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Andrew O’Hagan – Caledonian Road

In seinem dickleibigen Gesellschaftsroman Caledonian Road wartet Andrew O’Hagan mit einer tröstlichen Nachricht auf. Mag manch einer auch über englische Adelstitel verfügen, in elitären Clubs verkehren oder ein gefragter Public Intellectual sein – das alles schützt auch nicht vor Unglück und sozialem Abstieg. Alles bröckelt und zerbröselt in diesem Roman . Das alles liest sich aber höchst unterhaltsam, bisweilen sogar vergnüglich.


Die Caledonian Road, sie ist eine im zentralen Londoner Stadtteil Islington gelegene Straße, die sich über eine Länge von circa 3 Kilometern erstreckt. Im Süden beginnt sie nahe des Bahnhofs King’s Cross und führt dann, von typischen mittelhohen Gebäuden und Geschäften gesäumt, in den Norden. Sogar ein Gefängnis findet sich entlang der Straße, ebenso wie der sogenannte Thornhill Square. Bei diesem handelt es sich um eine von Häusern umgebene Grünfläche, die einst im Zuge der Krönung Königin Elisabeth II. aufbereitet wurde und die der Öffentlichkeit zur Verfügung steht.

Einer der Anwohner an diesem schon längst von der Gentrifizierung erfassten Platz ist Campbell Flynn, Kunstprofessor und gefragter Autor und Redner, einer der prägenden Public Intellectuals des Vereinigten Königreichs.

Campbell Flynn, groß und elegant und zweiundfünfzig, war eine Sprengladung im Savile-Row-Anzug, ein Mann, der glaubte, seine Kindheit läge längst hinter ihm und er habe von ihr nichts mehr zu befürchten. Er hatte Geheimnisse, Sorgen, doch wenn er nun auf seiner Taxifahrt zum Fenster hinausschaute, sah er St Paul’s im strahlenden Sonnenlicht oben auf Ludgate Hill, und die Engel von London standen an seiner Seite.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 15

Der Zerfall eines Public Intellectual

Eine Eigentumswohnung am Thornhill Square, ein Wochenendhaus auf dem Land in Suffolk, eine beglückende Ehe mit seiner Frau Elizabeth und zwei Kindern, Verbindungen in die besten Kreise der Oberschicht bis hinein zum Hochadel, Podcasts, eine aufsehenerregende Vermeer-Biografie in seiner Publikationsliste. Was kann einen solchen Mann noch schrecken? Doch einiges, wie sich im Lauf von Andrew O’Hagans fast achthundert Seiten starken Romans zeigt.

Andrew O'Hagan - Caledonian Road (Cover)

Denn im Laufe eines Jahres zerbröckelt und zerbröselt so ziemlich alles, was sich Campbell Flynn aufgebaut hat, beziehungsweise das, was er sicher glaubte. Denn nicht nur das Vereinigte Königreich ist nach dem Brexit ein Schatten seiner selbst und liegt nun im Zuge der Corona-Pandemie danieder, auch seine obersten Repräsentanten haben schon bessere Zeiten gesehen. So irrlichtert nicht nur der englische Premier herum, auch die gesamt Oberschicht in Campbells Umfeld scheint ihren Fokus verloren zu haben.

Russische Oligarchen, die sich mitsamt ihrem Nachwuchs in die Oberschicht eingekauft haben, Industrielle, die nicht nur beruflich danebengreifen oder der alte Adel, der sich mal auf ein schwimmendes Boot flüchtet, mal auf riskante Deals einlässt: Andrew O’Hagan webt im Laufe seines Romans einen ganzen Kosmos aus Figuren, die so anders sind, als es die Klischee der britischen Oberschicht wollen. Nicht nur, dass die Figuren so ziemlich alles konterkarieren, wofür die althergebrachte Britishness steht. Auch im Abwärtsstrudel sind O’Hagan Figuren vereint.

Ein klug verzahnter Gesellschaftsroman

Doch konzentriert sich Caledonian Road dabei nicht nur auf die Oberschicht im Verfall – auch die Mittelschicht bis hin zum Gangsta-Nachwuchs porträtiert O’Hagan in seinem klug verzahnten Gesellschaftsroman. Mittendrin findet sich Campbell, der von Geldsorgen geplant unter Pseudonym ein Männlichkeitsbuch namens Männer, die in Autos weinen verfasst hat. All die Interviews, Vorworten für Ausstellungskataloge oder Podcast-Staffeln bringen keine große Besserung seines Zustandes. Allerdings hat er im Studenten Milo einen Ausweg für seine aktuelle Misere gefunden, schließlich bringt diese ihm mit seinem Furor als Schwarzer auf die weiße Mehrheitsgesellschaft auf neue Ideen, wenn sich schon die die finanziellen und häuslichen Probleme samt Untermieterin nicht so wirklich verdrängen lassen.

Campbell starrte das alles an, er war gefangen in dem riesigen Netz der Verwicklungen, sein Verstand konnte diesen Wust an Ereignissen nicht mehr verarbeiten.

Andrew O’Hagan – Caledonian Road, S. 702

Doch je mehr er sich von Milo in dessen Theorien einspinnen lässt, umso weiter entfernt er sich auch von seiner eigenen Familie. Das Buchprojekt hat sich sowieso schon verselbstständigt und ist kaum mehr einzufangen – zur Freude der Leserinnen und Leser. Sie dürfen in O’Hagans Buch die zugegeben nicht sonderlich neue, aber enorm unterhaltsame und tröstliche Binse verfolgen, dass auch andere Menschen Probleme haben, selbst wenn sie sich weit vor einem auf der gesellschaftlichen Leiter befinden.

Diese Gemengelage an Verwicklungen und Entwicklungen trägt den erzählerischen Bogen über die 800 Seiten locker. Andrew O’Hagan, der als Editor-at-Large bei der London Review of Books arbeitet, zeigt eindrücklich, dass seine Beschäftigung mit anderen Literaten reichlich Früchte getragen hat.

Fazit

Leicht, beschwingt, dann auch wieder traurig und fatal fesselt Caledonian Road über seine gesamte Lauflänge. Andrew O’Hagan gelingt ein faszinierender Gesellschaftsroman, der das ganze Panorama der britischen Gesellschaft von Möchtegern-Gangstern bis hinauf in die adelige Oberschicht einfängt und mit Campbell Flynn einen Starintellektuellen in den Mittelpunkt stellt, dessen Fall und Fatalismus man gerne nachverfolgt. Selten war ein Taumeln durchs eigene Leben in diesem Bücherherbst so unterhaltsam wie hier!


  • Andrew O’Hagan – Caledonian Road
  • Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
  • ISBN 978-3-9881600-3-4 (Park x Ullstein)
  • 784 Seiten. Preis: 30,00 €
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Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Ist es der Verbleib des Bernsteinzimmers? Oder die Hintergründe des Kennedy-Attentats? Die Formel für den nächsten Bestseller auf dem Buchmarkt? Nein, Das größte Rätsel aller Zeiten, das der Titel von Samuel Burrs Debütroman ankündigt, ist dann doch etwas profaner. So will der Waise Clayton Stumper das Rätsel seiner eigenen Herkunft lösen. Einst ausgesetzt in einer Hutschachtel vor dem Haus einer Gemeinschaft von Rätselmacher ist es nun an der Zeit zu ergründen, woher er kommt und was ihn ausmacht. Den Weg dabei weisen ihm natürlich – Rätsel.


Kreuzworträtsel, Sudokus, große Rätselhefte in Bahnhofsbuchhandlungen, kleine Geduldsspiele – sie alle dienen dem Zeitvertreib und sind höchst populär. Wer aber stellt sie eigentlich her? Die Antwort in Samuel Burrs Romanerstling lautet: die Gemeinschaft der Rätselmacher.

Was vielleicht nach einer elitären Loge klingt, entpuppt sich aber aber als Zusammenschluss einer Gemeinschaft von Eigenbrötlern und Spezialisten verschiedener Disziplinen, die gemeinsam in einem Anwesen in der Grafschaft Bedfordshire leben.

Samuel Burr - Das größte Rätsel aller Zeiten (Cover)

Vom Labyrinthbauer über eine Quizkönigin bis zu einem Maler von Puzzles reicht die bunt zusammengewürfelte Truppe. Zusammengehalten wird sie von Pippa Allsbrook, die sich ihrerseits für die Erstellung kniffliger Kreuzworträtsel kenntlich zeichnet. Einst rief sie die Gemeinschaft in London ins Leben und führte ganz unterschiedliche Menschen zusammen, mittlerweile aber sind fast vierzig Jahre seit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher ins Land gezogen.

Die Gemeinschaft ist hoch betagt, einige Mitglieder der Gruppe hat inzwischen auch das Zeitliche gesegnet. So nun auch Pippa, die als Spiritus Rector die Gruppe der Rätselerfinder*innen zusammengehalten hat. Als echte Rätselkönigin hinterlässt sie dem jungen Clayton Stumper dabei als Vermächtnis natürlich ein Rätsel.

Das Rätsel der Herkunft

Dieses Rätsel dreht sich ganz um dessen eigene Herkunft. Einst wurde er vor dem Haus der Rätselmacher*innen ausgesetzt und von der Gemeinschaft adoptiert. Eine Lösung für die Frage seiner Herkunft gab es allerdings nie. Und so begibt er sich nun auf eine finale Schnitzeljagd, um endlich das zumindest für ihn größte Rätsel aller Zeiten zu lösen, nämlich die Frage seiner Herkunft.

„Was ich nicht verstehe“, sagte Clayton, „warum man so wenig darüber weiß, woher ich komme.“

„Du hast uns überfordert“, erwiderte Earl mit einem Schulterzucken. „Du bist das Rätsel, das wir niemals lösen konnten.“

Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten

Und so begibt sich Clayton auf eine Schnitzeljagd durch London, während Samuel Burr parallel immer wieder zurückspringt in die Zeit der Gründung der Gemeinschaft der Rätselmacher und deren Genese zeigt.

Ein literarisches Baiser

Das ist unterhaltsam gemacht und liest sich in Teilen, als hätten Freya Sampson, J. Paul Henderson und Alex Hay gemeinsame Sache gemacht. Allerdings ist Das größte Rätsel aller Zeiten für meinen Geschmack etwas zu harmlos, um wirklich überzeugen zu können. Fraglos, es ist ein netter Roman, aber ein wenig rätselhafter und weniger flach hätte es schon sein dürfen.

In Zeiten, in denen Escape Rooms boomen, das Miträseln in Krimis Hochkonjunktur hat und Nervenkitzel gefragt ist, konzentriert sich Samuel Burr auf eine harmlose Identitätssuche und setzt statt auf Spannung und Rätselraten lieber auf eine queere Liebesgeschichte. Allenfalls die einzelne zu erratende Kreuzworträtselbegriffe, die den Kapiteln der Spurensuche Claytons vorangesetzt sind, sind für Rätselfans ein Appetitanreger, ansonsten wird alles brav ausbuchstabiert und die Klärung der Rätsel allein dem Romanpersonal überantwortet. Von Claytons Spurensuche bleibt im Lauf des Romans kein einzig rätselhaftes oder faszinierendes Detail für die Leser*innen zurück, das zu einer tiefergehenden Beschäftigung mit Plot und Charakter einlüde.

So gleicht dieser Debütroman einem literarisches Baiser – nimmt sich spektakulär aus, ist mit knuffig-schrulligen Figuren gezuckert, sieht auch äußerlich toll aufgemacht aus und lässt sich schnell verschlingen – übrig bleibt aber nicht sonderlich viel. Der pompöse Titel des Buchs weckt hier Erwartungen, die der Roman dann selbst nicht erfüllen kann und will.

Fazit

Eine nette Geschichte, aber mitnichten Das größte Rätsel alles Zeiten. Das ist leider auch schon alles, was ich über Samuel Burrs Debütroman sagen kann.


  • Samuel Burr – Das größte Rätsel aller Zeiten
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • ISBN 978-3-8321-8223-6 (Dumont)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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Bernardine Evaristo – Zuleika

Das Leben einer jungen schwarzen Teenagerin in London – und das zur Zeit der Römer auf der britischen Insel. Davon erzählt die Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Zuleika aus dem Jahr 2001, der nun erstmals in der Übersetzung von Tanja Handels vorliegt. Dabei überrascht vor allem die Form von Evaristos Erzählen.


Zuleika, so heißt die junge Frau, die uns in Evaristos Roman ihr Leben präsentiert. Einst kamen ihre Eltern aus Khartum nach Londinium und nun hat es das nubische Mädchen- oder besser eigentlich ihr Vater – geschafft. Denn der mächtige Patrizier Lucius Aurelius Felix hat sich Zuleika zur Frau erwählt.

Das Schicksal der jungen Zuleika

Ein Umstand, der Zuleikas Vater jubeln lässt, in dem gerade einmal elfjährigen Mädchen allerdings eher Abscheu und Ekel auslöst, schließlich ist jener Felix „dreimal so alt und breit wie ich“. Mit weiblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung ist es im London des Jahres 211 nach Christus aber zumindest anfänglich nicht weit her. So wird sie, nachdem Felix Zuleika beim Baden ansichtig geworden ist, mehr oder minder als Vertragsgegenstand zwischen Vater und Patrizier behandelt und ausgehandelt.

Als Frau des Honoratioren, Großgrundbesitzers und Handlungsreisenden findet das Mädchen Aufnahme in dessen luxuriöser Londoner Villa am Walbrook River, was sie als Angehörige einer völlig anderen Gesellschaftsschicht anfangs mehr als befremdet. Kaum dem gemeinsamen Spiel mit ihrer Freundin Alba auf den Straßen entwachsen wird sie nun gebadet, findet sich in Sänften wieder, hat Personal, wird geschminkt und speist erlesene Köstlichkeiten.

Sie wird zu einer Art schwarzem It-Girl, woran Zuleika zunächst Gefallen findet. Doch die anfängliche Überwältigung ihres neuen Lebens weicht bald einer Langweile, ist doch auch die römische Oberschicht Londons in ihrem Streben nach Luxus und Überfluss eigentlich recht öde und berechenbar. Doch dann fällt der Blick von niemand geringerem als dem römischen Imperator Septimius Severus bei einem seiner Aufenthalte in Britannien auf die junge schwarze Frau…

Mädchen, Frau etc. im London der Römerzeit

Im Kern ist Zuleika die Geschichte eines jungen schwarzen Mädchens, das in der britischen Gesellschaft zur Zeit der Römer seinen Platz sucht und mehrere Rollen ausprobiert – oder der besser gesagt: dem von der patriarchalen Gesellschaft mehrere Rollen zugeteilt werden: Kind mit Migrationshintergrund, Teenagerin, gehorchende Ehefrau und verführerische Geliebte, mal passiv, mal aktiv gestaltend.

Bernardine Evaristo - Zuleika (Cover)

Mit dieser Vielzahl an Rollen und Lebensentwürfe schließt Bernardine Evaristo an ihren mit dem Bookerprize ausgezeichneten Roman Mädchen, Frau, etc. an, für den Evaristo 2019 die Ehrung erhielt. Obgleich man diese Reihenfolge eigentlich umdrehen muss, denn Zuleika erschien im Original bereits 2001, also achtzehn Jahre vor dem Buch, das Evaristo auch hierzulande ihren Durchbruch bescherte.

Dank dieses Erfolgs von Mädchen, Frau, etc. erschienen nun kontinuierlich weitere deutsche Übersetzungen aus dem Oeuvre Evaristos, darunter auch nun eben auch die Übersetzung dieses Frühwerks durch die Evaristo-erfahrene Übersetzerin Tanja Handels.

Was macht das Buch abseits der Themen aber jetzt so besonders? Es ist die Sprache und Form – denn Bernardine Evaristo greift wie jüngst etwa Maggie Milner in Paare oder vor einigen Jahren Christoph Ransmayr in Der fliegende Berg auf die Form des Versromans zurück, um Zuleika ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Die Form eines Versromans

Zumeist in reimfreien Paaren bietet uns Zuleika ihre Geschichte dar, unterbrochen durch Einschübe wie kleine Gedichte in mal gebundener oder mal freier Form. Dem starren lyrischen Formskelett des Verses steht dabei eine Freiheit in Stil und Gestaltung entgegen, die sich in der Sprache Evaristos selbst fortsetzt.

Denn Zuleika kennzeichnet eine gerade aberwitzige und völlig synthetische Verbindung von alter römischer und moderner Welt, was sich in der Sprache und dem Stil des Buchs niederschlägt. So gibt es in Evaristos Version des römischen Londinium Coffee to go, man trägt Baggy Tuniken oder „Puff Daddy Fabius blies die Tuba“ (S. 125). Hier verschmelzen Elemente des Gangstarap, des Versepos, lateinische Vokabeln und Floskeln mit einer zeitgenössischen Sprache, die diese Brüche ausgiebig zelebriert.

Die Kunst von Evaristo ist nun, dass sich trotz aller Brüche und Künstlichkeit des Ganzen der Versroman doch zu einem erstaunlich glaubwürdigen und gut lesbaren Ganzen verbindet, der nachvollziehbar und anschaulich von der Lebenswelt der jungen schwarzen Zuleika in einer feindlichen Umgebung erzählt.

Fazit

Fremdbestimmung, Emanzipation, die Kraft der Verführung und die notwendige Anpassung an immer neue Situation sind Themen, die dieses Buch kennzeichnen und die sich gerade durch die hochgradig artifizielle, von Tanja Handels fabulös ins Deutsche hinübergerettete Sprache von anderen Werken mit ähnlichen Themen abheben. Hier findet die Lebenswelt der Römer zusammen mit einer geradezu postmodernen Sprache, die von ihren Brüchen, Widersprüchen und kleinen Anspielungen von Shakespeare bis zur Bibel lebt.

Ein wildes Buch, dessen Themen und Sprache trotz seines vordergründig historischen Settings auch dreiundzwanzig Jahre nach dem ursprünglichen Erscheinen absolut zeitgemäß und entdeckenswert sind!


  • Bernardine Evaristo – Zuleika
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50238-1 (Tropen)
  • 264 Seiten. Preis: 25,00 €
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Suzie Miller – Prima Facie

Vom Ein-Personen-Theaterstück zum Roman. Suzie Miller legt mit Prima Facie die Umformung ihres erfolgreichen Schauspiels in Prosa vor und erzählt engagiert von sexuellem Missbrauch und den Fehlern im Rechtssystem, die die Beweis- und Prozessführung erschweren. Prosa, die ihre Herkunft als Bühnenstück nicht ganz verleugnen kann – und die aber dennoch eine eigene erzählerische Form findet.


Prima Facie hat eine spannende Entstehungsgeschichte hinter sich. So war die Australierin Suzie Miller lange Zeit als Strafverteidigerin tätig, ehe sie mit Prima Facie ein Bühnenstück schrieb, das gleich fünfmal für den prestigeträchtigen englischen Theaterpreis der Olivier Awards nominiert wurde und schließlich eine Auszeichnung als bestes neues Stück erhielt. Dazu noch ein Olivier Award für die Schauspielerin Jodie Comer, die in dem furiosen Solo Anklägerin, Gericht, Opfer und Verteidigung zugleich spielt und die für die Broadway-Adaption gleich auch noch einen Tony-Award erhielt.

Viel Vorschusslorbeeren also für das Stück, das von Australien über das Londoner Westend bis nach Amerika seinen Siegeszug antrat – und das auch hierzulande auf den Spielplänen der Theater zu finden ist, etwa im Münchner Residenztheater.

Nun also eine Buchversion, für die Autorin Suzie Miller nun ein langer Entstehungsprozess ihres Stoffs zu einem Ende kommt, wie sie im Nachwort ihres Romans schreibt. Denn dem Theaterstück ging ein langer Schreibprozess voraus, ehe Miller die theatrale Version dann in einen Roman zurückverwandelte, den es jetzt dank der Übersetzerin Katharina Martl und des Kjona-Verlags auch auf Deutsch zu lesen gibt.

Vom Theaterstück zum Buch

Statt dem intensiven 90-Minuten Stück arbeitet Suzie Miller in ihrem Stück mit vielen Rückblenden, die die erste Hälfte des Buchs bestimmen. In Damals und Vorher betitelten Rückblenden lernen wir die Strafverteidigerin Tessa Ensler kennen.

Suzie Miller - Prima Facie (Cover)

Selbst aus der englischen Arbeiterklasse stammend, hat sie sich mit viel Willen und Talent emporgearbeitet zu einer der besten jungen Strafverteidigerinnen, die am Old Bailey genannten Strafgerichtshof in London ihren Dienst tun. Ihre Mutter und ihren Bruder hat sie ebenso wie ihre Kindheit in einer tristen Wohnanlage im Norden von London längst hinter sich gelassen.

Nach einem Jura-Studium in Cambridge ist sie nun Teil einer Kanzlei, in der talentierte junge Rechtsanwält*innen ihrem Tagesgeschäft nachgehen und sich gegenseitig pushen. Zum Unverständnis ihrer Mutter ist die Freilassung von Beklagten nun das Tageswerk von Tessa. Genaue Vorbereitungen auf Prozesse mit messerscharfen Zeugenvernehmungen vor Gericht bestimmen Tessas Alltag. Oftmals gelingt es der jungen Anwältin mit ihrer ausgefeilten Vernehmungstechnik, eine Freilassung oder eine Einstellung der Prozesse zugunsten ihrer Mandanten zu erwirken.

Die Frage der Schuld

Ob jemand schuldig ist, das interessiert Tessa nicht, besser gesagt will sie es gar nicht wissen, um ihren Job gut zu machen

Selbst wenn ich zu wissen glaube, was mein Mandant getan oder nicht getan hat, hat er noch immer das Recht, seine Geschichte vor Gericht zu bringen, das Recht, angehört zu werden. Sobald du anfängst, deinen Mandanten zu verurteilen, bist du am Arsch. Du verlierst dein Fundament. Das Rechtssystem ist verloren. Du bist verloren.

Suzie Miller – Prima Facie, S. 75

In Prozessen um sexuellen Missbrauch nimmt sie die Zeuginnen gnadenlos ins Verhör. Mit spitzfindigen Fragen sät sie bei den Jurys höchst erfolgreich Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Wenn es der Sache dient, hat Tessa keine großen Skrupel, ihre Geschlechtsgenossinen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, wenn es der Sache und ihren Mandaten dient.

Dann kommt das Buch nach seiner sehr langen Exposition in der zweiten Hälfte des Romans aber doch noch zum Wendepunkt einer bitteren Pointe, die zuvor sorgsam vorbereitet wurde. Denn Tessa widerfährt das, was sie bei anderen jungen Frauen stets anzuzweifeln wusste – sie wird von einem Kollegen vergewaltigt, nachdem alles zuvor nach einem aufregenden Flirt ausgesehen hatte. Und plötzlich findet sich Tessa auf der anderen Seite im Gerichtssaal wieder und wird von der Strafverteidigerin zur Zeugin der Anklage, die nun selbst unter juristischen Beschuss genommen wird.

Dass Prima Facie ein Theaterstück war, das vermittelt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs. Minutiös beschreibt Suzie Miller die Mechaniken des Prozesses, den sie ähnlich wie ihr schreibender Kollege Ferdinand von Schirach qua beruflichem Vorleben inwendig kennt.

Schuld und Bühne

Die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tessas Vergewaltiger, die Vernehmung Tessas als Zeugin, die Anwesenheit von Familie und Beklagtem im Gerichtssaal, all das schildert Suzie Miller nahezu in Echtzeit. Der Gerichtssaal wird hier zur Bühne, auf der noch so viel mehr als alleine Tessas Fall verhandelt wird.

Denn Prima Facie findet im Rechtsmittel des Voire Dire, einer Spezialität des englischen Prozessrechts, zum Höhepunkt. Nachdem sich Tessa nun einmal selbst der erniedrigenden Vernehmung und den unverschämten Suggestionen eines Kronanwalts unterziehen musste, kann sie nicht mehr an sich halten und nutzt das Rechtsmittel, um so über die Vernehmungsfragen hinaus selbst Stellung zu ihrem Fall zu nehmen. Sie hält einen eigentlich zwar spontanen, und doch bühnenreifen, flammenden, höchst emotionalen und zugleich intellektuell durchdrungen Monolog, für den die Jury aus dem Saal geschickt wird, um nicht beeinflusst zu werden.

All die Erfahrungen auf beiden Seiten der Missbrauchsprozesse, das gerade Erlebte, das schreiende Unrecht, dass jede dritte Frau in England sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nur jede zehnte einen solchen Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt, all das fließt in diese zentrale Szene ein, die dem Roman schon fast auch etwas Aktivistisches gibt.

Hier meint man selbst im Publikum zu sitzen, wenn Tessa aus dem Zeugenstand heraus das patriarchal geprägte Rechtssystem, die Unmöglichkeit einer klaren Beweisführung und den falschen Umgang mit den Opfern solcher Übergriffe anprangert. Hätte es Suzie Miller geschafft, der ersten Hälfte auch ein wenig der Dringlichkeit dieses Appells zu verleihen, hätte Prima Facie noch ein Stück mehr gewonnen.

Fazit

So tritt in Prima Facie stilistisch und gestalterisch alles hinter den klaren Höhepunkt des Romans im Gerichtssaal zurück. Etwas weniger subtil als beispielsweise Ian McEwan in Kindeswohl wird auch in Prima Facie der Gerichtssaal zur Bühne für die ganz großen gesellschaftlichen Fragen, unseres Miteinanders und der Lücken im Rechtssystem. Trotz der vielen Rückblenden sticht das Buch auf der Ebene der Sprache nicht wirklich hervor, da es Suzie Miller nicht ganz gelingt, einen eigenen Sound zu kreieren, sondern in einer stilistisch recht uniformer Schilderung der Vorgänge und der Figurenzeichnung zu verharren.

Davon abgesehen ist das Buch wirklich engagiert und legt seinen Finger in eine Wunde unseres Rechtssystems. So schärft die schreibende Anwältin Suzie Miller zusammen mit einigen anderen Werken in letzter Zeit das Bewusstsein für das, was sexueller Missbrauch und seine Aufarbeitung für Betroffene bedeuten kann – nicht nur vor dem Hintergrund des skandalösen Freispruch Harry Weinsteins in den USA vor wenigen Tagen.


  • Suzie Miller – Prima Facie
  • Aus dem Englischen von Katharina Martl
  • ISBN 978-3-910372-21-4 (Kjona)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Daisy Hildyard – Notstand

Vom Steinbruch bis zum versunkenen Bullen im Moor. Daisy Hildyards Erzählerin unternimmt im Roman Notstand eine genaue Vermessung der Natur in ihrer Umgebung – und ihrer eigenen Erinnerungen, in denen die Flora und Fauna stets präsent war. Damit gelingt der britischen Autorin ein Brückenschlag von der seelischen Introspektion zum Nature Writing.


Kommt jetzt der Boome der Corona-Romane? Diese Frage trieb die Literaturkritik zu Beginn der Pandemie 2020 um. Doch während Autorinnen und Autoren ihre Protagonist*innen in Romanen mal beherzter, mal etwas scheu zur Maske greifen ließen, blieb die große Spiegelung der Krise in den Romanen aus.

Zwar gab es einige Schreibende, die die Shutdowns zur Verwirklichung eigener Romanprojekten nutzten, auch eröffneten sich durch technische Innovationen für einige Autor*innen neue Möglichkeite, so zum Beispiel für Helga Schubert, die aufgrund der Pflege ihres Mannes in Präsenz normalerweise nicht beim Bachmannwettbewerb in Klagenfurt hätte teilnehmen können, durch die digitale Zuschaltung aber auftreten und später den prestigeträchtigen Wettbewerb sogar gewinnen konnte. Der große Boom der Romane, in denen die Corona-Pandemie und ihre Folgen verhandelt wurde, er blieb aber weitestgehend aus.

Ein Roman unter Eindruck der Pandemie

Nachgereicht erreicht uns jetzt mit Daisy Hildyards Notstand aber ein Roman, der im Original 2022 erschien und der ganz unter den Eindrücken der Pandemie und der Isolation steht. Von Esther Kinsky ins Deutsche übertragen kann man zwei Jahre später nun noch einmal direkt eintauchen in die Welt, die damals infolge der Shutdowns stillzustehen schien, in der man Sozialkontakte auf das Notwendigste reduzierte und die eigenen vier Wände zur Welt wurden, in der man sich überwiegend aufhielt,

Daisy Hildyard - Notstand (Cover)

Wie vielen von uns damals geht es auch der Erzählerin in Hildyards Roman. Sanft hineingetupft in diesen Text tauchen immer wieder Insignien der damaligen Zeit wie etwa die Maske oder das Nachdenken über dieses unsichtbare Virus, dessen Wirkung aber so verheerend war. Die nun aufgrund des virulenten Notstands plötzlich zur Verfügung stehende Zeit, die man mit Betrachtungen der Außenwelt verbringt und die Nachbarn nur aus der Distanz heraus betrachtet, all das kennt man noch aus der eigenen Coronazeit- obschon sie nun zwei Jahre nach dem Erscheinen von Notstand im Original schon wieder ein ganzes Stück weit weg erscheint.

Wäre eine Beschreibung der damaligen Zustände alleine wohl auch angesichts der Erfahrungshorizonte der Lesenden recht redundant und nicht sonderlich spannend, bekommt Notstand durch seine zweite, zentrale Ebene eine ganz eigene Qualität. Denn Hildyards Erzählerin nutzt die Zeit für Spaziergänge durch die Natur in ihrerm nordenglischen Dorf – und spaziert in mindestens gleichem Maße auch in den eigenen Erinnerungen umher. Ähnlich wie beispielsweise in Mathias Enards Roman Kompass verschränkt sich auch hier eine quasi statische Außenhandlung mit einem Reichtum an Erinnerung und Beobachtung.

Ein genauer Blick auf Flora und Fauna

Die Faszination der Erzählerin für das Leben im benachbarten Bauernhof, ihr genauer Blick etwa auf das Schlüpfen von Schmetterlingslarven, die Aufzucht eines Wurfs Füchse durch die Mutter oder das Sozialverhalten einzelner Kühe, in Hildyards Roman nimmt das einen großen Raum ein. So entsteht über die Erinnerung und die Betrachtung ein Abbild dieser Welt, die im normalen Trott des Alltags den meisten Menschen verborgen bleibt und in der Menschen eigentlich eh nur stören oder mit ihrem rücksichtslosen Verhalten für eine weitere Zerstörung dieser eh schon schwindenden Lebensräume sorgen.

Mit Esther Kinsky hat der Text auch die richtige, da sprachmächtige und auf dem Feld des Nature Writings vielfach beschlagene Übersetzerin erhalten, die mit ihrem ebenfalls bei Suhrkamp erschienen Roman Rombo wie auch hier unter Beweis stellt, welches sprachliche Repertoire ihr zur Verfügung steht, um der Natur im Anthropozän möglichst viele Facetten abzuringen.

Leider zeigt Hildyards Buch wie schon auch Esther Kinskys eigenes Werk Rombo zuvor aber auch eine zentrale Schwäche auf, die sich im Genre des Nature Writing nicht wirklich vermeiden lässt. Oftmals fehlt es dieser naturnahen Prosa mit ihrer ganzen Fülle an genauen Betrachtungen von Flora und Fauna an innerer Spannung. So reihen sich doch viele Eindrücke und Beschreibungen aneinander, ohne eine nennenswerten dramatischen Bogen zu entfalten, der zum Weiterlesen motiviert.

Nicht vorhandene Spannungsbögen und amorphe Figuren

So sind die Beschreibungen von Turmfalken, weidenden Kühen, Füchsen, Schmetterlingen, dem Vergehen im Steinbruch oder die Arbeitsabläufe am Bauernhof zweifelsohne genau gearbeitet und bestechen durch ihre literarische Präzision, allein: ein nennenswerter Erzählbogen oder gar eine Entwicklung, der das Erzählen oder die Erzählerin unterliegt, das fehlt.

Notstand verzichtet auch in Bezug auf seine Figuren auf so etwas wie Tiefenschärfe und Kontur. Daisy Hildyard gelingt in ihrem Schreiben das Kunststück, trotz einer maximalen Introspektion auch durch die Ich-Perspektive der Erzählerin, diese selbst nur minimal zu gestalten. So verzichtet die britische Autorin nicht nur auf einen Namen ihrer Erzählerin, auch ansonsten bleiben sie und der Rest des im Romans auftauchende Personals amorph und schwer zu greifen. Ihr Aussehen, das soziale Umfeld und ihre Familie, ihr Werdegang, alles das tritt weit hinter ihre Naturbeobachtungen und Erinnerungen zurück.

In dieser Prosa ist der Mensch nur eine Randerscheinung. Vielmehr geht es in Notstand wirklich um die genaue Beobachtung der Umgebung, das Gespür für die Abläufe der Natur und weniger um die Menschen, die die Wahrnehmungen der Erzählerin zumeist eh nur stören.

Fazit

Wer sich an kaum vorhandener Entwicklungen und erzählerischem Vorankommen nicht stört und auf greifbare Figuren in der Handlung eines Buchs gut verzichten kann, der findet in Daisy Hildyards Notstand eine genau beobachtete Vermessung von Natur und Erinnerung und einen sprachmächtigen, von Esther Kinsky fabelhaft ins Deutsche übertragene Betrachtungsrausch, der auch das schwebende Gefühl infolge der pandemiebedingten Isolation und der zeitlichen Entschleunigung großartig in Prosa packt.


  • Daisy Hildyard – Notstand
  • Aus dem Englischen von Esther Kinsky
  • ISBN 978-3-518-43163-4 (Suhrkamp)
  • 237 Seiten. Preis: 25,00 €
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