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Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten

Mario Vargas Llosa schreibt in Der Traum des Kelten über den irischen Reisenden, Unabhängigkeitskämpfer und Berichterstatter Sir Roger Casement. Ein Roman, der die Ausbeutung und Gräuel des Kolonialismus in Afrika und in Südamerika beleuchtet. Und der die Geschichte einer Radikalisierung erzählt.


Die Grundkonstruktion seiner Erzählung ist eine klassische. Roger Casement sitzt im Gefängnis Petonville in London (wo vor ihm auch schon sein Landsmann Oscar Wilde saß). Er soll hingerichtet werden, ein Gnadengesuch ist eingereicht. Wie konnte es soweit kommen? Was hat sich der Mann zuschulden kommen lassen und warum droht die Todesstrafe? Das erzählt der Nobelpreisträger Vargas Llosa auf den folgenden gut 440 Seiten.

Der Traum von der Unabhängigkeit

Mario Vargas Llosa - Der Traum des Kelten (Cover)

Es ist ein bewegtes Leben, das Roger Casement führte. Als Berichterstatter führte ihn seine erste Mission in den Kongo. Dort sollte er für die britische Krone anfangs des 20. Jahrhunderts mögliche Gräuel und Menschenrechtsverletzungen dokumentieren. Und was er dort im Kongo entdeckt, das ist kaum auszuhalten. Unter der Regentschaft des belgischen Königs Leopold II. wird das ganze Land von einem Terrorregime aus Unterdrückung, Gewalt und Barbarei überzogen. Die Chicotte ist dabei das favorisierte Instrument der Kolonialherren. Mit dieser Nilpferdpeitsche wurden die Schwarzen schon bei kleinsten Vergehen ausgepeitscht. Massaker in Dörfern waren an der Tagesordnung, sobald die Dorfgemeinschaften nicht die geforderte Anzahl an jungen Arbeitskräften abgeben konnten. Abgehackte Hände, zu Tode gepeitschte Sklaven und eine unersättliche Gier nach Gütern und Reichtum bei den Kolonialherren. Und eine Bevölkerung, in der während des Regimes unter dem belgischen König acht bis zehn Millionen Kongoles*innen umkamen. Die Hälft der gesamten Bevölkerung.

Liest man Vargas Llosas Schilderungen dieser Barbarei, wird der Furor in Belgien offenbar, mit dem Statuen von Leopold II. zuletzt angegangen wurden.

Gräuel im Kongo

Auch Roger Casement ist von den Zuständen vor Ort mehr als erschüttert. Sein Bericht über die Gräuel im Kongo sorgt in England für großes Aufsehen. Und prädestiniert ihn in den Augen der Verantwortlichen für einen weitere Mission. In Peru soll er die Zustände beim Kautschukunternehmer Julio C. Arana untersuchen. Dort auf den Plantagen herrschen einem Zeitungsbericht nach ebenfalls unhaltbare Zustände. Die englischen Handelspartner sind beunruhigt und entsenden einmal mehr Casement. Dieser muss feststellen, dass sich zwar der Kontinent seiner Mission geändert hat, die Gräuel und die Ausbeutung der lokalen Bevölkerung gleichgeblieben sind. Die Abgründe des Kolonialismus, Roger Casement schaut sie in ihrer ganzen Tiefe.

Während dieser Zeit und fernab seiner Heimat verstärkt sich in ihm die Liebe zu seinem Heimatland Irland. Dort, in der County Antrim wuchs er auf – und nun will er sein Land vom Joch der Engländer befreien, die die irische Insel beherrschen. Zurück von seinen Missionen stürzt er sich im dritten Teil des Romans in den Kampf für die Unabhängigkeit Irlands. Er agitiert und reist – und endet schlussendlich im Gefängnis, wo der Roman seinen Anfang nimmt.

Dieses Leben der historisch verbürgten Figur ist bei Varga Llosa Ausgangspunkt für seine literarische Fiktion rund um diese schillernde Figur. Bekanntester Brite seiner Zeit, hofiert, umworben, von schwankender Konstitution, mit seiner Homosexualität hadernd, Kämpfer für ein freies Irland, dann wieder schwach und von Widersprüchen gezeichnet. Über Roger Casement und sein Leben zeichnet Vargas Llosa auch ein plastisches Bild von der Barbarei und Ausbeutung die im Kongo und Südamerika herrschten (und nicht nur dort). Auch die bewegte Epoche der Troubles und den Kampf um die Unabhängigkeit Irlands weiß Vargas Llosa eindrücklich zu schildern.

Nicht frei von Schwulst und Kitsch

Umso enttäuschender, dass ihm einige der Dialoge im Buch wirklich missraten sind. Und auch die Schilderungen rund um Rogers Homosexualität und seine Erfahrungen sind nicht immer frei von Schwulst und Kitsch. Hier tappt Vargas Llosa in die Falle, wenn seine Figur Roger Casement beständig über die muskulösen und so fröhlich unbeschwert-nackenden Afrikaner fabuliert und seinen Fantasien nachspürt. Darauf hätte der Nobelpreisträger ruhigen Gewissens verzichten können, ohne dass das Buch einen Mangel gelitten hätte.

Abgesehen von diesen Ausrutschern und Schwächen ist Der Traum des Kelten ein beeindruckendes Buch. Eines, das die Gräuel des Kolonialismus eindringlich vor Augen führt und eines, das die historische Figure des Roger Casements wieder entstaubt und dessen Verdienste zeigt. Durchaus eine Backlist-Perle, die dieser Tage wieder neu gelesen werden sollte auch angesichts der Debatten rund um den Postkolonialismus. Es lohnt sich.


  • Mario Vargas Llosa – Der Traum des Kelten
  • Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
  • ISBN: 978-3-518-46380-2 (Suhrkamp)
  • 447 Seiten, Preis: 9,99 €

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Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies

Im Oktober des vergangen Jahres ließ sich eine bemerkenswerte Beobachtung machen. Kollektives Schweigen und Kopfschütteln, das bis hin zu völliger Ignoranz reichte, nachdem aus Stockholm die Kunde des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers in unsere Gefilde vordrang. Abdulrazak wer? Kein Buch lieferbar, kein bekannter Titel, der im Feuilleton groß besprochen wurde – es konnte sich also nur um einen Fehler des Komitees handeln. Schnell war eine Erklärung bei der Hand – hier habe sich die Jury wohl nur für Zeitgeistiges und Politisch Korrektes entschieden, eher eine politische denn literarische Wahl, die man getrost ignorieren könne. So die selbstsicheren Kommentare, die aus dem Feuilleton zu vernehmen waren. Katharina Herrmann hat das Ganze in ihrem Artikel Die Borniertheit der Bauchnabelfluse sehr eindrücklich herausgearbeitet.

Ich hingegen war ganz gespannt ob dieser Verkündung. Ein mir völlig unbekannter Autor mit dem Schwerpunkt auf afrikanischer Geschichte? Welch schöne Abwechslung zu meinem so westlich geprägten Leseverhalten, bei dem mir Titel vom afrikanischen Kontinent eher selten unterkommen. Und nachdem dann im Dezember der erste Titel von Abdulrazak Gurnah in deutscher Übersetzung wieder zugänglich war, machte ich mich an die Lektüre.

Eine überkommene Übersetzung

Das verlorene Paradies, im englischen Original mit Paradise etwas bündiger gehalten, ist ein Roman von Gurnah aus dem Jahr 1994. Die deutsche Übersetzung von Inge Leipold stammt aus dem Jahr 1996 und wurde für die Neuauflage sorgsam durchgesehen, wie es in der Editorischen Notiz am Ende des Buchs heißt. Auch erklärt der deutsche Verlag hier die bisweilen rassistischen und herabwürdigenden Begriffe noch einmal als Figurenrede. Eine Erklärung, die man vor 26 Jahren noch vergeblich in dem Buch gesucht hätte. Hier lässt sich deutlich eine Entwicklung in Sachen Sensibilisierung ablesen – leider vermisst man diese Entwicklung in der Übersetzung, die sich für mich oftmals schwerfällig und besonders im Streben nach gehobener Ausdrucksweise im Mündlichen unfreiwillig komisch und antiquiert las.

So unterhalten sich hier gerne einmal zwei junge Männer, eher Teenager, die Sätze mit „Gleichwohl“ einleiten. Dinge tun hier not oder man scheltet sich. Auch völlig überkommene Begriffe wie etwa der Terminus „Unflat“ anstelle von Schmutz oder Unreinheit ließen mich stutzen. Ohne das englische Original zu kennen, beschlich mich während der Lektüre der Eindruck, dass es hier wohl eine Neuübersetzung mit einem in der afrikanischen und deutschen Begriffswelt firmen Übersetzer oder Übersetzerin gewesen wäre, die not getan hätte, um einen optimalen Zugriff auf den Text zu schaffen. Und auch wenn es dann ein paar Monate mehr gedauert hätte, um eine sorgfältige und auf der Höhe der Zeit stehende Übersetzung in Händen zu halten – ich hätte sie mir gewünscht. Aber ökonomische Überlegungen. öffentliches Interesse und die Rechtesituation dürften ihr Übriges dazu getan haben, dass wir nun eben Leipolds Übersetzung aus dem Jahr 1996 zu lesen bekommen. Aber sei’s drum.

Der afrikanische Blick auf unsere koloniale Vergangenheit

Abdulrazak Gurnah - Das verlorene Paradies (Cover)

Es ist ja neben der Form auch der Inhalt, der zählt. Und hier erweist sich Abdulrazak Gurnahs Werk als spannendes Antidot zu unserem historisch-kolonialistischen Blick auf Afrika. Denn Das verlorene Paradies bekommen wir aus der Sicht von Yusuf geschildert, einem jungen Afrikaner muslimischen Glaubens, der in Ostafrika aufwächst. Wir schreiben das Ende des 19. Jahrhunderts und alles geht seinen gemächlichen Gang. Doch als sich Yusufs Vater verschuldet, gibt er seinen Sohn als Pfand in die Hände von Onkel Aziz, einem umtriebigen Händler.

Dieser parkt Yusuf im Laden von Khalil, den er bei seiner Arbeit unterstützen soll. Doch schon bald wird Yusuf abermals aus dem neuen Umfeld gerissen, da er zusammen mit Aziz und dessen Kolonne auf eine Handelsreise gehen soll. Der Junge sieht neue Städte, Menschen und Lebensweisen, die ihm seine eigenen engen Grenzen deutlich vor Augen führen. Eine dieser Expeditionen wird dann zum großen Desaster, das Yusuf dann aber auch zum ersten Mal eine Vorahnung auf die große Liebe gibt.

Und über allem schwebt die Herrschaft der Europäer, die sich in Yusufs Umgebung immer deutlicher abzeichnet. Die Europäer setzen ihren Machtanspruch blutig durch, bevormunden die lokale Bevölkerung und zeigen Härte. So ist es etwa dem Mechaniker Kalasinga widerfahren, der für einen Europäer einen Generator reparieren sollte und dessen Expertise nicht wirklich zählte, wie er in einem abendlichen Gespräch preisgibt. Stattdessen wurde er vom Hof gejagt und Hunde auf ihn gehetzt. Ein Motiv, das sich im Buch noch öfter wiederholen soll und das vor allem in der Schlusspointe eindrücklich wirkt.

Fazit

Das verlorene Paradies zeigt dem Feuilleton und uns Leser*innen, dass hier eben kein Autor ausgezeichnet wurde, der biedere und brave politisch korrekte Literatur fabriziert, wie des Öfteren insinuiert. Hier schreibt ein Autor mit eigener Stimme, der uns Afrika aus den Augen seiner eigentlichen Bewohner zeigt, der den Schmelztiegel von Ethnien vielstimmig inszeniert und der eine Welthaltigkeit in die hiesige Literaturszene bringt, die uns allen nur guttun kann.

Dieser Abdulrazak Gurnah hat etwas zu sagen – mit diesem Buch vor allem uns Deutschen, deren koloniale Vergangenheit hier immer wieder durchscheint. Und wenn dessen Botschaften in den kommenden Veröffentlichungen noch eine zeitgemäße Sprache in Form von guter Übersetzungsarbeit zupass kommt, dann habe auch ich gar nichts mehr zu mäkeln (oder zu schelten, um in der Begrifflichkeit dieses Buchs zu bleiben).


  • Abdulrazak Gurnah – Das verlorene Paradies
  • Aus dem Englischen von Inge Leipold
  • ISBN 978-3-328-60258-3 (Penguin)
  • 336 Seiten. Preis: 25,00 €
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Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken

Ein Wolkenkratzer, eine Brücke über kilometerlange Schluchten oder ein Tunnel durch ein ganzes Gebirge – alles nichts gegen diesen Plan, von dem Matthias Lohre in seinem Romandebüt erzählt: das Mittelmeer durch Dämme und Wasserkraftwerke zähmen und absenken, um in der Folge Afrika und Europa zu einem Kontinent zu vereinen, für Friede, Wohlstand und Reichtum. Das ist fürwahr Der kühnste Plan seit Menschengedenken, den sein Held Hermann Sörgel verfolgt.


Nur 14 Kilometer sind es, die den afrikanischen vom europäischen Kontinent in der Meerenge von Gibraltar trennen. Wie wäre es, diese beiden Kontinente durch einen gewaltigen Damm zu verbinden und damit den Nachschub von Wassermassen aus dem Atlantik zu unterbinden? Der sonstige Zulauf von Wasser in das Mittelmeer wäre zu vernachlässigen und könnte mit Wasserkraftwerken sogar noch genutzt werden, ehe über die Zeit das ganze Becken austrocknen würde und so Landmasse für Millionen freilegen würde. Stromnetze von Afrika bis Europa, freier Handel, eventuell noch eine Wasserfläche um Venedig herum und ein paar Seen in den afrikanischen Wüsten – damit wäre allen gedient. Die Afrikaner könnten an europäischem Wohlstand und am Handel partizipieren, die Europäer erhielten Fläche für Nahrungsanbau und Siedlungsgebiete. Das ist die kühne Idee, die Hermann Sörgel entwickelt hat.

Panropa bzw. Atlantropa-Plan Hermann Sörgels

Sein Vater sorgte einst für den Bau des Walchenseekraftwerks, der Sohn will mit einer eigenen Idee aus dem Schatten seines vom bayerischen König in den Ritterstand erhobenen Vaters treten. Der 1885 in Regensburg geborene Sörgel ist sich sicher, dass eine solche gewaltige Idee, ein solches Gemeinschaftsprojekt alle europäischen Nationen fordern würde, die folglich gar keine Zeit mehr für Kriegsvorbereitungen und Säbelrasseln hätten. Frieden durch Panropa, so die Idee des verhinderten Architekten, die er in der Zeit der Weimarer Republik propagiert.

Ein Friedensprojekt in schwierigen Zeiten

Matthias Lohre - Der kühnste Plan seit Menschengedenken (Cover)

Als Unterstützerin seiner Pläne weiß Sörgel seine Frau Irene an seiner Seite. Er hat sie 1925 auf einer Schiffsreise nach Amerika kennengelernt und sie kurze Zeit später geehelicht. Selbst aus einer schwierigen Verhältnissen stammend hilft sie Sörgel bei seinen Auftritten und steht ihm in Krisen und Selbstzweifeln zur Seite. Langsam nimmt Sörgels Idee Fahrt auf, er wirbt landauf, landab für das Projekt und gründet mit Unterstützern auch einen Verein für Panropa.

Doch Deutschland stehen schwierige Zeiten bevor – und ein Projekt, das von Frieden kündet ist nicht unbedingt das, was die kommenden Machthaber goutieren. was Um seine Idee weiterzuverfolgen, geht Sörgel über Grenzen und setzt auch seine Partnerschaft mit Irene schwersten Belastungen aus.

Ein mehr als überzeugendes Debüt

Mit Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist Matthias Lohre ein ebenso kenntnisreicher, wie literarisch überzeugender und anrührender Roman gelungen. Denn er verlässt sich nicht nur auf die fantastischen Geschichte des Panropa- oder späteren Atlantropa-Plans, sondern gestaltet auch den Rahmen jenes Plans und die Lebenswelt seines Erschaffers überzeugend.

Großartig ist es, wie Matthias Lohre von der Zeit erzählt, die auf Sörgels Plan und seine Beziehung einwirkt. Von der brodelnden Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus und des II. Weltkriegs gestaltet der 1976 geborene Autor seine Erzählwelt großartig und eindringlich. Egal ob Amerika in den 20ern, München während der Nazi-Herrschaft oder Oberstdorf in den letzten Kriegstagen – stets prägt ein Gefühl von Authentizität und Unmittelbarkeit die Lektüre. Dass Lohre als Autor von Sachbüchern über Kriegsenkel und die Zeit des Nationalsozialismus sowie von Recherchen für zeithistorische Magazine bereits hervorgetreten ist, kann nur als zuträglich für die Lektüre gewertet werden.

Doch abseits der historisch verbürgten Fakten und des Zeitkolorits ist es auch die Psychologie der Figuren, die Lohre zusätzlich großartig gelingt und die mein Urteil des Buchs entscheidend prägt. So gelingt es ihm, die Lebenswelten seiner beiden Hauptfiguren und deren schwierige Dynamiken plausibel zu schildern. Nähe und der Wunsch nach einem Kind prägen vor allem von Seiten Irenes aus die Partnerschaft. Gleichzeitig schmieden beide Parteien immer wieder Pläne hinter dem Rücken des jeweiligen anderen und ergehen sich in Heimlichkeiten oder Täuschungen.

Ambivalente Figuren inmitten von Zeitkolorit

Hermann Sörgel (Bildquelle: Wikipedia)
Hermann Sörgel

Matthias Lohre vermag es, die Figur des Hermann Sörgel so ambivalent zu schildern, dass man sich scheut, diesen als „Helden“ des Buchs zu bezeichnen. Man versteht diesen Utopisten, Opportunisten, Egomane, Wolkentänzer (und noch so vieles mehr) gleichzeitig, währenddessen sein striktes Beharren auf seine Pläne und Ignorieren der Umwelt nur noch den Kopf schütteln lässt. Besitzt Sörgel die Idee zu Altantropa oder ist nicht in Wahrheit der Plan, der schon von Sörgel Besitz ergriffen hat und der ihn sich sogar den Nazis andienen lässt?

Diese Ambiguität in der Figurengestaltung gelingt Lohre auch in Sörgels Konterpart Irene. Sie, die aufgrund ihres geburtsrechtlichen Status als Jüdin ab dem Ende der 20er Jahre zunehmend gefährdet ist, versteht man, wenngleich ihr Verharren an Sörgels Seite auch den Kopf schütteln lässt. Immer enger zieht sich die Schlinge um ihren Hals, während ihr Mann zur Realisierung seiner Pläne die Kooperation mit den Nationalsozialisten sucht. Sämtliche Versuche einer Flucht scheitern wahlweise an den Umständen oder Sörgels Passivität. Und doch versteht man dieses Paar und fühlt mit ihnen.

Fazit

Beeindruckend, wie Lohre gleich in diesem Debüt plastische und lebensechte Figuren erschafft, die manchmal kaum aushaltbar scheinen und wie er von einer Idee erzählt, die einen Mann und dessen Frau gleich mit verschlingt. Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist eine Geschichtsstunde über einen größenwahnsinnigen Plan (von dem zumindest ich hier zum ersten Mal hörte, wenngleich er sogar in Erich Kästners Fabian schon Erwähnung findet).

Aber es ist eben auch deutlich mehr, da er sich nicht nur im Deskriptiven ergeht, sondern eben ganz hineinfühlt in den Erfinder des Plans, dessen Zögern, Zaudern und Taktieren, das sein ganzes Leben und damit auch das seiner Frau prägen wird. Ein ganz starkes Literaturdebüt, das ich auf die Liste des vergangenen Deutschen Buchpreises gepackt hätte, hätte ich irgendetwas in diesem Literaturbetrieb zu sagen.


  • Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken
  • ISBN 978-3-8031-3336-6 (Wagenbach)
  • 474 Seiten. Preis: 26,00 €
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Tade Thompson – Wild Card

Ist das eine Ermittlungsmethode? Ewige Skepsis?“. Die Frage kam leise.

„Ich habe keine Methoden“, antwortete ich wahrheitsgetreu.

Tade Thompson – Wild Card, S. 195

Mitten hinein in einen Hexenkessel aus Bürgerkrieg, Mord und Überlebenskampf führt Tade Thompson in seinem Thriller Wild Card. Bekanntheit erlangte der nigerianische Autor mit seiner Wormwood-Trilogie, die man dem Genre des Afrofuturismus zurechnen kann und deren Auftaktband Rosewater mit dem Arthur C. Clarke-Award ausgezeichnet wurde. Doch von Science-Fiction ist in seinem ursprünglich 2015 erschienen Roman Wild Card keine Spur. Stattdessen legt er hier einen Thriller reinsten Wassers vor, der in den fiktiven afrikanischen Staat Alcacia entführt.

Eine kleine Lüge mit großen Auswirkungen

Tade Thompson - Wild Card (Cover)

Dorthin fliegt Weston Kogi, um der Beerdigung seiner Tante beizuwohnen. Eigentlich lebt er inzwischen in England und verdingt sich als Wachmann, doch die familiären Banden innerhalb der Yoruba sind stark. Und so kommt Weston zurück in das Land, aus dem er einst aufgrund des Bürgerkriegs floh. Die Lage hat sich inzwischen beruhigt und auch die Beerdigung geht reibungslos über die Bühne. Doch für Kogi halten die Feierlichkeiten trotzdem ein dickes Ende bereit. Einem ehemaligen Schulkameraden gegenüber gibt er den Aufschneider. So behauptet er, bei der Mordkommission der englischen Polizei angestellt zu sein. Eine Lüge, die sich als fatal erweisen soll.

Den nach der Feier wird er von der Liberation Front of Alcacia gekidnappt. Diese möchte, dass er den Mord an einem hochangesehenen Politiker aufklärt und die Verantwortlichen für den Mord bei der People Christian’s Army findet. Doch kaum ist Weston Kogi aus den Fängen der LFA entlassen, wird er einmal mehr entführt. Nun ist es die PCA, die von Weston Kogi die Aufklärung des Mordes an dem Politiker verlangt. Und die Schuld soll er – keine große Überraschung – bei der LFA finden. So sitzt Weston Kogi gehörig in der Klemme, steht er doch zwischen den beiden verfeindeten Rebellengruppen und hat darüber hinaus keine Ahnung, wie das geht: einen Mord aufklären.

Immer wieder flackert Gewalt auf

Bei seiner Suche nach den Hintergründen für den Mordanschlag erlebt er die ganze Grausamkeit und den Wahnsinn am eigenen Leib. Banden, Geheimpolizei, Verbündete, die ein doppeltes Spiel treiben gibt es in Alcacia an jeder Ecke. Mit Weston Kogi möchte man da nicht tauschen.

Dabei scheut sich Tade Thompson auch nicht vor expliziten Szenen, um die Gräuel in Alcacia zu bezeichnen. Immer wieder flackern Momente größte Gewalt und Brutalität auf. Leichen werden zerstückelt, Menschen werden von Landminen in die Luft gesprengt. Missbrauch und Unterdrückung sind an der Tagesordnung. Das muss man aushalten können. Vor allem aber ist es die Ahnung, dass die hier beschriebenen Szenen doch wohl nur Abziehbilder der Gewalt sind, die in vielen afrikanischen Staaten tatsächlich grassiert. Das inzwischen so abgenutzt Schlagwort vom afrikanischen Bürgerkrieg wird hier wieder neu mit Bedeutung aufgeladen.

Eine bestechende Grundidee

Bestechend ist ja die Grundidee dieses Krimis. Eine aufschneiderischer Ex-Alcacianer, der nun mit den Auswirkungen seiner Flunkereien zu kämpfen hat. Allerding macht Tade Thompson für mein Gefühl zu wenig aus der Grundidee. Schnell mutiert Kogi vom Lügner zum tatsächlichen Ermittler, der sämtlichen Spuren nachgeht, Verhöre führt, die ihn weiterbringen und immer weiß, wie es gerade weitergeht in dem Schlamassel, in dem er steckt. Er liest sich dann als Ermittler wider Willen doch recht austauschbar, da er dann genau das macht, was alle anderen Ermittler*innen in solchen Situationen auch machen würden. Egal wie oft er zusammengeschlagen, misshandelt und malträtiert wird – wenig später fährt er unbeirrt und stoisch mit seinen Ermittlungen fort. Ein kriminalistisches Stehaufmännchen reinsten Wassers, dem man seinen früheren Job in England angesichts dieses Talents nicht so richtig abnimmt.

Auch wenn Kogi behauptet, dass er keine eigene Methode habe – Tade Thompson lässt ihn durchaus zielgerichtet im Nebel stochern. Hier hätte man durchaus mit Kogis Nicht-Eignung für den Job spielen können, um den Thriller noch etwas origineller und unverwechselbarer zu gestalten.

Fazit

Davon abgesehen ist Wild Card ein prima Thriller, der mit seinem Schauplatz und Thema andere Wege geht, anstelle einen weiteren Serienkiller-Thriller aus Europa oder Cop-Thriller aus Übersee zu präsentieren. Gelungene Unterhaltung mit leichten Abstrichen, relevant und außergewöhnlich.


  • Tade Thompson – Wild Card
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • ISBN 978-3-518-47151-7 (Suhrkamp)
  • 329 Seiten. Preis: 11,95 €
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Maaza Mengiste – Der Schattenkönig

Er kann sich aber nicht vorstellen, was die Italiener den Menschen antun, seinem Volk, seinen Untertanen, den Kindern einer Generation, die geboren wurden, um sein Land aufzubauen. Bald werden die Kaiserin, seine Kinder und seine Berater sich um dieses Radio versammeln, sich zu den Nachrichten neigen und ihnen lauschen, als könnten sie jedes knisternde Detail mit dem Körper aufnehmen. Er hingegen, der Kaiser, Jan Hoy, Haile Selassie, Terefi Mekonnen, hat nur den Wunsch, aufzustehen und einen anderen Raum zu betreten, um den Ozean zu überqueren, in seinen Hafen einzulaufen und sich in das Hochland zu schleichen, um seinem Volk zu verkünden, dass er für den Kampf heimgekehrt ist. Stattdessen ist er hier, wo es keine Sonne gibt, wo alles, was atmet, im Schatten überlebt.

Maaza Mengiste – Der Schattenkönig, S. 363

Ein hierzulande reichlich unbekanntes Kapitel äthiopisch-italienischer Geschichte bringt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste aufs Tapet. Sie schildert in Der Schattenkönig den Abessinienkrieg 1935 und den Kampf der Äthiopier*innen gegen die Besatzer. Fordernde Lektüre.


Verfolgt man nicht gerade ganz genau die aktuelle Nachrichtenlage oder liest beste italienische Literatur, dann kommt einem das Thema Äthiopien und das des Abessinienkriegs heute nicht mehr häufig unter. Das Bestreben Benito Mussolinis nach Expansion, die Überrumpelung des Gegners und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind hier in Deutschland ein Kapitel, das wir auch eingedenk der eigenen Geschichte, nicht wirklich präsent haben. Maaza Mengiste holt dieses Kapitel mit voller Wucht wieder hervor und macht den Krieg und das damit verbundene Leid wieder erfahrbar.

Hirut und Ettore

Hierzu stellt sie zwei Figuren in den Mittelpunkt: Hirut, die im Haus von Aster und deren Mann Kidane als eine Art Leibeigene lebt. Und später wird dann noch Ettore Navarra in den Fokus rücken. Er ist ein venezianischer Soldat, der unter seinem Befehlshaber Fucelli das Land Hiruts besetzt.

Maaza Mengiste - Der Schattenkönig (Cover)

Doch zunächst lernen wir Hirut kennen, der einzig ein wuijgara von ihren Eltern geblieben ist. Dieses Gewehr soll sie nur in höchster Not abfeuern, so brachte es ihr Vater bei. Doch nun behält es Kidane ein. Er ist der Abkömmling großer Krieger und sieht sich in der Verantwortung, nach der Besatzung seines Landes durch die faschistischen Italiener Gegenwehr zu leisten. Er schart eine Gruppe lokaler Bauern um sich, um den Truppen Mussolinis (oder Mussolonis, wie er in Äthiopien geheißen wird) Paroli zu bieten. Seine Frau Aster und Hirut werden trotz eines mehr als komplizierten Verhältnisses zueinander zu Unterstützerinnen in diesem Kampf.

Derweil ficht Ettore seinen ganz eigenen Kampf aus. Er hadert ebenfalls mit seiner Herkunft, auch sein Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht einfach. Diese Herkunft erweist sich zudem als Gefahr für ihn, da er, wenngleich nicht praktizierend, Jude qua Abstammung, ist. Und Mussolini treibt die antisemitischen Säuberungen im Militär voran, sodass Navarra permanent unter Beobachtung steht. Für seinen brutalen Vorgesetzten Fucelli dokumentiert er derweil mit der Kamera den Eroberungsfeldzug und die unglaublichen Gräuel, die die Schwarzhemden vor Ort verursachen.

Die Herkunft beziehungsweise die Aufgabe der beiden Charaktere formen auch über die beiden Erzählstränge hinweg die Struktur des Buchs. Denn immer wieder unterbrechen Fotobeschreibungen und Chor-Einschübe die Handlung und rhythmisieren so das Ganze. Und zu guter Letzt flicht Maaza Mengiste auch immer wieder Passagen ein, in denen sie sich in den Kaiser Haile Selassie einfühlt, wie etwa im Eingangszitat. Der Herrscher, der ins Exil nach England flieht und mit seinen eigenen Entscheidungen hadert, bildet so etwas wie die dritte Hauptfigur.

Die Grausamkeiten des Abessinienkriegs

Durch diese drei Figuren entsteht ein Panorama des Abessinienkriegs, das von Leid, Unterdrückung und unfassbarer Gewalt erzählt. So schildert Mengiste plastisch den Tod, den Mussolinis Schwarzhemden über die Menschen bringen. Sie setzten Gas gegen die lokale Bevölkerung ein. Navarras Vorgesetzter Fucelli errichtet im Hochland ein Lager, in das er Gefangene interniert und hundertfach in den Tod schickt. Während Ettore Navarra mit der Kamera das Geschehen dokumentiert, lässt Fucelli die Äthiopier über Klippen in der Nähe des Lagers in den Tod springen.

Hier wird der Krieg mit seiner ganzen Härte erfahrbar. Aber auch Hiruts Kampf und Verzweiflung zeichnet Maaza Mengiste plastisch nach. Zusammen mit Aster wird sie zur Leibgarde des Schattenkönigs, einer Finte ihres Mannes Kidane. Dieser macht einen Musiker zum Wiedergänger des geflohenen Präsidenten, der langsam in seine Rolle als Schattenkönig hineinfindet und die Äthiopier zum Durchhalten motiviert und unter den Italienern für Ablenkung sorgt.

So zoomt die Autorin auf die persönlichen Erfahrungen und stellt den Kampf in seiner ganzen Unmittelbarkeit dar. In dieser erzählerischen Mikroebene bleibt Maaza Mengiste ganz eng an ihren Figuren, Empfindungen, Gedanken und Reflexionen überwiegen. Persönlich hätte ich mir angesichts des hochspannenden und komplexen Themas noch etwas mehr Makroebene gegenüber der dominierenden Introspektive gewünscht. Der geschichtliche Rahmen, der politische Überblick und die Einordnung des Ganzen bleiben hinter dem subjektiven Blick zurück und fehlten mir persönlich. Viele Informationen zum Geschehen musste ich mir über Sekundärliteratur verschaffen.

Auch wäre mir eine etwas stärkere erzählerische Ausbalancierung zwischen den Figuren zupassgekommen. So bleibt Ettore zunächst blass und kaum greifbar, während Hirut stark im Vordergrund steht. Eine besser getaktete Engführung zwischen diesen beiden Figuren hätte mir persönlich gefallen.

Wie sie aber von ihnen erzählt, für Hirut, Ettore und Selassie eine eigene Sprache findet, das beeindruckt doch und rechtfertigt auch die Berufung in die finale Auswahl des Booker Prizes 2020. Zudem kommt hier mit Hirut eine Figur zu Wort, die in den herkömmlichen Chroniken sicher vergessen worden wäre. Sie steht symbolisch für den Krieg aus weiblicher Perspektive. Ihre Erfahrungen, ihr Kampf mit eigenen Mitteln und ihre Verarbeitung des Kriegs stehen als Sinnbild für viele tausende andere Abessinier*innen, die sonst nicht einmal als Fußnote in der Geschichtsschreibung auftauchen.

Fazit

In Der Schattenkönig beschwört Maaza Mengiste ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel italienisch-äthiopischer Geschichte herauf. Das Buch nur als Schilderung des Abessinienkriegs aus einer sonst eher marginalisierten Perspektive auszugeben, würde Mengistes Buch allerdings Unrecht tun. Die Erfahrungen, die der Krieg bedeutete, das unmittelbare Leid und der parallele Blick auf Unterdrücker und Unterdrückte machen aus diesem Buch eine eindringliche Lektüre, die zu weitergehenden Beschäftigung mit dieser Materie einlädt. Übersetzt von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit.


  • Maaza Mengiste – Der Schattenkönig
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-423-28292-5 (dtv Literatur)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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