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David Mitchell – Utopia Avenue

Ein altes Bonmot des Musikjournalismus lautet, dass das Schreiben über Musik dem Tanzen von Architektur ähnele. Auch in David Mitchells Roman Utopia Avenue greift der britische Schriftsteller diese Sentenz auf und zeigt zugleich, dass diese grundfalsch ist. Denn Mitchell macht in seinem Roman Musik erlesbar. So liefert er in seinem jüngsten Roman die mitreißende Biografie einer fiktiven britischen Band, erweckt die 60er Jahre eindrucksvoll wieder zum Leben und schreibt nebenbei gleich noch am eigenen literarischen Kosmos weiter.


Fiktive Biografien erfreuen sich unter britischen Schriftstellern großer Beliebtheit. William Boyd etwas erfand mit Nat Tate einen fiktiven Künstler, dessen Leben er in einer Biografie präsentierte und gleich hinterher mithilfe von Größen wie David Bowie oder Gore Vidal die passende Party zu Ehren seines fiktiven Protagonisten gab, auf der viele der Anwesenden schworen, Nat Tate selber zu kennen.

Auch David Mitchell bewährt sich nun in diesem Genre, obgleich er keine Täuschungsmanöver wie sein Kollege William Boyd durchführt. Aber mit seiner Biografie einer fiktiven Band schafft er es ungemein plastisch, vom Rock ’n Roll der 60er Jahre zu erzählen und eine Band zu kreieren, deren Existenz man durchaus Glauben schenken könnte.

Die Karriere von Utopia Avenue

David Mitchell - Utopia Avenue (Cover)

Aus Sicht der vier Bandmitglieder erzählt er von der Entstehung der unvergleichlichen Band Utopia Avenue, die sich durch das Zutun des Musikmanagers Levon Frankland in London gründet. Er bringt den in Geldnöten schwebenden Bassisten Dean Holloway, den Schlagzeuger Griff Griffin, die Folksängerin Elf Holloway und den ebenso eigenwilligen wie außergewöhnlichen Gitarristen Jasper de Zoet zusammen.

Den Bandfindungsprozess, das Ringen um künstlerische Identität und den steinigen Weg zum Erfolg schildert Mitchell ausgiebig und wechselt dabei auch immer wieder zwischen den Perspektiven der einzelnen Bandmitgliedern. Intensiv beschwört sein Roman die Atmosphäre des Swinging London in den 60er Jahren herauf. Die Welt der verrauchten Kneipen und Musikstudios in Soho ist diejenige, in der sich der Roman in der ersten Hälfte bewegt, ehe sich die Welt mit weiteren Platten und Touren für die Künstler*innen über den Atlantik hinweg weitet.

Eintauchen in die Musikwelt der 60er Jahre

Utopia Avenue begutachtet die Kennzeichen einer vergangenen Musikwelt lange vor Streamingdiensten und Handymitschnitten von Konzerten. Die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Band zu sein und neidvoll auf erfolgreiche andere britische Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones zu blicken, das vermittelt Mitchell eindrücklich. Das mangelnde Verständnis im heimischen Umfeld, die Skepsis gegenüber diesen langhaarigen Musikern, die Kunst des Songwriting, Korruption im Musikbusiness und halbseidene Manager – all das greift sein Roman auf.

Zwischen Orten der Musikgeschichte wie dem Chelsea Hotel und dem Troubadour in Los Angeles und Cameos von Stars wie Frank Zappa bis hin zu David Bowie lässt einen der Roman tief in die Musikgeschichte eintauchen. Mitchell kreiert mit seiner fiktiven Bandbiografie einen in höchstem Maße unterhaltsamen Roman, der darüber hinaus noch ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk von David Mitchell ist.

Verbindungen zu anderen Werken David Mitchells

Denn natürlich lässt sich Utopia Avenue völlig unabhängig von anderen Werken David Mitchells lesen. Noch mehr Spaß macht die Lektüre allerdings, wenn man schon in den Genuss früherer Werke von David Mitchell kam. Allen voran Der Wolkenatlas und Die tausend Herbste des Jacob de Zoet sind als Titel zu nennen, auf die der jüngste Roman des Briten vielfach rekurriert.

„Elf! Elf! ELF! Elf! Elf! ELF!“ Die Frau führte den Mund an Elfs Ohr. „Ich bin Luisa Rey vom Spyglass Magazine, aber das ist eine andere Geschichte – viel Glück und das Atmen nicht vergessen.“

Elf atmet. „Okay.“

David Mitchell – Utopia Avenue, S. 472#

Nicht nur Größen der Musikgeschichte bestreiten in Utopia Avenue Gastauftritt – auch einige Figuren aus David Mitchells anderen Werken haben hier ihre Auftritte und leben somit über frühere Bücher hinaus. Luisa Rey, die in der zitierten Szene Elf Mut zuspricht, kennt man schon aus Der Wolkenatlas, wo sie die zentrale Figur einer der sechs im Buch miteinander verknüpften Geschichten war. Dieses Prinzip spinnt Mitchell weiter, allen voran, wenn sich die Handlung aus dem historisch-fantastischen Roman Die tausend Herbste des Jacob de Zoet in diesem Buch weiterspinnt.

Denn die Vergangenheit, sie ist natürlich nie vergangen. Und wenn es im Wolkenatlas heißt, dass wir mit anderen in der Vergangenheit und der Gegenwart verbunden sind, dann gilt das natürlich nicht nur für den bekanntesten Roman von Mitchell, sondern auch für sein Gesamtwerk und damit auch für Utopia Avenue. Im Falle von Jasper ist es die Vergangenheit seiner Vorfahren in Japan zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich mit ihm verbindet und diesen Roman ganz Mitchell-typisch auch ein Stück ins Fantastische gleiten lässt.

Fazit

So zupft Utopia Avenue Handlungsbögen aus anderen Werken mal etwas direkter, mal in kaschierter Form an und fügt das Buch neben seiner solitären Lesebarkeit auch in das übrige vielgestaltige Werk David Mitchells ein, ohne dass die Lesbarkeit des Buchs in irgendeiner Form darunter leiden würde.

Utopia Avenue ist eine höchst unterhaltsame Zeitkapsel, die die 60er Jahre in Soho und an anderen zentralen Stellen der Musikkultur dicht erlebbar aufschließt und die von Mitchells Stammübersetzer Volker Oldenburg wieder einmal fabelhaft ins Deutsche übertragen wurde. Auch ohne Kenntnis anderer Werke David Mitchells ist das ein großer Lesespaß, der sich durch die Kenntnisse anderer Werke aber noch einmal verstärkt und auch das Bedürfnis weckt, (wieder) tiefer in seinen Erzählkosmos einzutauchen.

Und nicht zuletzt beweist er, dass es eben doch geht, über Musik zu schreiben und sie alleine mit Worten fast hörbar zu machen.


  • David Mitchell – Utopia Avenue
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-498-00227-5 (Rowohlt)
  • 752 Seiten. Preis: 26,00 €
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Robert Seethaler – Das Café ohne Namen

Warum braucht ein Café unbedingt einen Namen? Es geht doch auch so, das beweist Robert Simon, der in Robert Seethalers neuem Roman im Wien des Jahres 1966 den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er eröffnet ein Café am Karmelitenmark, das in der Folge zur Anlaufstelle für eine ganze Riege unterschiedlicher Menschen wird. Mit Das Café ohne Namen begibt sich der Österreicher Seethaler zurück in das Milieu der einfachen Leute – und damit auch zurück in der Erfolgsspur.


Mit seinen letzten beiden Romanen konnte Robert Seethaler nicht mehr wirklich an seine ebenso präzisen wie stimmigen Porträts Der Trafikant und Ein ganzes Leben anknüpfen. In Das Feld reduzierte er die Vita einer Stadt auf den Gang über einen Friedhofs mitsamt grabsteinkurzer Vignetten der Stadtbewohner und ihrer Schicksale. Mit Der letzte Satz schaffte er es dann vor zwei Jahren auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, diese Nominierung war aber auch von vielen kritischen Stimmen begleitet, in deren Chor auch ich mich einreihen musste. Sein Porträt Gustav Mahlers war allzu kurz und oberflächlich, schenkte der Musik, also dem zentralen Aspekt Mahlers Wirken, nicht wirklich viel Raum und ließ viele der Qualitäten vermissen, die Seethalers frühere Werke auszeichneten.

Umso schöner, dass er diese Qualitäten in Das Café ohne Namen nun wieder zeigt und so zu alter Stärke zurückkehrt. Das liegt in meinen Augen vor allem auf die Rückbesinnung auf Seethalers literarische Qualitäten, die für mich in der Konzentration auf das alltägliche Milieu der „einfachen“ Menschen liegen.

In seinem neuen Roman konzentriert sich Seethaler dabei auf Robert Simon, der als Kriegswaise in Wien aufwächst und sich in den 1960er Jahren als geschickter Arbeiter mit Hilfsarbeiten rund um den Karmelitenmarkt über Wasser hält.

Ein unerfahrener Wirt und ein Café ohne Namen

Das leerstehende Café an einer Ecke des Marktes und die Erinnerungen an frühere Zeiten lassen in ihm den Entschluss reifen, es trotz keiner großen gastronomischen Erfahrung dort auch einmal als Wirt zu probieren. Und so renoviert er die Liegenschaft und beginnt mit dem Betrieb des Cafés zunächst als reine Ich-AG. Er bietet ein bodenständiges Café mit einer kleinen Karte. Schmalzbrot, Wein in den Varianten rot und Weiß, Limonade, Soda und lokales Bier, das ist das Angebot des Cafés am Karmelitenmarkt. Schon kurz nach der Eröffnung wird Simons Gastronomie gut angenommen und erste Erfolge stellen sich ein.

Immer mehr Gäste kamen: Leute aus dem Viertel, Schichtarbeiter, Angestellte in Hemdsärmeln, die Mädchen aus der Schottenauer Garngabrik. Simon lief umher, nahm Bestellungen entgegen, zapfte Bier, füllte Gläser, spülte sie mit kaltem Wasser ab, putzte sie mit einem Lappen und wischte mit einem anderen über die Tische. Mit einer Holzzange fischte er Salzgurken aus dem Glas und mit einer schmalen Spachtel schmierte er Schmalz auf das Brot, das er beim Marktbäcker bestellt und am Morgen ofenwarm und wie ein Neugeborenes in ein weißes Tuch gewickelt abgeholt hatte.

Später kamen die Händler. Es hatte sich herumgesprochen, dass das Café wieder geöffnet hatte, nun waren sie neugierig. Sie besetzten die Tische oder lehnten am Treseen, wo sie die Hand über das glatt geschmirgelte Holz gleiten ließen und Simon beim Zapfen zusahen.

„Ein Seidel Bier! Für mich einen Roten! Drei Weiße! Zwei davon aufs Haus!“

Robert Seethaler – Das Café ohne Namen, S. 28 f.

Doch nicht nur die Erfolge stellen sich ein – Simon als Wirt stellt auch Personal in Form der jungen Mila ein, um den Betrieb seines Cafés gewährleisten zu können. So kümmern sich die beiden sechs Tage die Woche um das Wohl der Gäste, am Dienstag herrscht Ruhetag.

Gäste und die Dramen des Lebens

Robert Seethaler - Das Café ohne Namen (Cover)

Im Lauf der Zeit findet das Café zwar zu keinem wirklichen Namen, dafür aber zu einem Stammpublikum, das das Café regelmäßig frequentiert. Da ist der Ringer und Showkämpfer René Wurm, der regelmäßig im Prater auf die Bretter geschickt wird, die Fierantin Heide Bartholome die mit dem russischen Maler Mischa Troganjew in einer Art Hassliebe verbunden ist, Trinker mit Glasauge oder Priester, die unter Alkoholeinfluss ausfallend werden, traurige und glückliche Menschen – sie alle kehren mal mehr und mal weniger regelmäßig in Simons namenlosen Cafe dort am Karmelitenmarkt ein.

Bei Robert Seethaler wird das Café zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens, die er einfühlsam und mithilfe nur weniger Sätze umfassend zu schildern weiß. Das ist jene Stärke, die ich aufgrund der etwas überambitionierten und nicht wirklichen runden Romane der letzten Zeit vermisst hatte, und das nun in Das Café ohne Namen wieder zu entdecken ist.

Wie Seethaler im Kleinen große Geschichten zu erzählen vermag, wie er Platz für alle Gefühlsregungen schafft, sprachlich zwischen Alltagssprache und Sinn für den besonderen Moment pendelt und das alles mit einem Filter der Melancholie versieht, das ist für mich wieder richtig gut gelungen und deshalb eine ganz klare Empfehlung, auch wenn ich das Buch vor Kitsch-Anwürfen nicht in Schutz nehmen kann.

Seinen Drang zur Reduzierung hat Seethaler nach den letzten Miniaturromanen wieder einhegt (so umfasste Der letzte Satz gerade einmal 128 Seiten) und hat seiner neuen Erzählung mit 288 Seiten hier wieder mehr Raum gegeben.

Schnell liest man sich durch diese Seiten, mit denen Robert Seethaler nach dem Kein&Aber-Verlag und dem Wechsel zum Hanser-Verlag nun bei Claassen im Ullstein-Verlag eine neue Heimat gefunden hat. Ein Umstand, der rein optisch bis auf den klein gedruckten Verlagsnamen gar nicht auffallen würde, hat man sich bei Ullstein doch für gestalterische Konstanz (oder eine clevere Kopie) entschieden und setzt die Covergestaltung des Hanser-Verlags auch hier unter neuem Dach fort.

Fazit

Mit Das Café ohne Namen besinnt sich Robert Seethaler wieder auf seine alte Stärke und inszeniert das Café am Rande des Karmelitenmarktes in Wien als Bühne für die großen und kleinen Dramen des Lebens. Sein loser Ensembleroman rund um den Wirt Simon als Anker steht in der Tradition der früheren Werke Seethalers und zeigt eine Wirtschaft im Nachkriegswien, deren Kundschaft ebenso vielfältig ist wie die Geschichte, die sie erlebt und zu erzählen haben. Der Österreicher braucht auch hier wieder nur wenige Sätze, um ganze Leben und Dramen in Worte zu fassen. Dass Seethaler damit wieder viele Fans glücklich machen wird und die Bestsellerlisten erobert, das ist zu erwarten und durchaus gerechtfertigt.


  • Robert Seethaler – Das Café ohne Namen
  • ISBN 978-3-546-10032-8 (Claassen)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Merle Kröger – Die Experten

From the needle to the rocket

So lautete der Slogan, den der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser in den 60er Jahren für sein Land ausgab. Von der Nähnadel bis hin zu Raketen sollte alles in Ägypten gefertigt werden. Man wollte sich frei machen von Abhängigkeiten und strebte nach eigener Stärke. Doch besonders für den komplizierten Bereich der Raketenfertigung war es nicht leicht, im Land selbst genug Kompetenz zu versammeln. Die Lösung hierfür: Experten von außerhalb, genauer gesagt aus Deutschland. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die Forscher in Peenemünde und anderswo für die Nazis bereits Raketen konstruiert. Und diese Kompetenz war ja immer noch vorhanden, wenngleich durch die Entmilitarisierung nach dem Krieg für die Forscher in Deutschland mehr oder minder ein Beschäftigungsverbot galt.

Raketenpräsentation in Ägypten (Quelle: Wikimedia)

So warb Ägypten zahlreiche deutsche Ingenieure und Wissenschaftler an, die darauf drängten, ihre Rüstungsprojekte fortzusetzen. In und um Kairo entstand so eine Community von Deutschen, die sich der Raketenforschung und des Bau dieser Waffen verschrieben. Die Deutschen konnten ihre Arbeit fortsetzen, Nasser bekam seine Raketen, die er nach dem Austritt Syriens aus seiner Vereinigten Arabischen Republik (kurz VAR) dringend als Zeichen seiner außenpolitischen Stärke brauchte. Eine Win-Win-Situation also für den Präsidenten und seine deutschen Experten, die Ägypten auf die (rüstungspolitische) Weltbühne zurückbringen sollten.

Deutsche Experten in Ägypten

Rita Hellberg, die Heldin von Merle Krögers Roman ist die Tochter eines solchen Experten. Friedrich Hellberg konstruierte einst mit der Hilfe von Zwangsarbeitern im Dritten Reich Überschallflugzeuge. Und auch wenn den Deutschen ab 1958 wieder die Arbeit in der Luftfahrtindustrie erlaubt wurde – „richtige Arbeit“ war und ist das für Friedrich Hellberg nicht. Er hat seinen Traum vom Bau militärischer Überschallflugzeuge noch nicht aufgegeben.

Düsentriebwerke, Raketen, Kampfflugzeuge – das ist das Ideal, das Hellberg mit vielen anderen Deutschen trotz der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg teilt. So folgt er mit seiner Familie dem Ruf Nassers nach Ägypten. Nach einem Besuch seiner minderjährigen Tochter Rita behält er diese kurzerhand in Kairo vor Ort. Er hat ihr einen Job als Sekretärin beim Raketenwissenschaftler Wolfgang Pilz besorgt. Durch diesen bekommt Rita langsam einen Einblick in die ägyptische Expat-Gemeinde und das Tun und Treiben der deutschen Experten vor Ort.

Merle Krögers großer erzählerischer Bogen

Merle Kröger hat einen halb dokumentarisch, halb fiktionalen Roman vorgelegt, der sich eines hochspannenden Themas annimmt. Eines, das in der der deutschen Literatur bislang sträflich vernachlässigt wurde. Ein Fehler, wie das Buch von Merle Kröger zeigt. Denn die Verflechtungen, denen sie in Die Experten nachspürt, sind hochinteressant und lassen so manches Mal die Haare zu Berge stehen.

Merle Kröger - Die Experten (Cover)

So spannt die Autorin ihren Bogen von der Zeit der sechziger Jahren bis hinein in die Zeit der Studentenunruhen. Sie erzählt von der deutschen Expat-Gemeinde, die aus Forschern, Ordensschwestern, aber auch untergetauchten Kriegsverbrechern wie etwa dem KZ-Arzt Hans Eisele besteht. Neben der Aufrüstungsstrategie von Gamal Abdel Nasser sind die Verflechtungen der jungen BRD und Ägyptens Thema. Das Antichambrieren Franz Josef Strauß‘, die innen- und außenpolitischen Winkelzüge der Mächtigen erörtert Merle Kröger nachvollziehbar und höchst spannend. Gerade als dann der Mossad im Ränkespiel um die deutschen Experten mitzumischen beginnt, bekommt dann das Buch die Spannung, die zuvor noch etwas auf sich warten ließ.

Rita wird in ihrer Funktion als Sekretärin zur Geheimnisträgerin. Sie beginnt, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, hin und hergerissen in ihren Sympathien. Dass ihr dabei das Elternhaus mit den beiden Antipoden des horoskopbegeistern Vaters und der bigotten Mutter keinerlei Hilfe ist, beschreibt Merle Kröger eindrucksvoll.

Literarisch höchst souverän

Überhaupt – die literarische Souveränität, mit der Merle Kröger erzählt, ist unbedingt preiswürdig. So schafft sie es beispielsweise in einem Kapitel eine tiefgründige Charakterisierung der Familie Hellberg, indem jedes der vier Familienmitglieder einfach einen Brief verfasst. Alleine über diese vier Briefe zeigen sich so unterschiedliche Figuren, wie sie andere Autor*innen nicht einmal in einem ganzen Roman beschreiben könnten. Ihr gelingt eine glänzende Psychologisierung ihrer Figuren.

Allerdings sind Absätze das Ding der 1967 geborenen Autorin nicht. Sie wechselt die Perspektive innerhalb von drei Zeilen, treibt das Geschehen voran, rhythmisiert ihre Erzählung und erschafft so einen manchmal schon fast an Spoken-Word-Lyrik erinnernden Erzählfluss.

Neben den raschen Perspektivwechsel, Seitenblicken oder Rückblenden sind es auch die zahlreichen Dokumente, die die Prosa von Die Experten kennzeichnen. Immer wieder verwendet Merle Kröger Original-Zeitdokumente. Fetzen aus Spiegel-Stories, Geheimdienstberichte oder Dokumentation über die Zeit des Dritten Reichs, die sie in den Roman hineinmontiert. So entsteht eine reizvolle Mischung aus Fiktion und Dokumentarischen. Der Anhang gibt Auskunft über die zahlreichen Quellen, die in den Roman eingeflossen sind.

Fazit

Es wäre Merle Kröger zu wünsche, dass ihr nun mit Die Experten der große Durchbruch gelänge. Das Buch hat die Adelung durch einen Platz im Suhrkamp-Programm (ohne den famosen Ariadne-Verlag an einer Stelle kleinreden zu wollen) absolut verdient. Ihre Prosa besitzt einen eigenen Sound, die Themen sind großartig gewählt und haben allesamt gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Relevanz. Ihre Figuren sind glaubhaft entworfen, die Wiederauferstehung des Ägyptens der 60er Jahre ist geglückt. Zwar sträube ich mich etwas gegen das aufgedruckte Label Thriller, dennoch ist das Buch neben all den bereits genannten Vorzügen natürlich auch spannend und zeigt die geheimdienstlichen und politischen Fehden, die in den 60er Jahren dominierten. Für mich ist dieses Buch absolut preiswürdig. Es sollte Merle Kröger hoffentlich in die vordere Reihe deutscher Autorinnen katapultieren.

Zudem wäre es schön, wenn durch einen Erfolg dieses Buchs auch die Ariadne-Backlist dieser deutschen Autorin wieder entdeckt wird, die nur alle paar Jahre ein Werk vorliegt, das dann aber den Rest der zeitgenössischen Krimiproduktion im Staub zurücklässt. Das ist ganz große deutsche Literatur!


  • Merle Kröger – Die Experten
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-46997-2 (Suhrkamp)
  • 688 Seiten. Preis: 20,00 €
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Tom Sawyer und Huckleberry Finn in New Bremen

William Kent Krueger – Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

Wenn ein Buch schon mit einem Satz wie diesen anfängt, dann bin ich mit dabei:

Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes , eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie in Richtung South Dakota donnerten.

Krueger, William Kent: Für eine kurze Zeit waren wir glücklich, S. 9

Dieser Satz trägt schon in sich, was auf den folgenden 412 Seiten folgen soll. Tod, Trauer, Nostalgie und Sommer. Diese scheinbar gegensätzlichen Themen vereint William Kent Krueger auf das Vorzüglichste, sodass man meint, Tom Sawyer und Huckleberry Finn seien wiederauferstanden und würden New Bremen 1961 unsicher machen.

Tod und Nostalgie

Das Buch wird dabei von einem großartigen Erzählton durchzogen. Denn der Ich-Erzähler ist der 13-jährige Frank Drum. Dessen Vater ist als Pastor in New Bremen tätig. Mit Mutter, Schwester Ariel und seinem kleinen, stotternden Bruder Jake lebt Frank in der Kleinstadt, die einen denkwürdigen Sommer erlebt. Bei seinen Streifzügen entlang der Bahnstrecke, des Flusses und der Straßen New Bremen entdeckt Frank allmählich eine Welt, in der Unsicherheit und Tod stets präsent sind .

Alles beginnt mit dem Tod eines leicht zückgebliebenen Jungen, der – wie im Eingangssatz beschrieben – auf der Bahnstrecke zu Tode kommt. Ein Landstreicher folgt – und später kommt der Tod sogar Franks Familie gefährlich nahe. All diese schlimmen Ereignisse mit ihrer ganzen Drastik werden jedoch durch den nostalgischen Ton, mit dem Frank zurückblickt, abgemildert und gefiltert. Noch kein Mann, aber auch kein Kind mehr – William Kent Krueger gelingt der erzählerische Balanceakt mit dieser Perspektive sehr gut. Das Ganze erinnert manchmal auch an Kruegers Schriftstellerkollegen Joe R. Lansdale – und eben auch an Mark Twain.

Das Buch rührte mich wirklich an, denn in jeder Zeile schwingt das Wissen um den Verlust von Menschen und Unschuld mit. Auch das nachklingende Kriegsgeklirre aus Europa, das den männlichen Erwachsenen tief eingedrungen ist, trägt seinen Teil dazu bei. Wir erleben in Für eine kurze Zeit waren wir glücklich ein Welt, die immer zerspringen kann, mag die Sonne noch so hell scheinen und der Fluss durch New Bremen rauschen. Gerade der Epilog entfaltet dann im Rückblick noch einmal eine besondere Wucht, die mich schlucken ließ.

Anteil daran trägt auch zu einem großen Teil die Übersetzerin Tanja Handels, die Kruegers Sound gut ins Deutsche übertragen hat. Und auch die Außengestaltung kann hier mit einem wunderbar stimmigen Cover überzeugen. Hier stimmt alles, weshalb ich gerne eine Leseempfehlung aussprechen möchte!

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Elena Ferrante – Die Geschichte eines neuen Namens

Die Neapolitanische Saga um die Freundinnen Elena und Lila geht weiter. Der zweite Band behandelt die Jugendjahre der Freundinnen und ihren schweren Kampf um Anerkennung und Selbstbestimmung und ist zugleich wieder ein Panorama Italiens in den 60er Jahren.

Nach dem Cliffhanger am Ende von Meine geniale Freundin wollte man natürlich wissen, wie sich die junge Ehe von Lila und Stefano entwickeln würde und welchen Weg Elena, genannt Lenù, beschreiten würde. Der nächste Band des Quartetts gibt nun eine ausführliche Antwort. Der Konflikt, der sich im ersten Band mit den Solaras bereits andeutete, steigert sich nun. Während Stefano in Abhängigkeit zu den Brüdern steht, die die Camorra repräsentieren, rebelliert Lila weiterhin und bringt ihr störrisches Wesen immer wieder zum Ausdruck. Dies sorgt für häusliche Konflikte und bleibt auch im Rione, dem Stadtviertel Neapels in dem die beiden Freundinnen aufwuchsen, nicht unbemerkt. Klatsch, Neid und subtile Gewalt sind in diesem dumpfen Milieu an der Tagesordnung und engen die beiden jungen Frauen ein.

Während Lila in ihrer Beziehung rebelliert, versucht Lenù dem Druckkessel Rione durch Bildung zu entgehen. Im Gegensatz zu ihrer genialen Freundin verfolgt sie nämlich weiterhin ein Schulkarriere, die sie bis in ein Kolleg in Pisa führen wird. Doch trotz allem Drang nach Bildung und Fortkommen verläuft auch Lenùs Weg alles andere als gerade. Ein Sommer in Ischia wird zum Wendepunkt im Leben der beiden Frauen und stellt alle Dinge auf den Kopf …

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