Tag Archives: Kolonialismus

Mithu Sanyal – Antichristie

Zwischen Statuensturz und Hercule Poirot, Locked Room Mystery und Kolonialismuskritik, Doctor Who und Mahatma Gandhi. In Antichristie lässt Mithu Sanyal ihre Heldin zwischen Geschlechtern und Zeitebenen hin- und herwechseln und erzeugt damit neben einem kolonialismuskritischen Blick auf das britische Empire auch großes erzählerisches Chaos, das herausfordert.


Zwölf Tage sind es, die die Handlung von Antichristie gliedern. Zwölf Tage, die für die 12 D-Days, also Tage nach dem Tod von Queen Elizabeth II. stehen. Sie geben dem Roman Struktur, die dringend notwendig ist, bietet doch der Inhalt der Kapitel jede Menge Konfusion, Zitatgewitter, postkoloniale Thesen und Auseinandersetzungen, Nerdtum und Zeitreisen.

Die Queen ist tot, ebenso wie Lila, die Mutter von Durga Chatterjee. Kaum ist die Asche ihrer Mutter verstreut, fliegt Durga in das von der kollektiven Trauer um die Queen als Verkörperung des britischen Empires erfasste London. Dort soll sie als Teil eines Writers Room für eine Neuinterpretation von Agatha Christies ikonischem Detektiv Poirot sorgen. Die Gruppe versammelt sich im Florin Court, um dort im Kollektiv eine frische Version des belgischen Ermittlers fürs Fernsehen zu kreieren. Ausdrücklich soll Poirot dekolonisiert werden, eventuell als Schwarzer in Erscheinung treten.

Die Dekolonisierung des Hercule Poirot

Mithu Sanyal - Antichristie (Cover)

Ein Affront gegen die geschundene britische Seele, die schon mit der Trauer um ihre Queen befasst ist, und jetzt auch noch ein solches Vergehen am Werk der Queen of Crime ertragen muss. Während die Proteste um das Vorhaben anheben, erlebt Durga, die mit einem Zweiteiler der britischen Kultserie Doctor Who schon Erfahrungen in Sachen Drehbuchschreiben und erzählerischer Zeitreisen sammeln konnte, plötzlich selbst eine solche Zeitreise. Diese transferiert sie ins Edwardianische London zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort bekommt sie es mit einem aus dem Ruhestand zurückgekehrten Sherlock Holmes, vor allem aber mit den kolonialen Verbrechen der Engländer zu tun.

Denn nicht genug damit, dass Durga plötzlich in eine andere Zeit gewechselt ist. Auch ihr Geschlecht hat sich geändert. Plötzlich findet sie sich im Körper des Inders Janeev wieder, der Zugang zum Zirkel des India House in London erhält. Das, was für die Engländer schlicht eine Pension für indische Studenten ist, ist in Wahrheit doch viel komplexer. Fünfundzwanzig Räume, eine Bibliothek und vor allem viel Disput und Debatten kennzeichnen das Haus, in dem sich exilierte Inder*innen versammeln, die die Folgen des Kolonialismus am eigenen Leib erfahren haben. Allen voran Veer Savarkar ist ein intellektueller Impulsgeber dieses diskussionsfreudigen Hauses, den Durga nun selbst kennenlernt.

Zeitreise ins India House

War Sarvarkar zunächst vor allem in der Darstellung von Durgas Mutter Lila das Gehirn hinter dem Mord an Mahatma Gandhi, gewinnt Durga alias Janeev bei ihrer Zeitreise nun erheblich komplexere Einblicke in das Denken dieses Mannes und der Seelenlage der Inder*innen, die das Joch der britischen Fremdregierung jeden Tag spüren und sich erst Jahrzehnte später von der Herrschaft Englands freimachen konnten.

„So gut wie ihr Hegel?“, fragte Savarkar und stieß mich an.

„Mein was?“ sagte ich überrascht, doch er hatte natürlich nicht mit mir gesprochen.

„Ein deutscher Philosoph“, antwortete Sherlock, als hätte er den Unterton in Savarkars Stimme nicht gehört.

„Ein Rechtsphilosoph“, spezifizierte Savarkar, „der Kolonialismus als Lösung für das Problem der Armut in … unseren Ländern gerechtfertigt findet. Dabei sind wir nur arm, weil ihr Engländer unseren Reichtum abschöpft wie Sahne von der Milch, bevor ihr dann auch noch die Milch trinkt und den Krug stehlt.“

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 380

Debatten über Debatten

Es wird viel debattiert in Sanyals Buch. Sherlock Holmes debattiert da mit Veer Savarkar, Durga diskutiert im Writers Room mit ihren Mitstreiter*innen über die Neuanlage Hercule Poirots, De-Kolonisierung und Auswirkungen des Kolonialismus werden ausführlich beleuchtet. Immer wieder fliegen Durga Gedanken zu, gewinnt sie durch ihr Wissen aus der Jetztzeit neue Perspektiven auf die Vergangenheit und anders herum. Das könnte sehr erhellend sein, wenn Mithu Sanyal wie schon in ihrem Debütroman Identitti nicht die Hektik zum durchgängigen Stilmittel erhoben hätte.

„Marx? Marx? Wo habe ich den Namen schon einmal gehört?“, murmelte Savarkar und einen Moment war es, als wäre ich an Erinnerungen angeschlossen, die ich nie gehabt hatte, und ich WUSSTE, dass Karl Marx´ Enkel Jean Longuet Savarkar in wenigen Jahren vor dem Internationalen Gerichtshof verteidigen würde, um zu verhindern, dass er nach Kala Pani geschickt wurde. So musste sich das Internet fühlen, wenn es fühlen könnte. Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 168

Hektik als erzählerisches Mittel der Wahl

Schon der Beginn lässt den Leser und die Leserin verwirrt zurück. Der Trauerfall, der Writers Room, die plötzliche Zeitreise, die von und hin und her schwirrenden Dialogen und Fetzen solcher Dialoge begleitet werden. Es braucht gute Nerven und Motivation, bei diesem erzählerischen Dauerfeuer und „Abnerden“, wie es die Autor*innen im Raum selbst einmal bezeichnen, am erzählerischen Ball zu bleiben, wird dieses Zitat- und Theoriefeuer im Lauf des Buchs doch nicht eingestellt, sondern eher im Gegenteil erhöht.

Von dem Motiv der Zeitreise bis zur Faszination des Krimis, der in diesen Roman in Form eines klassischen Locked Room Mystery einfließt (das Rätsel eines Verbrechens in einem von innen verschlossenen Raum, der sich vor allen in den Kriminalromanen des sogenannten Goldenen Zeitalters von S. S. van Dine bis hin zu John Dickson Carr größter Beliebtheit erfreute), von Hegel bis zu Herbert Spencer bis zu Mahatma Gandhi reicht das intellektuelle Gewitter, das Mithu Sanyal hier entfesselt. Immer wieder überlagern sich die Zeitebenen von Gegenwart und Vergangenheit, kommt es zu Interferenzen zwischen den beiden Welten und beiden Durgas.

Mitunter verliert mich Mithu Sanyal dabei, insbesondere wenn Debatten in Dialogform über Seiten geführt werden oder die berechtigten Anliegen und Denkanstöße von Antichristie in ein Passagen wie der folgenden fast ins Parodistische kippen, wenn Durga als Erzählerin ihr Problembewusstsein allzu ostentativ ausstellt:

Als wäre alles noch nicht schlimm genug, kam Savarkar als Nächstes auf die Idee, eine Delegation von India House nach Marokko zu schicken, um im Rifkrieg an der Seite der aufständischen Amazigh, die damals noch [Triggerwarnung] Berber genannt wurden, gegen die spanischen Besatzer zu kämpfen. Erst als ich das N-Wort und das Z-Wort schon jahrelang nicht mehr verwendete, lernte ich, dass das B-Wort ebenfalls eine rassistische Erniedrigung darstellte, so wie Barbaren, weil es -wörtlich – Barbaren bedeutete. Die Idee hinter dieser Delegation war, einem Schwester-, nein, Brudervolk gegen eine Kolonialmacht beizustehen und dabei ganz nebenbei Militärerfahrung zu sammeln.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 350

Antikolonial, antirassistisch und problembewusst

Manchmal macht es Antichristie seinen Gegnern hier zu leicht, die das Werk als eines zu schmähen, das vor lauter „Wokeness“ seine eigentliche Handlung vergisst. Alles hier ist antikolonial, antirassistisches und problembewusst. Dagegen kann man ja eigentlich kaum etwas einwenden. Nur hätte ich gerne etwas mehr erzählerische Ruhe, klareren Fokus und eine literarischere Gestaltung denn den Ton eines erklär- und dozierfreudigen Sachbuchs, der viele Passagen und die geradezu inkommensurablen Debatten von Antichristie durchzieht.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Mithu Sanyals Roman ein erzählerisches Werk, das die Synapsen glühen lässt, das herausfordert, überfordert, mitnimmt ins vergangene London und einen auch manches Mal zurücklässt. Anspielungsreich, theoriegesättigt, aufklärerisch, mit Freude am Spiel und Rätsel ist Antichristie ein anderer Blick auf das vermeintlich so knuffige England und die indische Geschichte.


  • Mithu Sanyal – Antichristie
  • ISBN 978-3-446-28076-2 (Hanser)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

Diesen Beitrag teilen

Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Im Oktober des vergangen Jahres ließ sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Kollektives Schweigen und Kopfschütteln, das bis hin zu völliger Ignoranz reichte, nachdem aus Stockholm die Kunde des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers in unsere Gefilde vordrang. Abdulrazak wer? Kein Buch lieferbar, kein bekannter Titel, der im Feuilleton groß besprochen wurde – es konnte sich also nur um einen Fehler des Komitees handeln. Schnell war eine Erklärung bei der Hand – hier habe sich die Jury wohl nur für Zeitgeistiges und Politisch Korrektes entschieden, eher eine politische denn literarische Wahl, die man getrost ignorieren könne. So die selbstsicheren Kommentare, die aus dem Feuilleton zu vernehmen waren. Katharina Herrmann hat das Ganze in ihrem Artikel Die Borniertheit der Bauchnabelfluse sehr eindrücklich herausgearbeitet.

Ich hingegen war ganz gespannt ob dieser Verkündung. Ein mir völlig unbekannter Autor mit dem Schwerpunkt auf afrikanischer Geschichte? Welch schöne Abwechslung zu meinem so westlich geprägten Leseverhalten, bei dem mir Titel vom afrikanischen Kontinent eher selten unterkommen. Und nachdem dann im Dezember der erste Titel von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung wieder zugänglich war, machte ich mich an die Lektüre.

Eine überkommene Übersetzung

Das verlorene Paradies, im englischen Original mit Paradise etwas bündiger gehalten, ist ein Roman von Gurnah aus dem Jahr 1994. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold stammt aus dem Jahr 1996 und wurde für die Neuauflage sorgsam durchgesehen, wie es in der Editorischen Notiz am Ende des Buchs heißt. Auch erklärt der deutsche Verlag hier die bisweilen rassistischen und herabwürdigenden Begriffe noch einmal als Figurenrede. Eine Erklärung, die man vor 26 Jahren noch vergeblich in dem Buch gesucht hätte. Hier lässt sich deutlich eine Entwicklung in Sachen Sensibilisierung ablesen – leider vermisst man diese Entwicklung in der Übersetzung, die sich für mich oftmals schwerfällig und besonders im Streben nach gehobener Ausdrucksweise im Mündlichen unfreiwillig komisch und antiquiert las.

So unterhalten sich hier gerne einmal zwei junge Männer, eher Teenager, die Sätze mit „Gleichwohl“ einleiten. Dinge tun hier not oder man scheltet sich. Auch völlig überkommene Begriffe wie etwa der Terminus „Unflat“ anstelle von Schmutz oder Unreinheit ließen mich stutzen. Ohne das englische Original zu kennen, beschlich mich während der Lektüre der Eindruck, dass es hier wohl eine Neuübersetzung mit einem in der afrikanischen und deutschen Begriffswelt firmen Übersetzer oder Übersetzerin gewesen wäre, die not getan hätte, um einen optimalen Zugriff auf den Text zu schaffen. Und auch wenn es dann ein paar Monate mehr gedauert hätte, um eine sorgfältige und auf der Höhe der Zeit stehende Übersetzung in Händen zu halten – ich hätte sie mir gewünscht. Aber ökonomische Überlegungen. öffentliches Interesse und die Rechtesituation dürften ihr Übriges dazu getan haben, dass wir nun eben Leipolds Übersetzung aus dem Jahr 1996 zu lesen bekommen. Aber sei’s drum.

Der afrikanische Blick auf unsere koloniale Vergangenheit

Abdulrazak Gurnah - Das verlorene Paradies (Cover)

Es ist ja neben der Form auch der Inhalt, der zählt. Und hier erweist sich Abdulrazak Gurnahs Werk als spannendes Antidot zu unserem historisch-kolonialistischen Blick auf Afrika. Denn Das verlorene Paradies bekommen wir aus der Sicht von Yusuf geschildert, einem jungen Afrikaner muslimischen Glaubens, der in Ostafrika aufwächst. Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts und alles geht seinen gemächlichen Gang. Doch als sich Yusufs Vater verschuldet, gibt er seinen Sohn als Pfand in die Hände von Onkel Aziz, einem umtriebigen Händler.

Dieser parkt Yusuf im Laden von Khalil, den er bei seiner Arbeit unterstützen soll. Doch schon bald wird Yusuf abermals aus dem neuen Umfeld gerissen, da er zusammen mit Aziz und dessen Kolonne auf eine Handelsreise gehen soll. Der Junge sieht neue Städte, Menschen und Lebensweisen, die ihm seine eigenen engen Grenzen deutlich vor Augen führen. Eine dieser Expeditionen wird dann zum großen Desaster, das Yusuf dann aber auch zum ersten Mal eine Vorahnung auf die große Liebe gibt.

Und über allem schwebt die Herrschaft der Europäer, die sich in Yusufs Umgebung immer deutlicher abzeichnet. Die Europäer setzen ihren Machtanspruch blutig durch, bevormunden die lokale Bevölkerung und zeigen Härte. So ist es etwa dem Mechaniker Kalasinga widerfahren, der für einen Europäer einen Generator reparieren sollte und dessen Expertise nicht wirklich zählte, wie er in einem abendlichen Gespräch preisgibt. Stattdessen wurde er vom Hof gejagt und Hunde auf ihn gehetzt. Ein Motiv, das sich im Buch noch öfter wiederholen soll und das vor allem in der Schlusspointe eindrücklich wirkt.

Fazit

Das verlorene Paradies zeigt dem Feuilleton und uns Leser*innen, dass hier eben kein Autor ausgezeichnet wurde, der biedere und brave politisch korrekte Literatur fabriziert, wie des Öfteren insinuiert. Hier schreibt ein Autor mit eigener Stimme, der uns Afrika aus den Augen seiner eigentlichen Bewohner zeigt, der den Schmelztiegel von Ethnien vielstimmig inszeniert und der eine Welthaltigkeit in die hiesige Literaturszene bringt, die uns allen nur guttun kann.

Dieser Abdulrazak Gurnah hat etwas zu sagen – mit diesem Buch vor allem uns Deutschen, deren koloniale Vergangenheit hier immer wieder durchscheint. Und wenn dessen Botschaften in den kommenden Veröffentlichungen noch eine zeitgemäße Sprache in Form von guter Übersetzungsarbeit zupass kommt, dann habe auch ich gar nichts mehr zu mäkeln (oder zu schelten, um in der Begrifflichkeit dieses Buchs zu bleiben).


  • Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
  • Aus dem Englischen von Inge Leipold
  • ISBN 978-3-328-60258-3 (Penguin)
  • 336 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Einen Flügel kann man nicht reparieren …

Daniel Mason – Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.

Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.

Daniel Mason - Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (Cover)

Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.

Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.

Der Kampf um Birma

Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.

Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.

Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung

Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“

„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.

„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“

„Aber auch gute.“

Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281

Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.

Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.

Diesen Beitrag teilen