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Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund

Wenn der Regenwald ruft… Veronica Lando nimmt uns in ihrem Debüt Der flüsternde Abgrund mit nach Granite Creek, einem kleinen Dorf im australischen Regenwald. Hier ist ein Junge verschwunden – und das nicht zum ersten Mal. Der Regenwald habe ihn wie viele Menschen zuvor in seine Fänge gelockt, heißt es. Der Journalist Callum Haffenden mag das nicht glauben und steht bei seiner Suche nach dem Verschwundenen schon bald vor der Frage, welche Abgründe hier gefährlicher sind – die des Waldes oder die der Menschen?


Für Menschen wie ihn ist der australische Regenwald nicht gemacht. Das muss der preisgekrönte Journalist Callum Haffenden schnell feststellen, als er wieder in seine Heimat nach Granite Creek zurückkehrt. Der Anlass ist ein bestürzender. Denn wie schon einige Male zuvor ist erneut ein Junge im Regenwald verschwunden. Man munkelt von der Legende des flüsternden Waldes, der die Menschen zu sich lockt und sie dann im steinernen Abgrund seiner Felsen zerschellen zu lassen. Kinder wappnen sich mit klingelnden Armbändern, um der Versuchung des Waldes zu widerstehen. Und auch Callum spürt die Anziehung des Waldes, als er sich der Suche nach dem verschwundenen Jungen anschließt.

Dabei sind dauerbeschlagene Brillengläser noch das kleinste Hindernis. Undurchdringliche Fauna, mörderische Kasuare, giftige Pflanzen – und dann auch noch das lockende Felsenmeer, das immer wieder zu rufen scheint, wenn der Wind günstig steht. Sie alle erschweren Callum und den Freiwilligen die Suche. Die wahren Motive Callums, die ihn für die Suche die lange und sehr beschwerliche Reise aus dem tasmanischen Hobart antreten lassen, enthüllt Veronica Lando allerdings erst langsam.

Verschwunden in Granite Creek

Veronica Lando - Der flüsternde Abgrund (Cover)

Vor Ort versucht Callum Licht ins Dunkel zu bringen. Warum war der Junge im Wald campen, wo doch ein Hurrikan aufzieht und Dauerregen und die menschenfeindliche Umgebung des Regenwaldes doch eigentlich keinen Grund für einen längeren Aufenthalt im Freien liefern? Hat eventuell Callums alter Feind, der Vater des Jungen seine Hände im Spiel? Als dann auch noch in Callums Hotelzimmer eingebrochen wird, mehren sich die Zeichen, dass jemand überhaupt nicht daran gelegen ist, dass die Wahrheit über den Jungen und die Geheimnisse von Granite Creek ans Tageslicht gelangen.

Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando ist ein Krimi, der für ein Debüt einen hohen Formwillen an den Tag legt (dem die Autorin literarisch tatsächlich auch entsprechen kann). So ergänzt sie die Handlung um Callums Suche nach der Wahrheit mit Rückblenden, die aus Ich-Perspektive Geschehnisse vor dreißig Jahren erzählen. Diese Rückblenden verschmelzen langsam mit der Gegenwart, ehe alles in einem sturmumtosten Showdown kulminiert, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig überlagern.

Während sie Callums Sicht auf den verschwundenen Jungen Stück für Stück dekonstruiert, indem immer mehr dunkle Flecken auf seiner in eigentlich so reinen Weste auftauchen drängen dazu gegenläufig immer mehr familiäre Geheimnisse und Wahrheiten in Granite Creek ans Tageslicht. Das ist alles wohldosiert und aufeinander abgestimmt. Mehrere, gut eingearbeitete Wendungen halten die Spannung hoch und lassen mit Callum miträtseln.

Vermisstensuche, Nature Writing und Familiengeheimnisse

Mit der Figur des ornithologisch begeisterten Callum bringt Lando zudem eine gehörige Prise Nature Writing ins Buch, ist die Natur des australischen Regenwaldes doch neben Callum der zweite große Hauptdarsteller. Von Säulengärtnern bis zur Flecken-Rußeule gibt es jede Menge Vögel zu entdecken, mit der man auch gut in Elizabeth Hargreaves‘ Spiel Flügelschlag punkten könnte.

Diese Verschmelzung von Natur, Suche nach einem vermissten, dörflichen Legenden und familiären Geheimnissen erinnert in dieser Kombination etwas an ihren australischen Landsmann Kyle Perry. Mit dessen Debüt Die Stille des Bösen ist dieses Debüt ebenbürtig (was deutlich für beide Autor*innen aus Down Under spricht und wieder einmal kriminalliterarisch deutlich das übertrifft, was sich hierzulande so auf den Bestsellerlisten tummelt).

So gelingt Herausgeber Thomas Wörtche hier erneut eine tolle Entdeckung für das von ihm kuratierte Krimiprogramm bei Suhrkamp. Hier ist eine kriminalliterarische Stimme aus Australien zu lesen, deren reifes und souverän gestaltetes Krimidebüt auf weitere Werke diesen Kalibers hoffen lässt.

Von dem Flüstern dieses Buchs kann man sich gerne in die Seiten hineinlocken lassen – man wird es im Gegensatz zu einigen Figuren im Buch nicht bereuen!


  • Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund
  • Aus dem australischen Englisch von Karen Witthhun
  • ISBN 978-3-518-47366-5 (Suhrkamp)
  • 370 Seiten. Preis: 18,00 €
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Christine Dwyer Hickey – Schmales Land

Nachkiegszeit auf Cape Cod. Sommerliche Strände, zwei Jungs ohne Vater und nebenan der berühmte Maler Mister Aitch alias Edward Hopper und dessen Frau, die sich selber auf einigen Schlachtfeldern gegenüberstehen. Schmales Land von Christine Dwyer Hickey.


Künstlerromane, in denen sich unbedarfte Kinder oder Jugendliche legendären Künstlern nähern, gibt es wie Sand am Meer. Robert Seethaler ließ in Der letzte Satz einen jungen Schiffssteward auf Gustav Mahler treffen, Jonathan Coe brachte in Mr. Wilder & ich eine junge Athenerin in die Nähe von Billy Wilder. Meist ist den jungen Figuren dabei eine gewisse Farblosigkeit zueigen, sollen sie doch nur als unbedarfte Stichwortgeber für die biographischen Bögen fungieren, die den Autor*innen bei ihren Künstlerromanen eigentlich im Sinne steht.

Bei den Figuren von Christine Dwyer Hickey liegt die Sache etwas anders, denn der irischen Autorin ist nicht daran gelegen, die Romanbiographie von Edward Hopper, neben Norman Rockwell wohl der prägendste amerikanische Maler des Realismus, vorzulegen. Im Gegenteil. In Schmales Land erfährt man so gut wie nichts über den Werdegang jenes Mannes, der von seinen Nachbar*innen ehrfurchtsvoll raunend nach der Initiale seines Nachnamens nur Mister Aitch gerufen wird. Er ist neben seiner Frau und dem jungen Michael Novak ein gleichwertiges Mitglied des Erzähltrios, das Christine Dwyer Hickey in ihrem herben Roman in den Mittelpunkt stellt.

Michael, Mr. und Mrs. Aitch

Dabei beginnt alles mit dem zehnjährigen Michael, der als Waise vor den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs von Deutschland nach Amerika verschickt wurde und sich jetzt in der Betreuung von Frau Aunt befindet, wie Michael seine neue Aufsichtsperson nennt. Schon einmal sollte er an die Küste von Massachusetts geschickt werden, damals weigerte sich der Junge rundheraus. Nun, zwei Jahre später, geht es mit dem Zug für ihn in Richtung Cape Cod ins Haus der Kaplans, wo drei Generationen unter einem Dach wohnen.

Christine Dwyer-Hickey - Schmales Land (Cover)

Neben der Großmutter Mrs. Kaplan wohnt auch ihre Tochter mit ihrem Sohn Richie dort vor Ort. Der Vater des Jungen ist ebenfalls im Krieg geblieben und so engagiert sich jetzt vor allem die Älteste der Kaplans für die Waisenfonds. Dort im Haus soll Michael einen Sommer verbringen und auch im Kontakt mit Richie auf andere Gedanken kommen. Doch so ganz mag das mit dem Anschluss zunächst nicht klappen. Michael ist mehr als scheu und zieht sich immer wieder zurück.

Der erste wirkliche Kontakt gelingt ihm ausgerechnet zu Mrs. Aitch, die er in deren Buick im nahegelegenen Städtchen Orleans beobachtet. Ihr Mann, der berühmte Maler, ist wieder einmal ohne sie losgezogen, um Skizzen anzufertigen. Seine Frau hat er im Auto zurückgelassen, wo Michael zufällig die Bekanntschaft mit ihr macht.

Eine komplizierte Künstlerehe

In der Folge fasst Michael zaghaft Vertrauen insbesondere zu Mrs. Aitch, wohingegen ihr Mann ihm immer noch Respekt einflößt. Häufig besucht er das Künstlerpaar und sorgt insbesondere für Mrs. Aitch für Abwechslung.

Denn die Ehe, die sie und ihr Mann, der berühmte Edward Hopper, führen, ist alles andere als glücklich. So zeichnet Mister Aitch als Beigabe zum Scheck für seine Schwester schon einmal eine Skizze mit seiner Frau und ihm im Boxring. Sie legt Streifen mit der Botschaft „Ich hasse ihn“ auf dem Küchentisch aus. Dauernd schwankt die kinderlose Beziehung zwischen der Suche nach Nähe und Abstoßung, Misstrauen und den Kampf um künstlerische Eigenständigkeit.

Vor allem Hoppers Frau leidet unter der Tatsache, dass sie ihre eigene künstlerische Karriere für ihren Mann auf Eis gelegt hat. Will sie auf eigene künstlerische Ambitionen hinweisen, wird ihr das von ihrem Umfeld schnell krummgenommen, etwa auf einer sommerlichen Party, die im Hause der Kaplans zum bevorstehenden Ende des Sommers am Labor Day gegeben wird. In dieser unbefriedigenden Situation ist Michael ein gutes Ventil für allen Zwist der Künstlerehe – und auch der Junge profitiert von der Bekanntschaft mit den Maler*innen.

Kein klassischer Künstlerroman

Das Schöne an Schmales Land ist die Tatsache, dass Christine Dwyer Hickey eben keinen klassischen Künstlerroman über die Hoppers geschrieben hat. Der Werdegang, die Werke, all das spielt hier so gut wie keine Rolle. Vielmehr interessiert sich die irische Autorin für die Kämpfe um künstlerische Souveränität und nimmt das widersprüchliche Eheleben der Hoppers genauso in den Blick, wie sie auch von der Traumatisierung des jungen Michael erzählt.

Alle Figuren agieren hier auf Augenhöhe und bekommen den gleichen Platz und das gleiche ehrliche Interesse der Autorin, woraus ein Roman erwächst, der ein ebenbürtiges Trio dreier ganz unterschiedlicher Menschen in den Mittelpunkt stellt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein rauer und wenig gefälliger Roman über Menschen und ihre erlittenen Versehrungen, über einen langen Sommer, der aber nur wenig Idylle birgt und über eine Gesellschaft, der die Männer abhanden gekommen sind (sind doch wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier schon wieder Soldaten in Uniform unterwegs, die diesmal aber an die Front in Korea geschickt werden).

Fazit

Schmales Land ist ein fein nuanciertes Bild einer Künstlerehe, die eher Kampf denn Miteinander war, und das Bild eines Sommers, der zu keinem Zeitpunkt ganz unbeschwert ist und über dem die Ahnung eines Verlustes schwebt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein herber Roman, der die Stimmung dort auf Cape Cod Anfang der 50er Jahre treffend einfängt und der von Uda Strätling ins Deutsche übertragen wurde.


  • Christine Dwyer Hickey – Schmales Land
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-293-00594-5 (Unionsverlag)
  • 416 Seiten. Preis: 26,00 €
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Amor Towles – Lincoln Highway

Vier Jungen ohne Väter, eine Reise in zehn Tage. Dazwischen ein Bogen aus Geschichten, Schicksalen und antiken Mythen. Mit Lincoln Highway gelingt Amor Towles ein Gegenentwurf zu seinem vorhergehenden Roman Ein Gentleman in Moskau – und ein Buch mit fast klassikerhaften Zügen und dem Zeug zum Bestseller.


„Das ist der Lincoln Highway“, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. „Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.“

Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.

„Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.“

Amor Towles – Lincoln Highway, S. 32 f.

Saß Graf Rostov, der Held von Amor Towles letzten Roman Ein Gentleman in Moskau im Hotel Metropol fest und verbüßte seine lebenslange Haft in statischer Verdammtheit, so ist in Lincoln Highway nun alles beständig in Bewegung. Es beginnt schon mit einer Autofahrt zu Beginn des Romans, der noch viele weitere Kilometer folgen werden.

Von Nebraska bis San Francisco (eigentlich)

Nach einem unglücklichen Zufall, der zum Tod eines anderen Jungen führte, befand sich Emmet in der Besserungsanstalt Salina, die er nun im Juni des Jahres 1954 als 18-Jähriger verlässt. Auf der elterlichen Farm in Nebraska wartet allerdings nur sein Bruder in Begleitung eines benachbarten Farmers – und ein Banker, der Emmett über die Schulden seines verstorbenen Vaters unterrichtet.

Amor Towles - Lincoln Highway (Cover)

Auf der elterlichen Farm hält Emmett nach seiner Vorgeschichte nicht mehr viel – besonders als sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy zehn Postkarten enthüllt, die ihnen ihre Mutter einst schrieb und die Stationen des Lincoln Highways markieren. Billy vermutet seine Mutter in San Francisco, weswegen die Brüder in zehn Tagen von Nebraska gen Westen reisen wollen. Der Studebaker, den Emmetts Vater seinem Sohn vererbte, steht bereit und so könnte es eigentlich losgehen. Doch statt eines brüderlichen Roadtrips durch die Weiten der USA kommt alles ganz anders.

Denn kurz nach der Ankunft auf der heimischen Farm klopft es an der Tür und es stehen zwei weitere Insassen der Besserungsanstalt von Salina vor Emmetts Haustür. Woolly und der Ich-Erzähler Duchess erweisen Emmett die Ehre, nachdem sie als blinde Passagiere im Kofferraum des Direktorenwagens gereist sind. Sie haben ganz andere Reisepläne als Emmett, denn sie wollen nach New York, um an ein Erbe von Woolly zu gelangen. Und so beginnt eine Reise, die sich völlig unvorhergesehen entwickelt und die immer wieder mannigfaltige Überraschungen und Begegnungen bereithalten soll.

Stets in Bewegung

Ob im Studebaker oder als blinde Passagiere in Zügen, ob vertikal in Aufzügen oder horizontal auf Seen oder Straßen – beständig drängen die Figuren in diesem Roman voran, jagen Idealen, verschollenen Familienmitgliedern oder dem großen Geld hinterher, stets begleitet von antiken Vorbildern, die Billy im Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden des Professors Abernathe entdeckt und seinen Reisegefährten nahebringt.

Das erinnert in seiner überstürzenden Hast und der vorwärtsdrängenden Bewegung an Klassiker der Reiseliteratur wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, wenngleich es hier nur zehn Tage sind, die das Handlungsgeschehen bestimmen (und immer wieder als Leitmotiv in verschiedensten Abwandlungen auftauchen, von Hausregeln und Countdowns bis hin zu den Zehn Geboten, die das Personal des Romans immer wieder bricht)

Zwischen all diese Bewegungen und Reisen setzt Amor Towles mitreißende Begegnungen, die von reisenden Hobos und Illusionisten bis zu doppelzüngigen (und reichlich gefährlichen) Predigern reichen, was an einen anderen Klassiker erinnert, nämlich Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das lässt trotz der Länge von fast 580 Seiten keine Langweile aufkommen, da durch die Struktur eines Countdowns, die Vielfalt der Figuren und den immensen Geschichts- und Schicksalsbogen Abwechslung ebenso wie Dramatik gegeben ist.

Weit mehr als ein schlichter Road Novel

Diese Vielfalt ist es, die Lincoln Highway auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit verleiht, wenngleich der Handlungsrahmen des Buchs ja eigentlich mit zehn Tagen im Juni 1954 sehr eng gesteckt ist. Diese Enge weiß Amor Towles aber maximal für sich zu nutzen und erzeugt durch seine Schilderungen von Tramps und Reisenden das Bild eines nostalgischen Amerikas, das aber nie in platten Americana-Kitsch abkippt. Stets ist doch auch das Gefühl des Verlusts, des Platzens von Illusionen und des Schmerzes präsent, der besonders am Ende des Romans zum Vorschein kommt und der das Buch zu weit mehr als einem gewöhnlichen Road-Novel macht.

Auch maximiert er durch diese Vielfalt an Schicksalen das Identifikationspotenzial, das dem Buch innewohnt. Acht ebenso heterogene wie plausibel geschilderte Figuren aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sind es, denen man in Lincoln Highway begegnen kann und deren Schicksale und Geschichten zur Identifikation einladen. Das macht das Buch maximal anschlussfähig und sollte für viele begeisterte Leserinnen und Leser sorgen, weshalb ich Towles Buch durchaus einen ähnlichen Erfolg zutraue, wie er ihm schon in den USA beschieden war. Dort stand das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach.

Zeitdruck bei der Übersetzung?

Schade nur, dass die Übersetzung von Susanne Höbel ins Deutsche mit der Güte von Towles Werk nicht so ganz mithalten kann. An einigen Stellen wirkt es so, als sei nicht allzu viel Zeit für gründliches Arbeiten geblieben. Die Protagonisten begrüßen sich des Öfteren mit einem „Hallo da“, was im Englischen als „Hello there“ gang und gäbe sein mag, im Deutschen allerdings etwas merkwürdig klingt und eher ein „Hallo zusammen“ oder „Hallo miteinander“ wäre.

Auch wirkt es wenig idiomatisch, wenn Emmets Bruder Billy auf Seite 405 Folgendes erklärt: „Im Jahr 49 BC war Cäsar Gouverneur von Gallien“. Before Christ hätte man hier durchaus als „vor Christus“ übersetzen können, statt den englischen Terminus stehen zu lassen. Auch andere Formulierung wirken ab und an etwas befremdlich, sodass sich der Eindruck von Übersetzungshektik in der deutschen Version manifestiert. Das ist schade, da Susanne Höbel ja ansonsten Romane wirklich gelungen ins Deutsche zu übertragen weiß.

Fazit

So bleibt festzuhalten, dass Lincoln Highway das Zeug zum Klassiker hat. Amor Towles bietet darin neben überzeugendem Erzählhandwerk eine Vielzahl an Figuren und Schicksalen auf, die die Leser*innen für sich einnehmen dürften. Er zeigt in der Tradition von Mark Twain Hobos, Dynastiesprößlinge, Farmerkinder und falsche Prediger, die sich alle auf der Suche befinden und denen allesamt Unrast und ein steter Bewegungsdrang zueigen ist. Das macht aus Lincoln Highway ein nimmermüdes Lesevergnügen, bei dem es zu keinem Zeitpunkt zu Stillstand oder gar Langeweile kommt. Es ist ein Road Novel, es ist mehr als ein Road Novel, es ist eines der Bücher, das die Bestsellerlisten erobern dürfte und auch über das kurzlebige Novitätengeschäft hinaus das Zeug zum Longseller hat.


  • Amor Towles – Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
  • 576 Seiten. Preis: 26,00 €
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Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Im Oktober des vergangen Jahres ließ sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Kollektives Schweigen und Kopfschütteln, das bis hin zu völliger Ignoranz reichte, nachdem aus Stockholm die Kunde des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers in unsere Gefilde vordrang. Abdulrazak wer? Kein Buch lieferbar, kein bekannter Titel, der im Feuilleton groß besprochen wurde – es konnte sich also nur um einen Fehler des Komitees handeln. Schnell war eine Erklärung bei der Hand – hier habe sich die Jury wohl nur für Zeitgeistiges und Politisch Korrektes entschieden, eher eine politische denn literarische Wahl, die man getrost ignorieren könne. So die selbstsicheren Kommentare, die aus dem Feuilleton zu vernehmen waren. Katharina Herrmann hat das Ganze in ihrem Artikel Die Borniertheit der Bauchnabelfluse sehr eindrücklich herausgearbeitet.

Ich hingegen war ganz gespannt ob dieser Verkündung. Ein mir völlig unbekannter Autor mit dem Schwerpunkt auf afrikanischer Geschichte? Welch schöne Abwechslung zu meinem so westlich geprägten Leseverhalten, bei dem mir Titel vom afrikanischen Kontinent eher selten unterkommen. Und nachdem dann im Dezember der erste Titel von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung wieder zugänglich war, machte ich mich an die Lektüre.

Eine überkommene Übersetzung

Das verlorene Paradies, im englischen Original mit Paradise etwas bündiger gehalten, ist ein Roman von Gurnah aus dem Jahr 1994. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold stammt aus dem Jahr 1996 und wurde für die Neuauflage sorgsam durchgesehen, wie es in der Editorischen Notiz am Ende des Buchs heißt. Auch erklärt der deutsche Verlag hier die bisweilen rassistischen und herabwürdigenden Begriffe noch einmal als Figurenrede. Eine Erklärung, die man vor 26 Jahren noch vergeblich in dem Buch gesucht hätte. Hier lässt sich deutlich eine Entwicklung in Sachen Sensibilisierung ablesen – leider vermisst man diese Entwicklung in der Übersetzung, die sich für mich oftmals schwerfällig und besonders im Streben nach gehobener Ausdrucksweise im Mündlichen unfreiwillig komisch und antiquiert las.

So unterhalten sich hier gerne einmal zwei junge Männer, eher Teenager, die Sätze mit „Gleichwohl“ einleiten. Dinge tun hier not oder man scheltet sich. Auch völlig überkommene Begriffe wie etwa der Terminus „Unflat“ anstelle von Schmutz oder Unreinheit ließen mich stutzen. Ohne das englische Original zu kennen, beschlich mich während der Lektüre der Eindruck, dass es hier wohl eine Neuübersetzung mit einem in der afrikanischen und deutschen Begriffswelt firmen Übersetzer oder Übersetzerin gewesen wäre, die not getan hätte, um einen optimalen Zugriff auf den Text zu schaffen. Und auch wenn es dann ein paar Monate mehr gedauert hätte, um eine sorgfältige und auf der Höhe der Zeit stehende Übersetzung in Händen zu halten – ich hätte sie mir gewünscht. Aber ökonomische Überlegungen. öffentliches Interesse und die Rechtesituation dürften ihr Übriges dazu getan haben, dass wir nun eben Leipolds Übersetzung aus dem Jahr 1996 zu lesen bekommen. Aber sei’s drum.

Der afrikanische Blick auf unsere koloniale Vergangenheit

Abdulrazak Gurnah - Das verlorene Paradies (Cover)

Es ist ja neben der Form auch der Inhalt, der zählt. Und hier erweist sich Abdulrazak Gurnahs Werk als spannendes Antidot zu unserem historisch-kolonialistischen Blick auf Afrika. Denn Das verlorene Paradies bekommen wir aus der Sicht von Yusuf geschildert, einem jungen Afrikaner muslimischen Glaubens, der in Ostafrika aufwächst. Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts und alles geht seinen gemächlichen Gang. Doch als sich Yusufs Vater verschuldet, gibt er seinen Sohn als Pfand in die Hände von Onkel Aziz, einem umtriebigen Händler.

Dieser parkt Yusuf im Laden von Khalil, den er bei seiner Arbeit unterstützen soll. Doch schon bald wird Yusuf abermals aus dem neuen Umfeld gerissen, da er zusammen mit Aziz und dessen Kolonne auf eine Handelsreise gehen soll. Der Junge sieht neue Städte, Menschen und Lebensweisen, die ihm seine eigenen engen Grenzen deutlich vor Augen führen. Eine dieser Expeditionen wird dann zum großen Desaster, das Yusuf dann aber auch zum ersten Mal eine Vorahnung auf die große Liebe gibt.

Und über allem schwebt die Herrschaft der Europäer, die sich in Yusufs Umgebung immer deutlicher abzeichnet. Die Europäer setzen ihren Machtanspruch blutig durch, bevormunden die lokale Bevölkerung und zeigen Härte. So ist es etwa dem Mechaniker Kalasinga widerfahren, der für einen Europäer einen Generator reparieren sollte und dessen Expertise nicht wirklich zählte, wie er in einem abendlichen Gespräch preisgibt. Stattdessen wurde er vom Hof gejagt und Hunde auf ihn gehetzt. Ein Motiv, das sich im Buch noch öfter wiederholen soll und das vor allem in der Schlusspointe eindrücklich wirkt.

Fazit

Das verlorene Paradies zeigt dem Feuilleton und uns Leser*innen, dass hier eben kein Autor ausgezeichnet wurde, der biedere und brave politisch korrekte Literatur fabriziert, wie des Öfteren insinuiert. Hier schreibt ein Autor mit eigener Stimme, der uns Afrika aus den Augen seiner eigentlichen Bewohner zeigt, der den Schmelztiegel von Ethnien vielstimmig inszeniert und der eine Welthaltigkeit in die hiesige Literaturszene bringt, die uns allen nur guttun kann.

Dieser Abdulrazak Gurnah hat etwas zu sagen – mit diesem Buch vor allem uns Deutschen, deren koloniale Vergangenheit hier immer wieder durchscheint. Und wenn dessen Botschaften in den kommenden Veröffentlichungen noch eine zeitgemäße Sprache in Form von guter Übersetzungsarbeit zupass kommt, dann habe auch ich gar nichts mehr zu mäkeln (oder zu schelten, um in der Begrifflichkeit dieses Buchs zu bleiben).


  • Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
  • Aus dem Englischen von Inge Leipold
  • ISBN 978-3-328-60258-3 (Penguin)
  • 336 Seiten. Preis: 25,00 €
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James Scudamore – English Monsters

Missbrauchsskandale wie etwa der in der Odenwaldschule oder bei den Regensburger Domspatzen erschüttern immer wieder die Öffentlichkeit. Erst nach Jahrzehnten kommen diese Skandale ans Tageslicht, wenn Betroffene den Mut haben, sich mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit zu wenden. Man verspricht Aufarbeitung, Untersuchungskommissionen werden eingeleitet, manchmal werden auch Entschädigungen geleistet – doch die Traumata bleiben. In seinem Roman English Monsters erzählt James Scudamore die Geschichte einer Clique von Freunden, die auf einem Internat Übergriffe erlebten und seither nicht wirklich loskommen von diesen Erfahrungen. Ein Roman, der sich differenziert einem schwierigen Thema nähert.


Sie wird nur die „Schule auf dem Berg“ genannt. Dorthin wird der junge Ich-Erzähler Max Denyer von seinen abwesenden Eltern geschickt. Der Großvater und die Großmutter kümmern sich auf dem eigenen Hof um den Jungen, abseits davon erfährt er wenig Geborgenheit und soziale Bindung. Seine eigentlichen Eltern sind immer unterwegs, momentan haben sie ihre Zelte in Mexiko aufgeschlagen. Für ihren Sohn ist in diesem Leben allerdings wenig Platz.

Und so ist das Internat für sie die passende Lösung. Dort beginnt für den Jungen eine besondere Zeit. Nach und nach lernt er die undurchsichtigen Regeln der Schule dort kennen. Die Pädagogen vor Ort pflegen einen strengen Umgang, körperliche Gewalt ist zu Züchtigungszwecken ein probates Mittel. Wer sich dem harten Regiment nicht fügt, bekommt die Konsequenzen am eigenen Leib zu spüren. Auch Max muss diese Erfahrung machen.

Während er zögerlich Freundschaften schließt, lernt er auch seine Dozenten besser kennen. Exzentriker, Waffennarren und andere Unikate bilden das Lehrerkollegium des Internats. Erst im Erwachsenenalter zeigen sich Max und der ganzen Öffentlichkeit die wahren Abgründe, die hinter den Schulmauern auftaten. Auch auf seine Freunde gewinnt der ehemalige Internatszögling einen neuen Blick.

Kein leichtes Thema, souverän erzählt

James Scudamore - English Monsters (Cover)

Es ist wahrlich kein leichtes Thema, das sich James Scudamore ausgewählt hat. Sexueller Missbrauch in einer schulischen Institution und Missbrauch von Schutzbefohlenen sind keine Themen, die einem in zeitgenössischen Roman häufig begegnen. Zu heikel, zu unverkäuflich, zu unangenehm für den Buchmarkt, so heißt es oft. Umso schöner, dass Scudamore das Risiko eingegangen ist und genau das in English Monsters thematisiert.

Dabei vermeidet der Autor dankenswerterweise allzu plakative Aussagen und Weisheiten. Sein Buch ist angenehm differenziert und weiß das schwierige Verhältnis der Jungen untereinander und zu den Lehrern in Worte zu fassen. Seine Beschreibungen des Lebens in der englischen Lehranstalt, der Drill und die Abgründe des Erziehungssystems zeichnet der Brite klar und schonungslos. Auch kommt Scudamore der gewählte Erzählansatz zupass.

Denn immer wieder vermischt er die Zeitebenen. So erzählt er von Max‘ Kindheit im Internat und seinem Leben danach in fließenden Übergängen, statt einen chronologischen Erzählansatz zu wählen. Mal trifft er seine Schulfreunde von damals im gesetzten Alter, dann ist er wieder zurück in der Schule am Berg und erinnert sich, wie er sich in dem Schulkosmos einlebte. Die Konsequenzen des Erlebten, das Fortwirken der Taten der Lehrer werden so nachvollziehbar geschildert. Auch das schwierige Verhältnis zu den inzwischen greisen Pädagogen nimmt in seinem Roman Raum ein. Vor allem sein Freund Simon, der den körperlichen Missbrauch unmittelbar erlebte, weiß hierbei Erschütterndes zu berichten, ohne dass der Roman ins Platt-Voyeuristische kippt. Der Blick zurück, die Erfahrungen der Kindheit, all das ist gut ausbalanciert und nachvollziehbar erzählt.

Fazit

Die Ambiguität und Vielstimmigkeit der Erinnerungen und Erinnerungen Max‘, die seinen Charakter geformt haben, beschreibt James Scudamore wirklich eindringlich. Sein Roman steckt voller Themen, die in den oftmals etwas einfach geführten Debatten zu kurz kommen. Was begünstigt den Missbrauch, welche Mechanismen begünstigen das Vertuschen, wie kann man über das Erlebte reden? English Monsters bietet gute Ansätze für Debatten und begegnet der Thematik angenehm komplex und vielschichtig. Die Erfahrung des Missbrauchs, das komplizierte Leben mit der Wahrheit, das Verdrängen oder Aufarbeiten der Erfahrungen, all das bettet Scudamore fundiert und klug in seinen Roman ein. Ein außergewöhnliches und engagiertes Buch, dessen Mut ich gerne mit vielen Leserinnen und Lesern belohnt sähe.


  • James Scudamore – English Monsters
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-446-26946-0 (Hanser)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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