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Auf Murmeljagd

Gibt es einen schlechten Zeitpunkt, um ein Buch über die Schrecken des Dritten Reichs zu veröffentlichen? Offensichtlich ja, wie der Fall Ulrich Becher zeigt. Er entschied sich nämlich, sein Opus Magnum, den 700-seitigen Roman Murmeljagd, 1969 zu veröffentlichen. Ein Buch, das sich mit Flucht, Terror und Menschenjagd auseinandersetzt – das aber kaum jemand lesen wollte. Die 68er-Bewegung hatte ihre Wirkmacht noch nicht entfaltet, die Ohrfeige Kurt Georg Kiesingers durch Beate Klarsfeld lag gerade einmal ein Jahr zurück. Sich literarisch mit den Schrecken der Jahre 33-45 auseinanderzusetzen, das stand für die damalige Gesellschaft noch nicht wirklich auf dem Programm, die Phase der Exilliteratur war schon vorbei.

Und so blieb auch Ulrich Becher mit seinem Buch der Erfolg und die Aufmerksamkeit verwehrt. Ein Status, der sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Ulrich Becher? Eher kennt man noch Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Schöpfer der DDR-Nationalhymne. Aber Ulrich Becher? Dieser Name lässt wohl höchstens bei Germanisten und eingefleischten Literaturkenner*innen die Glocken läuten, wie auch Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage der Murmeljagd bemerkt.

Schon einmal wagte Schöffling im Jahr 2010 eine Neuauflage dieses apokryphen Klassikers. Nun, zehn Jahre später gibt es wieder einen Versuch, Bechers Buch dem geneigten Publikum nahezubringen. Diesmal publiziert der Verlag zudem auch noch die New Yorker Novellen, die zwanzig Jahre vor der Murmeljagd entstanden. Ähnlich wie im Falle Gabriele Tergits oder Jens Rehns versucht Schöffling auch hier eine Wiederentdeckung eines Buch, das in einer gerechten Welt ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden wäre – und das bei allen Schwächen, die dem Buch auch zweifelsohne innewohnen.

Albert Trebla wird gejagt

Held von Bechers monumentalen Roman ist der Jagdflieger Albert ***, der sich in seiner Funktion als Journalist den Palindromnamen Albert Trebla zugelegt hat. Im Ersten Weltkrieg diente er als Aufklärungsflieger. Bei einem seiner Einsätze kam er einem feindlichen Flugzeug zu nahe, sodass er einen Kopfschuss kassierte. Nach einem Lazarettaufenthalt hilft ihm nur noch Ephedrin, um den oftmals pochenden Schmerz der Stirn zu betäuben.

Ulrich Becher - Murmeljagd (Cover)

Jener Trebla hat dem Krieg abgeschworen, er ist zum linken Journalisten geworden. Doch nun, zwanzig Jahre nach seinem Abschuss über den Wolken, dräut der Zweite Weltkrieg am Horizont. Die Nazis haben die Macht übernommen, Säuberungswellen und Gleichschaltung bedrohen Menschen wie Trebla. Und so entkommt er mithilfe eines waghalsigen Skimanövers über Vorarlberg in die Schweiz. Den SS-Patrouillen entgeht er nur um Haaresbreite. Dort in der Schweiz wartet seine Frau Xane auf ihn.

Da er unter dem tückischen Heufieber leidet, ist eine Tarnung kein Problem. Er zieht sich als Hotelgast zur Heufieberkur ins Engadiner Oberland zwischen Pontresina und Sils Maria zurück. Dort, in der abgeschiedenen alpenländischen Bergwelt möchte er zur Ruhe kommen. Doch damit ist es nicht weit her. Denn das Engadin wird von einer Reihe merkwürdiger Selbstmorde erschüttert. Immer ist es Trebla, der sich in unmittelbarer Nähe der Suizidanten befand. Zudem begegnet Trebla merkwürdigen Hotelgästen, die sein Misstrauen wecken. Sind es wirklich harmlose Murmeltierjäger, die im ladinischen Gebirge umhersteigen? Oder ist Trebla selbst das Murmeltier, auf das Jagd gemacht wird?

Engadiner Gestalten

Wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seiner politischen Einstellung zur unerwünschten Person und zur gejagten Figur wird, davon weiß Ulrich Becher eindrücklich zu berichten. Changierend zwischen bedrohlicher Stimmung und Komödiantentum, zwischen Tod und Kalauer durchlebt sein Trebla ein wahres Wechselbad der Gefühle. Zusammen mit seiner Frau begegnet er höchst skurrilen Gestalten, die Bechers Engadin bevölkern. Ein Cocker Spaniel-züchtender und dem Alkohol fröhlich zusprechender Landanwalt, genannt Avoccato Wau Wau. Ein ehemaliger irischer Jockey. Ein Berliner Schlossbesitzer, ein Arzt namens Dr. Pompejus Tardüser. Dieser Roman ist voller Figuren, die auf mysteriöse Art und Weise aus dem Leben scheiden oder bei denen lange nicht klar ist, was sie Trebla so wollen.

Dieser hetzt fiebrig durchs Engadin, immer mit Druck auf der Brust und der dräuenden Gefahr im Nacken. Dabei entstehen Szenen, die man nach dem Lesen nie wieder vergisst. So erzählt Becher vom brutalen Umgang der Schergen im KZ, vom Todesritt eines vormals weltbekannten Clowns in die Elektrozäune des KZ Dachaus oder dem brutalen Tod von Treblas bestem Freund, einem Wiener Arzt, durch jugendliche Nazischergen in einem Viehwaggon. Diese Bilder, die Becher in Murmeljagd zeichnet, sind von einer unfasslichen Wucht. Ihm gelingt in diesem Buch einer Meisterwerk der nuancierten Stimmungen, die von dramatischen Todesfällen bis zu schwarzem Humor reicht. Da stören auch die paar erzählerischen Volten, die das Buch beständig schlägt, nicht wirklich.

Und damit ist der wichtigste Punkt, der dieses Buch eigentlich kanonwürdig macht, noch gar nicht angesprochen. Es ist der Punkt der Sprache. Beziehungsweise der der Sprachgewalt. Denn Murmeljagd ist zuvorderst ein Sprachmeisterwerk im Guten wie im Schlechten. So ist die Erzählweise Bechers mit dem Adjektiv expressionistisch noch kaum erschlagen. Es ist ein Buch, das knallt, das explodiert, das sprüht, das fordert, oftmals auch überfordert und das zeigt, wozu Sprache im Stande ist.

Ein Meisterwerk der Sprache

Die größte Hürde dürften dabei schon die ersten Seiten sein, zumindest mir erging es so. Was da über die Seiten purzelt, könnte so manch eine*n veranlassen, das Buch wieder zuzuklappen und wegzulegen. Und das wäre ein Fehler. Denn Ulrich Becher zeigt hier über 700 Seiten, wie vielfältig Sprache ist, wie sie eine Geschichte bereichern und veredeln kann. Denn die Virtuosität des Meisterschülers von Georg Grozs ist unerhört. Eine Virtuosität, die manchmal auch nerven und überfordern kann, wie auf den ersten Seiten dieses Romans. Manchmal wirkt Becher wie ein naseweises kleines Kind, das alles zeigen will, was es kann. Da stecken Seiten voller Fix Laudon!, ausgeschriebener Ja-Jotts, Ka-Zetts und Ess Ess, die Charaktere geben sich häufig unterschiedlichste Kosenamen, sämtliche Dialekte werden ausgeschrieben, egal ob österreichisch, berlinerisch oder schweizerisch.

Dann gelingen Becher auch wieder Passagen, die man einfach nur bewundern kann, so etwa wie diese.

Der Berge Elefantengrau hatte mittlerweile einen Malventon angenommen, aber vom Berninapass herüber züngelte Homers „Rosenfinger der Frühe“. Spielten auf einem Firnzipfel Piz Palü, indes überm Rosatscheine formlose Ampel schwebte, der zur Sichel geschrumpfte Junimond verwischte hinter einer Federwolke, seit Tagen der erste überm Hochtal. Kein Kuhglockenklimpern, kein Vogelzwitschern, Verhallen zweier Schläge von der Pfarrkirche her, halb vier, eines schläfrig-heisern, fast grunzenden Hahnenschreis, der ohne Antwort blieb. Trotz des lästigen Tocketocke – ohne es wäre die Stille beispielslos geweisen – rührte ich mich nicht von der betonierten Stelle, als er herangetragen wurde, der unwirklich sachte Pfiff.

Becher, Ulrich: Murmeljagd, S. 581

In einer Zeit, in der viele Bücher in einer uniformen und austauschbaren Sprache geschrieben scheinen, ist Murmeljagd ein Buch, das zeigt, wie das auch aussehen könnte, mit spannender Sprache. Die Vielfalt, die in diesem Buch steckt, ergäbe genug Material für ein ganzes dutzend spannender Forschungsprojekte (an dieser Stelle sei auch auf das mehr als hilfreiche Online-Projekt zur Murmeljagd von Dieter Häner hingewiesen).

Neugier und Wille zu Bechers Stil ist vonnöten

Natürlich ist Ulrich Bechers Buch eines, das viele Leser*innen überfordern dürfte. So etwas wie Entspannung und Zerstreuung findet sich hier nicht, zu fordernd ist der Stil, zu düster das Thema. Auch erklärt sich so der Status des Buchs, den die Murmeljagd bis heute besitzt.

Wer sich aber auf dieses Wagnis der Jagd einlässt, bekommt es mit einem der außergewöhnlichsten Bücher der jüngeren deutschen Literatur zu tun. Und nicht zuletzt ist auch die Figur des Ulrich Bechers auch eine hochgradig faszinierende. Schließlich zählt er zur Garde der Exilautoren, er war der jüngste Schriftsteller, dessen Werke von den Nazis 1933 verbrannt wurden. Sein Leben und sein heute fast vergessenes Werk verdienten auf alle Fälle einer Wiederentdeckung.

Schön dass Schöffling nun noch einmal von Eva Menasse sekundiert einen Versuch für dieses Werk startet. Denn die Murmeljagd hat es verdient. Hier gilt auf alle Fälle: wer wagt, der gewinnt. Sieht auch die geschätzte Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze so.

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Familie, Tod & Hirschgulasch

Sebastian Stuertz – Das eiserne Herz des Charlie Berg

Dass man ein Herz nicht reparieren kann, das wusste schon Udo Lindenberg. Dass man mit seinem schwachen Herzen mehrfach sterben kann, es aber trotzdem irgendwie weitergeht, das erfährt Charlie Berg in Sebastian Stuertz´ Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Ein skurriler Roman über Familie, den Tod, das Verlieben, die Kraft des Waldes, die Literatur und nicht zu vergessen: das Hirschgulasch.


Sebastian Stuertz, Jahrgang 1974, und lebt und arbeitet in Hamburg. Zu den Feldern, auf denen sich der umtriebige Künstler tummelt, gehören Filmanimationen wie etwa beim Tatort, ein Podcast übers Schreiben und die Komposition von Musik. Mit Das eiserne Herz des Charlie Berg liegt nun sein Debütroman vor, der mit über 700 Seiten Laufzeit eines der dickleibigsten Debüts des Bücherfrühlings 2020 geworden ist.

Sebastian Stuertz - Das eiserne Herz des Charlie Berg (Cover)

Im Roman erzählt er, hin- und herspringend zwischen den 80ern und dem Jahr 1993 die Geschichte von Charlie Berg und dessen Familie. Diese besteht durchweg aus Figuren, die selbst Wes Anderson für einen Film wahrscheinlich zu verrückt erschienen wären. Da ist Charlies Vater Dito, ein dauerkiffender und lebensunfähiger Musiker, der im Keller des Hauses der Familie haust und mit einem Freund das sogenannte Toytonic Swing Ensemble bildet. Charlies Mutter hingegen glänzt mit Abwesenheit.

Rita del Monte ist Künstlerin, deren Arbeiten wie etwa Hitlers Nutten bitten zum Tanz handfeste Skandale auslöste. Einigermaßen normal erscheinen da schon Charlies Großeltern, nämlich der Wildhüter August Bardo Kratzer und seine Frau. Er passionierter Jäger mit Nazi-Vergangenheit, sie Beschützerin Charlies und Köchin des legendären Hirschgulaschs, das stets bei Familienzusammenkünften kredenzt wird.

Um dieses Ensemble herum gruppieren sich noch etliche weitere Figuren, deren Lebensgeschichte Stuertz im Lauf des Buchs näher beleuchtet. Als da wären eine völlig durchgeknallte Ärztin namens Dr. Helsinki, Charlies Fast-Freundin Mayra, mit der sich Charlie per Videokassetten austauscht, oder sein ehemaliger Deutschlehrer, ein miesepetriger Pädagoge mit Spitznamen Kafka.

Skurrile Figuren, skurrile Handlung

Den Tonfall von Das eiserne Herz des Charlie Berg setzt schon die Eröffnungsszene, die an Tragik und Slapstick kaum zu überbieten ist. Charlie begibt sich in dieser mit seinem Großvater auf die Jagd nach einem Hirsch, einem echten Kaventsmann. Doch mit dem Schießen und Töten hatte Charlie schon immer seine Probleme. So schießt er absichtlich daneben, als er auf den Hirsch zielt. Der Hirsch stirbt trotzdem – denn zeitgleich hatte ein Wilderer aus dem Dickicht auf das Tier gefeuert. Charlies Kugel trifft nun den Wilderer – der wiederum Charlies Opa erschießt. Auftakt zu einer Reihe betrüblicher Ereignisse. Denn als die Polizei wenig später naht, ist die Leiche des Großvaters verschwunden. Und Charlie muss mit allen Mitteln sein Mitwirken an den Todesfällen vertuschen.

Das ist alles andere als leicht, wenn dann auch noch die Ex-Freundin plötzlich wieder auftaucht. Und Mayra, die Videokassetten-Freundin, in die Charlie verliebt ist, beschließt in Mexiko einen Gangster zu heiraten. Und dann ist da auch die feine Nase von Charlie, die ihn zu einem Bruder von Jean-Baptiste Grenouille machen könnte. Diese beschert ihm nicht immer nur Glück, vor allem wenn er diese diese in die falschen Dinge steckt. Denn eines ist Charlie auch angeboren: sein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen und die Angelegenheiten um ihn herum zu verkomplizieren.

Die vielen Themen des Charlie Berg

Als wäre das Lügengebäude, in dem ich seit Opas Tod Unterschlupf gefunden hatte, nicht schon baufällig genug. Mein ganzes Leben verwandelte sich allmählich in eine notdürftig kaschierte Lüge. Nonno war kein Italiener, meine Wehrdiensttauglichkeit hatte ich mir mit Hilfe einer Urkundenfälschung ermogelt, beim Jagen ohne Jagdschein hatte ich einen Mann lebensgefährlich verletzt, besaß Geld, das ihm gehörte, und plante, damit meinen Patenonkel freizukaufen, einen vom Goethe-Institut geförderten Marihuanakonsumenten, der es für eine gute Idee gehalten hatte, Drogen aus Thailand nach Deutschland zu schmuggeln.

Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg, S. 304

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein Buch, das vielen Fragen nachgeht. Die Frage nach dem Schreiben und schrifstellerische Selbstbehauptung. Pubertät und Mannwerdung. Die Frage, was Familien im Innersten zusammenhält. Die Liebe, aber auch die Komplexität, die daraus erwachsen kann. Auch die Gattungsfrage ist ebenso vielfältig: ist das Buch nun ein Familienroman? Ein Künstlerroman? Coming of Age? Irgendwie vereint das Buch all diese unterschiedlichen Facetten.

Seine Themen behandelt Sebastian Stuertz aber nie so, dass es den Lektürefluss hemmen würde. Vielmehr ist dieses Buch trotz der Vielzahl an Seiten flott erzählt und weist einen locker-schwingenden, manchmal auch etwas schnodderig bis flamboyanten Erzählton auf. Immer wieder springt Stuertz von der erzählten Gegenwart im Jahr 1993 zurück in die Kindheit und Pubertät Charlie Bergs in den 80er Jahren. Dabei setzt er auf viele Kapitel, die schon mal Titel wie The Forsthaus Chronicles, Hirschgulasch zu Zweit oder Palim Palim tragen.

Fazit

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein großartiger Roman. Großartig, weil er seine Figuren trotz aller Überzeichnung und Karikatur ernst nimmt und die Gefahren der Pubertät nicht verkennt. Auch wenn man für mein Empfinden auf Szenen wie die mit der Bockwurst oder die der Zoophilie mit Pferd verzichten hätte können, ohne die Qualität des Buchs zu mindern: Charlie Bergs Geschichte reißt mit, berührt, unterhält und bringt einen humorvollen Ton in die aktuelle Literaturwelt, den diese gut gebrauchen kann. In meinen Augen ein wunderbares Leseerlebnis!


  • Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg (btb-Verlag)
  • Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten
  • ISBN: 978-3-442-75851-7
  • Preis: 22,00 €
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Joost Zwagerman – Duell

Es gibt so Bücher, da liest man die Plotidee und ist schon überzeugt. Joost Zwagermans Novelle Duell ist genau solch ein Fall. Ursprünglich im Weidle-Verlag erschienen, liegt nun die Taschenbuchausgabe dieses nicht einmal 150 Seiten starken Buchs im Piper-Verlag vor. Ergänzt wird das Buch um ein Nachwort des Übersetzers Gregor Seferens.

Joost Zwagerman - Duell (Cover)

Im Original 2010 erschienen, erzählt das Buch die Geschichte Jelmer Verhoofs. Jener gilt als Shootingstar unter den Kunstkuratoren, stets umgibt ihn ein jugendlicher Esprit. Doch nun soll das von ihm verwaltete Holland Museum die Pforten schließen, ein Umbau steht ins Haus. DIE Möglichkeit also für eine spektakuläre Derniere in seinem Haus.

Verhoff beschließt, unter dem Ausstellungstitel Duel junge zeitgenössische niederländische Künstler*innen in einen Dialog mit den angestammten Meisterwerken seines Hauses treten zu lassen. Diese Chance eröffnet sich auch der jungen Emma Duiker, die die Chance zu einem Coup nutzt. Sie kopiert 1:1 das Gemälde Untiteld No. 18 von Mark Rothko. Doch einige Zeit nach dem Ende der Ausstellung wird Verhoof von einem seiner Restauratoren darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Depot des Museums nunmehr offenbar die Kopie des Rothko-Bildes befindet. Verhoof stellt die junge Künstlerin zur Rede und erfährt von ihrem unglaublichen Plan, den sie rund um das Rothko-Gemälde ersonnen hat.

Was ist Kunst?

Das ist die zentrale Frage, um die sich Duell dreht. Mit seiner Versuchsanordnung schafft es Joost Zwagerman, die Leser mit dieser Frage zu konfrontieren, ohne dass es zu theorielastig wird. Zwar hat Zwagerman einen Hintergrund als Kunstkritiker und Sachverständiger, das drängt bei dieser Novelle aber dankenswerterweise nie in den Vordergrund. Stattdessen gelingt ihm mit diesem Büchlein ein kurzweiliges Abenteuer, das von Amsterdam bis nach Ljubljana führt, und das auf vielen Ebenen unterhält und anregt.

Man kann dieses Buch natürlich nur als unterhaltsame Komödie mit feinem Humor lesen. Genauso kann man aber in Duell auch eine Parabel auf den modernen Kunstbetrieb finden. Nicht umsonst ist ein Werk, auf das im Lauf des Buchs immer wieder Bezug genommen wird, der Essay The End of Arts as we know it eines fiktiven Kunsthistorikers. Die zentralen Fragen daraus greift Zwagerman mit seiner Geschichte von Zeit zu Zeit auf:

Wenn man ein Gemälde 1:1 kopiert und dann so austauscht, dass sogar den Experten der Tausch erst nach langer Dauer auffällt – welches der beiden Werke ist dann das wirkliche Kunstwerk? Wie bemisst sich der Wert eines modernen Gemäldes? Sind Kunstinstallationen gemalten Werken ebenbürtig? Duell öffnet den Raum für spannende Fragen, die natürlich ein jeder und eine jede anders beantworten wird. Eben das ist ja Kunst – die verschiedenen Blickwinkel auf ein und dasselbe Werk. Auch Zwagerman gelingt das mit seiner schmalen Novelle, weswegen das Buch in meinen Augen auf alle Fälle ein Kunstwerk ist (wenngleich die Entscheidung für die alte Rechtschreibung etwas irritiert).

Umso trauriger, dass der Künstler Joost Zwagermann nicht mehr unter uns weilt. Er nahm sich nach einer schweren Depression im Jahr 2015 selbst das Leben. Er hinterlässt ein vielfältiges Werk, das bei uns wieder oder erst noch zu entdecken ist. Die nächste Gelegenheit bietet der Weidle-Verlag, der nun Zwagermans Gimmick veröffentlich hat, das dem Holländer 1989 seinen Durchbruch bescherte.


  • Joost Zwagerman – Duell
  • Übersetzt von: Gregor Seferens
  • € 10,00 [D], € 10,30 [A]
  • Erschienen am 04.12.2018
  • 160 Seiten, Broschur
  • ISBN: 978-3-492-31355-1
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André Georgi – Die letzte Terroristin

Da ist er endlich, der Thriller, auf den ich lange gewartet habe. Zuletzt hatte ich keine gute Phase mit Spannungsromanen aus deutschen Landen. Zu bräsig, sprachlich zu durchschnittlich, der Plot zu unterambitioniert. Und nun kommt dieses Buch ums Eck – Die letzte Terroristin von André Georgi.

Im Spannungsgeschäft ist der Name Georgis wahrlich kein unbekannter. Er schrieb zahlreiche Drehbücher zu Folgen des Tatorts oder Bella Block. Auch formte er die Geschichten aus den Kurzgeschichtensammlungen Ferdinand von Schirachs zu Filmen um. Ebenso hat Bielefelder Autor bereits einen Thriller im Suhrkamp-Verlag publiziert, er trägt den Titel Tribunal und ist ebenso hart wie gut.

Sein Faible für die Brandherde der 90er Jahre lebt Georgi auch in seinem neuen Buch aus. Es entführt zurück in die Postwendezeit und setzt sich mit der 3. Generation der Roten Armee Fraktion auseinander. In Georgis Buch werden deren Geschichte und Taten wieder lebendig.

Den Kern seines Thrillers bildet der ungleiche Kampf zwischen den im Untergrund operierenden Mitgliedern der RAF und dem BKA in Gestalt des Ermittlers Andreas Kawert. Dieser macht, getrieben von seinem Chef und der Öffentlichkeit, Jagd auf die Terroristin. Doch trotz des Einsatzes von Datenverarbeitung und vielen personellen Ressourcen gelingt es den RAF-Mitgliedern immer wieder, erfolgreiche Anschläge auf hochgestellte Persönlichkeiten der Bundesrepublik zu verüben. Besonders der im Osten verhasste Treuhandchef Dahlmann gerät in den Fokus der Terroristen.

Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder
(Bundesarchiv, Bild 183-1990-0821-025 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA 3.0)

Die Wegmarken Treuhand-Chef, 3. Generation RAF oder Überfall auf die Airbase in Frankfurt am Main lassen es schon erahnen – auch wenn Georgi mit Pseudonymen arbeitet und seine künstlerische Freiheit geschickt nutzt: Die letzte Terroristin ist extrem nah entlang der Realität und den historischen Fakten gebaut. Dabei verliert sich der Roman allerdings nie in bloßem Dokutheater, sondern ist rasant konstruiert und weist eine fesselnde Erzählweise auf.

Hätten Stefan Aust, Dominik Graf und Tom Tykwer zusammengesessen, um einen Thriller über die 3. Generation der RAF und die verkrusteten Strukturen der Postwendezeit zu entwickeln, dann wäre wohl dieses Buch dabei entstanden. Dabei überzeugt neben Plot und fein nuancierter Personenzeichnung endlich auch einmal wieder die Sprache eines Thrillers. Georgi gelingt sowohl die plastische Beschreibung von Actionszenen, als auch die tiefergehende Analyse der RAF-Mitglieder und ihrer Gegenspieler, ohne dass der Plot Unwucht bekäme.

Erst später sollten sie begreifen, dass sie in dieser Nacht den größten Fehler machten, der der RAF jemals unterlaufen war. Alles, was die RAF zwei Jahrzehnte lang getan hatte, hatte aus der immer schmäler werdenden Kluft zwischen Terror und Mord heraus gelebt. Eine Unterscheidung, die das Land in diejenigen spaltete, die diese Unterscheidung akzeptierten, und diejenigen, die sie von Anfang an bekämpften. Eine Kluft, die das Land zerreißen sollte, das war der Plan, eine für die historische Dialektik notwendige Negation, aus der heraus Geschichte gemacht werden sollte. In dieser Nacht aber fiel die Unterscheidung von Terror und Mord mit einem Schlag in sich zusammen. Die Kinder der dritten Generation fraßen ihre eigene Revolution und mussten fortan Depots unter Strommasten anlegen und in die DDR fliehen, weil die Türen der WGs und der besetzten Häuser und der Studentenbuden und der Ferienhäuser linker Redaktionen und der Pfarrhäuser plötzlich neue Schlösser trugen, zu denen die alten Schlüssel nicht mehr passten.

Georgi, André: Die letzte Terroristin, S. 341

Ob die kommende zweiteilige Verfilmung des Thrillers mit Ulrich Tukur und Petra Schmid-Schaller der Vorlage Georgis gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. Es dürfte aber schwer werden, angesichts dieses Kopfkinos, das Georgi bei mir entfesselte. Ein deutscher Top-Thriller auf erfreulich hohem Niveau!

 

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Pauline de Bok – Beute

Wer sich mit dem Gedanken trägt, selber einmal zur Büchse zu greifen und eine Jagdausbildung zu beginnen – mit Beute – Mein Jahr auf der Jagd hält er oder sie das richtige Buch zur Vorbereitung in der Hand. Die Niederländerin Pauline de Bok hat es geschrieben – und nimmt den Leser mit in ein Jahr in der Einsamkeit Mecklenburg-Vorpommerns. Dort hat sie sich in einem umgebauten Stall niedergelassen und bejagt die Natur der Umgebung. Eigentlich ist de Bok Übersetzerin und hat beispielsweise die Werke Wolfgang Herrndorfs ins Niederländische übertragen – doch auch die Jagd übt einen großen Reiz auf sie aus. Und nach der Lektüre lässt sich konstatieren – dieser Reiz überträgt sich schnell auf den Leser.

Pauline de Bok - Beute (Cover)

Denn im Jahreszeiten-Turnus erzählt Pauline de Bok von ihren Streifzügen, Erlebnissen und Eindrücken aus dem Revier. Sie schafft es, ihre Eindrücke packend und nachvollziehbar zu schildern. Ist doch das Bild des Jägers ja immer noch mit vielen Klischees behaftet. Der schmerbäuchige, in Loden gewandte und von einem Rauhaardackel begleitete End-60er, der mit der geschulterten Flinte durch den Tann streift – dieses Bild mag aus manchem Heimatfilm geblieben sein, mit der tatsächlichen Jagd hat das wenig zu tun. De Bok nimmt die Leser mit auf den Hochsitz und zu Drückjagden. Wann dürfen Tiere bejagt werden? Was ist beim Wahren des Gleichgewicht im Wald zu beachten? Und wird einem nicht langweilig, wenn man stundenlang in der Kälte und Dunkelheit auf einem Hochsitz ansitzt?

Jägerlatein für Laien

Pauline de Bok versteht es anschaulich und nachvollziehbar zu erzählen. Nach dem Studium der Lektüre wird man firm im Jägerlatein sein. Kirrung, Schweiß, Blume, ansitzen, Spiegel oder Jährling – das alles kennt man am Ende des Buchs. Und wenn nicht, dann wartet an jenem Ende auch ein Glossar für Nichtjäger, das die wichtigsten Begriffe noch einmal aufführt und übersetzt.

Besonders schön ist auch, dass de Bok auf jegliche Überhöhung und Romantisierung des Jägerlebens verzichtet. Im Umgang mit eigenen Schwächen und dem Scheitern ist sie höchst souverän. Sie erzählt von Ängsten, Fehlschüssen und auch animalischen Gedanken, die sie während der Jagd befallen. Denn ihr Buch ist neben seiner deskriptiven Anlage auch dazu angetan, Anstöße über das Verhältnis von Leben, Jagen und eigenem Fleischgenuss zu geben.

Geradezu gierig macht sich die Autorin manchmal über das Aufbrechen eines frisch erlegten Tieres her. Sie beschreibt, wie sie häutet, zerlegt und das Tier anschließend zubereitet. Das mag manchem Veganer sicherlich auf den Magen schlagen, ich finde de Boks Umgang mit der Materie hingegen sehr ehrlich. Wir haben schon lange verlernt und verdrängt, was unser Fleischverzehr eigentlich bedeutet. Auf das Tier und dessen Leid deutet beim Einkauf beim Metzger oder im Supermarkt nichts mehr hin, die Herkunft des Produkts haben wir feinsäuberlich verdrängt. In Beute wird das wieder offenbar. Egal ob Innereien oder Wildbret – Pauline de Bok ist schonungslos in ihren Beschreibungen und weckt so auch neue Sensibilität für unsere Ernährungsgewohnheiten.

Fazit

Beute ist ein weiteres Buch aus dem boomenden Genre des Nature Writing (ähnliche empfehlenswerte Titel sind H wie Habicht von Helen MacDonald oder Mein Leben als Schäfer von James Rebanks). Ein Buch über die Faszination Jagd, eine Reflexion über unser Verhältnis zum Töten und ein Blick ins Tätigkeitsfeld moderner Jäger. Weidmännisch gesprochen: ein glatter Volltreffer!

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