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Sefi Atta – Die amerikanische Freundin

Wie lebt man eigentlich, wenn im eigenen Land plötzlich geputscht wird? Sefi Atta beschreibt es in ihrem Roman Die amerikanische Freundin, die von Lewi erzählt, deren Heimat Lagos in politischen Wirren versinkt. Hat sie vielleicht sogar selbst etwas Schuld daran?


Ikoyi ist ein Stadtviertel der nigerianischen Millionenstadt Lagos. Hier lebt die Oberschicht des Landes – und auch Lewi Lawal ist hier mit ihrer Familie zuhause. Zwei Kinder, ein Hund, Dienstpersonal – die Lebensverhältnisse der Familie könnten eigentlich nicht schlechter sein.

Auch eine Entlassung aus dem Staatsdienst hat Lewis Mann Tunde gut verwunden. Obschon kurzzeitig das Stadtgespräch, hat er inzwischen wieder in einer Gemeinschaftsbank Anstellung gefunden und wird sogar per Chauffeur zur Arbeit gebracht. Lewi selbst betreibt einen kleinen Laden für Grußkarten und andere Karten, die Kinder gehen auf gute Schulen, man hat sich also gut eingerichtet im Leben.

Die Oberschicht von Lagos

Das Sozialleben der Familie erschöpft sich mit Empfängen und Einladungen anderer Bewohner*innen von Ikoyi, die schon einmal eine Party geben, um einen eigenen Pool einzuweihen oder mit Expats zu feiern. Es ist ein Partyleben, das sich nicht nennenswert von der Sinnlosigkeit westlicher Dekadenz unterscheidet.

Nicht, dass mir nur edle Gedanken durch den Kopf gegangen wären, aber falls es einen interessierte, warum der Wohlstand in Nigeria so ungleich verteilt war, brauchte man sich nur die Gäste auf der Party anzusehen, die lachten und scherzten, während sie sich von den Kellnern servierte Cocktails gönnten, nur um sich später mit Essen vollzustopfen. Ich verhielt mich allerdings, obwohl ich mir dessen bewusst war, auch nicht anders als sie. Einen Moment lang machte ich Small Talk, im nächsten nippte ich an einem Cocktail.

Sefi Atta – Die amerikanische Freundin, S. 116

Bei einer solchen Party der Oberschicht trifft Lewi auf Frances. Sie ist so ganz anders, schon alleine, weil sie aus den USA stammt. In ihrer Blase aus Bekannten ist die Amerikanerin eine faszinierende Ausnahme, deren Nähe Lewi zusehends sucht.

Für ihren Mann Tunde hingegen steht fest, dass Lewis amerikanische Freundin eine Spionin der CIA sein muss. Denn wir schreiben das Jahr 1976 und hinter dem Land liegen katastrophale Jahre. So hat der Biafrakrieg Nigeria erschüttert, nun herrscht eine Phase der Ruhe. Dass diese aber nicht dauerhaft ist, das zeigen aber auch die Prozesse der politischen Findung, die das Land durchläuft. Ethnisch vielfältig mit höchst unterschiedlichen Landesteilen versehen bildet sich die politische Landschaft und die Verwaltung gerade aus. Eine interessante Einflusssphäre also auch für die USA, die sich zu der Zeit im Clinch mit den Sowjetstaaten befinden.

Die amerikanische Freundin – oder die amerikanische Spionin?

Sefi Atta - Die amerikanische Freundin (Cover)

Doch ist Frances wirklich eine Spionin oder einfach eine interessierte Amerikanerin, die um Zugang zu den Kreisen der Oberschicht bemüht ist? Sefi Atta zeigt in ihren Beschreibungen und den Dialogen, die zwischen die einzelnen Kapitel geschnitten sind, zwei Frauen, die viel gemeinsam haben, die aber auch aufeinander angewiesen sind. In Erklärdialogen, die sich an einigen Stellen im Buch finden, führt Lewi Frances in die wechselvolle Geschichte Nigerias ein.

Während Die amerikanische Freundin in der ersten Hälfte noch vor sich herdümpelt, entfaltet das Buch im zweiten Teil dann aber einen Drive. Denn die Phase der Stabilität, in der sich das Land aktuell unter der Regierung des General Muhammed befindet, sie ist nur kurzzeitig. Um Lewi und ihre Familie herum bricht plötzlich ein Putsch los, der das Land in eine neue Phase der Unsicherheit stürzt. Und auch bei Lewi selbst herrscht Unsicherheit: hat sie vielleicht Frances mit ihren Erklärungen und Kontakten dabei unterstützt, diesen Putsch vonseiten der CIA aus zu forcieren?

Diese Entwicklung macht aus Sefi Attas Roman im Großen und Ganzen dann doch eine reizvolle Lektüre, während gerade Lewi und den Menschen, mit denen sie sich umgibt, zunächst noch etwas Reiz fehlt. Denn die überprivilegierte Oberschicht dort in Lagos ist nicht unbedingt das, was ich gemeinhin unter spannendem Romanpersonal verstehen, dessen Charaktere einen Roman tragen könnten. Auch werden größere Konflikte ausgespart, eher erschöpft man sich in den Partys, die weit weg sind von der übrigen Bevölkerung Nigerias und deren Problemen. Große Brüche oder charakterliche Tiefenschärfe oder Charaktertiefe sind somit erst einmal Mangelware. Erst durch die Ereignisse des Putsches, den die Figuren auch nicht unmittelbar selbst erfahren, bekommt das Buch dann Drive und Dringlichkeit.

Fazit

So bietet Die amerikanische Freundin doch viel Einsichten in die wechselvolle Geschichte eines Landes, das Sefi Atta manchmal in etwas zu dozierenden Erklärdialogen ausbreitet. Auf der Zielgerade kann Attas Buch aber doch noch Meter gutmachen und gewinnt mit der Innensicht aus einem Land, das gerade wieder einmal in politischer Orientierungslosigkeit versinkt. Gerade da Nigeria ebenso wie Afrika im Ganzen auf dem deutschen Buchmarkt ein Schattendasein führen, sei auf dieses von Simone Jakob übersetzte und im Peter Hammer-Verlag erschienene Buch gerne besonders hingewiesen!


  • Sefi Atta – Die amerikanische Freundin
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob
  • ISBN 978-3-7795-0623-2 (Peter Hammer-Verlag)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Gaea Schoeters – Trophäe

Menschenjagd in Afrika. In ihrem Roman Trophäe fragt sich die flämische Autorin Gaea Schoeters, was passiert, wenn sich ein Jäger bei seiner Jagd sprichwörtlich nicht mehr nur auf Tiere einschießt. Ein Roman mit einer spannenden Fragestellung, der auch die Leserinnen und Leser vor moralische Dilemma stellt und der gut in die Riege ethischer Grenzauslotungen in privilegierten Milieus á la Saltburn passt.


Hunter White. Gibt es einen besseren (wahlweise auch platteren) Namen, um einen Großwildjäger in eine Geschichte zu verpflanzen? Die Niederländerin Gaea Schoeters schickt den Jäger, der diesen Namen trägt, auf Großwildjagd in Afrika. Seine Biografie bleibt dabei ebenso nebulös wie sein Name funktionell. Außer Andeutung erfährt man wenig über ihn. Sein Job, die familiären Verhältnisse, alles schmückende Beiwerk bleibt hier recht schematisch auf das Nötigste reduziert – ebenso wie der Handlungsort irgendwo in Afrika, bei dem Schoeters ebenfalls auf eine genaue Verortung verzichtet. Vielmehr sind die Jagdgelüste des Mannes beziehungsweise die Motivation für sein Tun die beherrschenden Themen in ihrem Roman.

Seit zwei Jahren treibt diesen Hunter White schon der Plan des Abschusses eines Nashorns um. Viel Geld hat er berappt, um dort in Afrika endlich ein Exemplar vor seine Büchse zu bekommen. Und nun ist es endlich soweit. Zusammen mit dem Jagdleiter van Heeren und ein paar Spurensuchern macht er sich auf die Suche nach einem alten Nashornbullen, der von seiner Herde ausgestoßen wurde und dessen Existenz das Gleichgewicht der Nashornsippe bedroht (so zumindest die Argumentation, die den Abschuss des Tieres in der freien Wildbahn mit gutem Gewissen rechtfertigt).

Die Männer streifen im Busch umher und machen das Tier schnell aus – und nach einigen Verwicklungen und unvorhergesehenen Ereignissen ist das Tier dann auch erlegt. Bei einer reinen Beschreibung dieser Jagd und der argumentativen Stützung ihres Treibens dort belässt es Schoeters allerdings nicht. Denn etwa in der Mitte des Buchs legt van Heeren Hunter ein unmoralisches Angebot vor.

Die Grenzen der Jagd – und darüber hinaus

Warum sollte sich dieser nur auf den Abschuss eines Nashorns oder auf Löwen, also Teile der legendären Big Five beschränken? Warum das Ganze nicht um eine menschliche Komponente erweitern? Der Mensch als gefährlichstes Raubtier der Welt müsste ja genau genommen eigentlich auch Aufnahme in die Liste der tödlichsten Raubtiere der Welt finden und so würde aus den Big Five die Big Six. Warum diesen dann nicht auch einfach einmal jagen?

Gaea Schoeters - Trophäe (Cover)

Vor diese Frage stellt Gaea Schoeters Hunter White – und damit auch uns als Leserinnen und Leser. Denn Trophäe lotet die moralische Fragwürdigkeit der Jagd aus und blickt auch auf die letzten Konsequenzen des Tuns. Der Roman greift dabei auch in einigen Momenten Debatten auf, etwa die, die sich um den Abschuss des Löwen Cecil durch einen jagdnärrischen Zahnarzt aus den USA entspann.

Daraus bastelt Schoeters in ihrem von Lisa Mensing aus dem Niederländischen übertragenen Roman eine temporeiche Erzählung, der von der kolonialistischen Überlegenheit und weißem Suprematismus erzählt, der hier aber beständig mit Argumenten der Beteiligten schöngeredet und als notwendig dargestellt wird. Dies macht uns ein Stück weit auch zu Mittätern, die das Treiben dort in der Savanne und dem Buschland gespannt verfolgen.

Mit einem klareren Schwerpunkt auf Handlung denn auf psychologische Feinheiten erinnert das Ganze in Ansätzen an den Krimi Die letzte Jagd, in dem Jean-Christophe Grangé zuletzt eine solche Menschenjagd (beziehungsweise dort die Pirsch) im Milieu der Reichen und Schönen im Schwarzwald zwischen Frankreich und Deutschland inszenierte. Die Erhebung des einen Menschen über den anderen, die Rechtfertigung des Treibens und die Einbindung in die lokalen Bräuche, das sind Themen, die in Gaea Schoeters Trophäe im Mittelpunkt stehen.

Fazit

Es lässt sich hier mitfiebern und überlegen – auch wenn dem Roman noch ein wenig mehr an Tiefenschärfe in Sachen Figurenzeichnung gutgetan hätte, um wirklich in der letzten Konsequenz die Bitternis dieses Romans zu schmecken. So ist Trophäe ein interessantes, moralisch herausforderndes Buch, das vom Rausch der Jagd erzählt und das nach Afrika versetzt, auch wenn die genauen Umstände der Geschichte und Figuren im Dunkeln bleiben.


  • Gaea Schoeters – Trophäe
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • ISBN 978-3-552-07388-3 (Zsolnay)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

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Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Im Oktober des vergangen Jahres ließ sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Kollektives Schweigen und Kopfschütteln, das bis hin zu völliger Ignoranz reichte, nachdem aus Stockholm die Kunde des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers in unsere Gefilde vordrang. Abdulrazak wer? Kein Buch lieferbar, kein bekannter Titel, der im Feuilleton groß besprochen wurde – es konnte sich also nur um einen Fehler des Komitees handeln. Schnell war eine Erklärung bei der Hand – hier habe sich die Jury wohl nur für Zeitgeistiges und Politisch Korrektes entschieden, eher eine politische denn literarische Wahl, die man getrost ignorieren könne. So die selbstsicheren Kommentare, die aus dem Feuilleton zu vernehmen waren. Katharina Herrmann hat das Ganze in ihrem Artikel Die Borniertheit der Bauchnabelfluse sehr eindrücklich herausgearbeitet.

Ich hingegen war ganz gespannt ob dieser Verkündung. Ein mir völlig unbekannter Autor mit dem Schwerpunkt auf afrikanischer Geschichte? Welch schöne Abwechslung zu meinem so westlich geprägten Leseverhalten, bei dem mir Titel vom afrikanischen Kontinent eher selten unterkommen. Und nachdem dann im Dezember der erste Titel von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung wieder zugänglich war, machte ich mich an die Lektüre.

Eine überkommene Übersetzung

Das verlorene Paradies, im englischen Original mit Paradise etwas bündiger gehalten, ist ein Roman von Gurnah aus dem Jahr 1994. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold stammt aus dem Jahr 1996 und wurde für die Neuauflage sorgsam durchgesehen, wie es in der Editorischen Notiz am Ende des Buchs heißt. Auch erklärt der deutsche Verlag hier die bisweilen rassistischen und herabwürdigenden Begriffe noch einmal als Figurenrede. Eine Erklärung, die man vor 26 Jahren noch vergeblich in dem Buch gesucht hätte. Hier lässt sich deutlich eine Entwicklung in Sachen Sensibilisierung ablesen – leider vermisst man diese Entwicklung in der Übersetzung, die sich für mich oftmals schwerfällig und besonders im Streben nach gehobener Ausdrucksweise im Mündlichen unfreiwillig komisch und antiquiert las.

So unterhalten sich hier gerne einmal zwei junge Männer, eher Teenager, die Sätze mit „Gleichwohl“ einleiten. Dinge tun hier not oder man scheltet sich. Auch völlig überkommene Begriffe wie etwa der Terminus „Unflat“ anstelle von Schmutz oder Unreinheit ließen mich stutzen. Ohne das englische Original zu kennen, beschlich mich während der Lektüre der Eindruck, dass es hier wohl eine Neuübersetzung mit einem in der afrikanischen und deutschen Begriffswelt firmen Übersetzer oder Übersetzerin gewesen wäre, die not getan hätte, um einen optimalen Zugriff auf den Text zu schaffen. Und auch wenn es dann ein paar Monate mehr gedauert hätte, um eine sorgfältige und auf der Höhe der Zeit stehende Übersetzung in Händen zu halten – ich hätte sie mir gewünscht. Aber ökonomische Überlegungen. öffentliches Interesse und die Rechtesituation dürften ihr Übriges dazu getan haben, dass wir nun eben Leipolds Übersetzung aus dem Jahr 1996 zu lesen bekommen. Aber sei’s drum.

Der afrikanische Blick auf unsere koloniale Vergangenheit

Abdulrazak Gurnah - Das verlorene Paradies (Cover)

Es ist ja neben der Form auch der Inhalt, der zählt. Und hier erweist sich Abdulrazak Gurnahs Werk als spannendes Antidot zu unserem historisch-kolonialistischen Blick auf Afrika. Denn Das verlorene Paradies bekommen wir aus der Sicht von Yusuf geschildert, einem jungen Afrikaner muslimischen Glaubens, der in Ostafrika aufwächst. Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts und alles geht seinen gemächlichen Gang. Doch als sich Yusufs Vater verschuldet, gibt er seinen Sohn als Pfand in die Hände von Onkel Aziz, einem umtriebigen Händler.

Dieser parkt Yusuf im Laden von Khalil, den er bei seiner Arbeit unterstützen soll. Doch schon bald wird Yusuf abermals aus dem neuen Umfeld gerissen, da er zusammen mit Aziz und dessen Kolonne auf eine Handelsreise gehen soll. Der Junge sieht neue Städte, Menschen und Lebensweisen, die ihm seine eigenen engen Grenzen deutlich vor Augen führen. Eine dieser Expeditionen wird dann zum großen Desaster, das Yusuf dann aber auch zum ersten Mal eine Vorahnung auf die große Liebe gibt.

Und über allem schwebt die Herrschaft der Europäer, die sich in Yusufs Umgebung immer deutlicher abzeichnet. Die Europäer setzen ihren Machtanspruch blutig durch, bevormunden die lokale Bevölkerung und zeigen Härte. So ist es etwa dem Mechaniker Kalasinga widerfahren, der für einen Europäer einen Generator reparieren sollte und dessen Expertise nicht wirklich zählte, wie er in einem abendlichen Gespräch preisgibt. Stattdessen wurde er vom Hof gejagt und Hunde auf ihn gehetzt. Ein Motiv, das sich im Buch noch öfter wiederholen soll und das vor allem in der Schlusspointe eindrücklich wirkt.

Fazit

Das verlorene Paradies zeigt dem Feuilleton und uns Leser*innen, dass hier eben kein Autor ausgezeichnet wurde, der biedere und brave politisch korrekte Literatur fabriziert, wie des Öfteren insinuiert. Hier schreibt ein Autor mit eigener Stimme, der uns Afrika aus den Augen seiner eigentlichen Bewohner zeigt, der den Schmelztiegel von Ethnien vielstimmig inszeniert und der eine Welthaltigkeit in die hiesige Literaturszene bringt, die uns allen nur guttun kann.

Dieser Abdulrazak Gurnah hat etwas zu sagen – mit diesem Buch vor allem uns Deutschen, deren koloniale Vergangenheit hier immer wieder durchscheint. Und wenn dessen Botschaften in den kommenden Veröffentlichungen noch eine zeitgemäße Sprache in Form von guter Übersetzungsarbeit zupass kommt, dann habe auch ich gar nichts mehr zu mäkeln (oder zu schelten, um in der Begrifflichkeit dieses Buchs zu bleiben).


  • Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
  • Aus dem Englischen von Inge Leipold
  • ISBN 978-3-328-60258-3 (Penguin)
  • 336 Seiten. Preis: 25,00 €
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Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken

Ein Wolkenkratzer, eine Brücke über kilometerlange Schluchten oder ein Tunnel durch ein ganzes Gebirge – alles nichts gegen diesen Plan, von dem Matthias Lohre in seinem Romandebüt erzählt: das Mittelmeer durch Dämme und Wasserkraftwerke zähmen und absenken, um in der Folge Afrika und Europa zu einem Kontinent zu vereinen, für Friede, Wohlstand und Reichtum. Das ist fürwahr Der kühnste Plan seit Menschengedenken, den sein Held Hermann Sörgel verfolgt.


Nur 14 Kilometer sind es, die den afrikanischen vom europäischen Kontinent in der Meerenge von Gibraltar trennen. Wie wäre es, diese beiden Kontinente durch einen gewaltigen Damm zu verbinden und damit den Nachschub von Wassermassen aus dem Atlantik zu unterbinden? Der sonstige Zulauf von Wasser in das Mittelmeer wäre zu vernachlässigen und könnte mit Wasserkraftwerken sogar noch genutzt werden, ehe über die Zeit das ganze Becken austrocknen würde und so Landmasse für Millionen freilegen würde. Stromnetze von Afrika bis Europa, freier Handel, eventuell noch eine Wasserfläche um Venedig herum und ein paar Seen in den afrikanischen Wüsten – damit wäre allen gedient. Die Afrikaner könnten an europäischem Wohlstand und am Handel partizipieren, die Europäer erhielten Fläche für Nahrungsanbau und Siedlungsgebiete. Das ist die kühne Idee, die Hermann Sörgel entwickelt hat.

Panropa bzw. Atlantropa-Plan Hermann Sörgels

Sein Vater sorgte einst für den Bau des Walchenseekraftwerks, der Sohn will mit einer eigenen Idee aus dem Schatten seines vom bayerischen König in den Ritterstand erhobenen Vaters treten. Der 1885 in Regensburg geborene Sörgel ist sich sicher, dass eine solche gewaltige Idee, ein solches Gemeinschaftsprojekt alle europäischen Nationen fordern würde, die folglich gar keine Zeit mehr für Kriegsvorbereitungen und Säbelrasseln hätten. Frieden durch Panropa, so die Idee des verhinderten Architekten, die er in der Zeit der Weimarer Republik propagiert.

Ein Friedensprojekt in schwierigen Zeiten

Matthias Lohre - Der kühnste Plan seit Menschengedenken (Cover)

Als Unterstützerin seiner Pläne weiß Sörgel seine Frau Irene an seiner Seite. Er hat sie 1925 auf einer Schiffsreise nach Amerika kennengelernt und sie kurze Zeit später geehelicht. Selbst aus einer schwierigen Verhältnissen stammend hilft sie Sörgel bei seinen Auftritten und steht ihm in Krisen und Selbstzweifeln zur Seite. Langsam nimmt Sörgels Idee Fahrt auf, er wirbt landauf, landab für das Projekt und gründet mit Unterstützern auch einen Verein für Panropa.

Doch Deutschland stehen schwierige Zeiten bevor – und ein Projekt, das von Frieden kündet ist nicht unbedingt das, was die kommenden Machthaber goutieren. was Um seine Idee weiterzuverfolgen, geht Sörgel über Grenzen und setzt auch seine Partnerschaft mit Irene schwersten Belastungen aus.

Ein mehr als überzeugendes Debüt

Mit Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist Matthias Lohre ein ebenso kenntnisreicher, wie literarisch überzeugender und anrührender Roman gelungen. Denn er verlässt sich nicht nur auf die fantastischen Geschichte des Panropa- oder späteren Atlantropa-Plans, sondern gestaltet auch den Rahmen jenes Plans und die Lebenswelt seines Erschaffers überzeugend.

Großartig ist es, wie Matthias Lohre von der Zeit erzählt, die auf Sörgels Plan und seine Beziehung einwirkt. Von der brodelnden Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus und des II. Weltkriegs gestaltet der 1976 geborene Autor seine Erzählwelt großartig und eindringlich. Egal ob Amerika in den 20ern, München während der Nazi-Herrschaft oder Oberstdorf in den letzten Kriegstagen – stets prägt ein Gefühl von Authentizität und Unmittelbarkeit die Lektüre. Dass Lohre als Autor von Sachbüchern über Kriegsenkel und die Zeit des Nationalsozialismus sowie von Recherchen für zeithistorische Magazine bereits hervorgetreten ist, kann nur als zuträglich für die Lektüre gewertet werden.

Doch abseits der historisch verbürgten Fakten und des Zeitkolorits ist es auch die Psychologie der Figuren, die Lohre zusätzlich großartig gelingt und die mein Urteil des Buchs entscheidend prägt. So gelingt es ihm, die Lebenswelten seiner beiden Hauptfiguren und deren schwierige Dynamiken plausibel zu schildern. Nähe und der Wunsch nach einem Kind prägen vor allem von Seiten Irenes aus die Partnerschaft. Gleichzeitig schmieden beide Parteien immer wieder Pläne hinter dem Rücken des jeweiligen anderen und ergehen sich in Heimlichkeiten oder Täuschungen.

Ambivalente Figuren inmitten von Zeitkolorit

Hermann Sörgel (Bildquelle: Wikipedia)
Hermann Sörgel

Matthias Lohre vermag es, die Figur des Hermann Sörgel so ambivalent zu schildern, dass man sich scheut, diesen als „Helden“ des Buchs zu bezeichnen. Man versteht diesen Utopisten, Opportunisten, Egomane, Wolkentänzer (und noch so vieles mehr) gleichzeitig, währenddessen sein striktes Beharren auf seine Pläne und Ignorieren der Umwelt nur noch den Kopf schütteln lässt. Besitzt Sörgel die Idee zu Altantropa oder ist nicht in Wahrheit der Plan, der schon von Sörgel Besitz ergriffen hat und der ihn sich sogar den Nazis andienen lässt?

Diese Ambiguität in der Figurengestaltung gelingt Lohre auch in Sörgels Konterpart Irene. Sie, die aufgrund ihres geburtsrechtlichen Status als Jüdin ab dem Ende der 20er Jahre zunehmend gefährdet ist, versteht man, wenngleich ihr Verharren an Sörgels Seite auch den Kopf schütteln lässt. Immer enger zieht sich die Schlinge um ihren Hals, während ihr Mann zur Realisierung seiner Pläne die Kooperation mit den Nationalsozialisten sucht. Sämtliche Versuche einer Flucht scheitern wahlweise an den Umständen oder Sörgels Passivität. Und doch versteht man dieses Paar und fühlt mit ihnen.

Fazit

Beeindruckend, wie Lohre gleich in diesem Debüt plastische und lebensechte Figuren erschafft, die manchmal kaum aushaltbar scheinen und wie er von einer Idee erzählt, die einen Mann und dessen Frau gleich mit verschlingt. Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist eine Geschichtsstunde über einen größenwahnsinnigen Plan (von dem zumindest ich hier zum ersten Mal hörte, wenngleich er sogar in Erich Kästners Fabian schon Erwähnung findet).

Aber es ist eben auch deutlich mehr, da er sich nicht nur im Deskriptiven ergeht, sondern eben ganz hineinfühlt in den Erfinder des Plans, dessen Zögern, Zaudern und Taktieren, das sein ganzes Leben und damit auch das seiner Frau prägen wird. Ein ganz starkes Literaturdebüt, das ich auf die Liste des vergangenen Deutschen Buchpreises gepackt hätte, hätte ich irgendetwas in diesem Literaturbetrieb zu sagen.


  • Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken
  • ISBN 978-3-8031-3336-6 (Wagenbach)
  • 474 Seiten. Preis: 26,00 €
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