage seiner Herkunft gab es allerdings nie. Und so begibt er sich nun auf eine finale Schnitzeljagd, um endlich das zumindest für ihn größte Rätsel aller Zeiten zu lösen, nämlich die Frage seiner Herkunft.

„Was ich nicht verstehe“, sagte Clayton, „warum man so wenig darüber weiß, woher ich komme.“

„Du hast uns überfordert“, erwiderte Earl mit einem Schulterzucken. „Du bist das Rätsel, das wir niemals lösen konnten.“

Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Und so begibt sich Clayton auf eine Schnitzeljagd durch London, während Samuel Burr parallel immer wieder zurückspringt in die Zeit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher und deren Genese zeigt.

Ein literarisches Baiser

Das ist unterhaltsam gemacht und liest sich in Teilen, als hätten Freya Sampson, J. Paul Henderson und Alex Hay gemeinsame Sache gemacht. Allerdings ist Das größte Rätsel aller Zeiten für meinen Geschmack etwas zu harmlos, um wirklich überzeugen zu können. Fraglos, es ist ein netter Roman, aber ein wenig rätselhafter und weniger flach hätte es schon sein dürfen.

In Zeiten, in denen Escape Rooms boomen, das Miträseln in Krimis Hochkonjunktur hat und Nervenkitzel gefragt ist, konzentriert sich Samuel Burr auf eine harmlose Identitätssuche und setzt statt auf Spannung und Rätselraten lieber auf eine queere Liebesgeschichte. Allenfalls die einzelne zu erratende Kreuzworträtselbegriffe, die den Kapiteln der Spurensuche Claytons vorangesetzt sind, sind für Rätselfans ein Appetitanreger, ansonsten wird alles brav ausbuchstabiert und die Klärung der Rätsel allein dem Romanpersonal überantwortet. Von Claytons Spurensuche bleibt im Lauf des Romans kein einzig rätselhaftes oder faszinierendes Detail für die Leser*innen zurück, das zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit Plot und Charakter einlüde.

So gleicht dieser Debütroman einem literarisches Baiser – nimmt sich spektakulär aus, ist mit knuffig-schrulligen Figuren gezuckert, sieht auch äußerlich toll aufgemacht aus und lässt sich schnell verschlingen – übrig bleibt aber nicht sonderlich viel. Der pompöse Titel des Buchs weckt hier Erwartungen, die der Roman dann selbst nicht erfüllen kann und will.

Fazit

Eine nette Geschichte, aber mitnichten Das größte Rätsel alles Zeiten. Das ist leider auch schon alles, was ich über Samuel Burrs Debütroman sagen kann.


  • Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • ISBN 978-3-8321-8223-6 (Dumont)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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