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Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn

Die Wut, die bleibt. In Simone Atangana Bekonos Debüt gibt diese Einblick in die Seele einer jugendlichen Heldin, die ihre Verletzlichkeit in Gewalt kehrt – und die die Folgen ihres Tuns in eine Jugendstrafanstalt in den Niederlanden bringen. Doch kann ein Aufenthalt dort Salomés Zorn wirklich mindern – und woher kommt eigentlich diese Wut?


„Mein Name ist Salomé“, sage ich. „Salomé Henriette Constance Atabong. Das bin ich“

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 243

Wo sich andere Figuren dem Leser oder der Leserin am Anfang einer Geschichte vorstellen, da beschließt Salomé, die von Simone Atangana Bekono erdachte Heldin, ihren Bericht mit diesen Worten.

Kennenlernen konnte man die junge Frau auf 242 Seiten zuvor ausführlich – denn im Kern ist das Debüt der niederländischen Autorin die Erkundung der Seelenlandschaft einer jungen Frau, die sich manchmal selbst fragt, ob es von ihr vielleicht zwei verschiedene Varianten gibt.

Die Wut, die bleibt

Dabei ist es die weniger zugewandte und freundliche als vielmehr höchst zornige und aggressive Version Salomés, die sie in die Situation gebracht hat, die als erzählende Rahmenhandlung dieses Buchs dient. Denn Salomé sitzt im Donut ein, dessen Name etwas in die Irre führt, ist ein Donut doch eigentlich eher mit kalorienreichem Genuss assoziiert. In realiter möchte man auf den Genuss dieses Donuts aber eher verzichten, denn es handelt sich um den Spitznamen einer Einrichtung des geschlossenen Jugendvollzugs.

Simone Atangana Bekono - Salomés Zorn (Cover)

Da sich die nach Geschlechtern getrennten und einzeln abgeteilten Einheiten der Strafanstalt rund um den Innenhof gruppieren, sprechen die Insassinnen dort etwas ironisch von einem Donut. Einzelzellen, streng getakteter Tagesablauf, Gespräche mit Therapeuten. So sieht der Alltag dort aus, wo sich Salomé ihren Taten stellen muss, die in den Donut gebracht haben.

Es sind gravierende Vorwürfe, die sich aus den Gespräch mit ihren Mitinsassinnen und Therapeuten sowie aus den Rückblenden herausschälen. Denn Salomé hat zwei Mitschüler schwer verprügelt. So schwer, dass einer von beiden für den Rest seines Lebens ein Glasauge tragen muss. Doch warum konnte es soweit kommen, dass eine eigentlich unscheinbare Frau zwei Gleichaltrige so misshandelt?

Das erzählt Salomés Zorn, in dem Simone Atangana Bekono Schicht für Schicht des Charakters und vor allem der Erfahrungen freilegt, die Salomé geprägt haben.

So wächst sie am Rande eines kleinen niederländischen Dorfs als Tochter eines Migranten der ersten Generation aus Kamerun auf. Eine buchbegeisterte Mutter, eine ältere Schwester und ein kleines Eigenheim, in dem die Familie wohnt. Das kennzeichnet die Familie Atabong, deren Oberhaupt eine eigene Antwort auf Rassismus und Ausgrenzung gefunden hat.

Mit der Faust in die Welt schlagen

Es ist wichtig, dass du dich nicht zum Opfer machen lässt“, sagte Papa, während er zeigte, wie man zuschlagen muss.

„Du machst zusammen mit deinem Schlag einen Ausfallschritt. Als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst.“

Mittendurch schlagen. Stark sein. Schnelligkeit. Hart arbeiten. Sich nicht beklagen.

Sich nicht zum Opfer machen lassen.

Und wenn es doch passiert: schneller sein, als erwartet.

Das ist das Ziel

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 62

Der Grund für dieses doch recht handfeste Coaching sind die permanenten Übergriffe und Mobbingattacken, denen sich Salomé auf ihrer Schule, dem Sint-Odulfus-Categoraal-Gymnasium ausgesetzt sieht.

Als eine der wenigen Mitschüler*innen mit sichtbarem Migrationshintergrund ist Salomé Zielscheibe von Spott und dauernden Attacken der anderen Jugendlichen. Spätestens als eine Flüchtlingsunterkunft neben der Schule gebaut wird, bricht sich der Rassismus und die Verachtung ihrer Mitschüler*innen für Nicht-Weiße Bahn. Und so setzt Salomé auf das Mittel, das sie von ihrem Vater erlernt hat. Mit Konsequenzen, die sie schlussendlich in den Donut bringen.

Die zwei Salomés

Dabei gibt es auch eine andere Salomé. Eine, in der nicht beständig die Wut brodelt. Eine, die mit ihrer Mutter über Romane kommuniziert, die in der Welt der Literatur Geborgenheit findet, die sich für die antiken Mythen interessierte, allen voran die Legende der Medusa, und die vor allem in der Heimat ihres Vaters in Kamerun aufblüht.

Denn die familiären Wurzeln in Kamerun sind stets präsent, vor allem in Person ihrer Tante Céleste, deren Familie die Atabongs in einer der eindrücklichsten Szenen dieses Romans einst dort in ihrem Haus in Douala besuchten. Mittlerweile hat sich Céleste von ihrem Mann in Kamerun trennt und lebt mit einem neuen Partner in Spanien. Doch auch dort ist ihr Einfluss und ihre Denkweise auf Salomé präsent.

Wie Salomé zwischen den verschiedenen Einflüssen ihrer Familie und Temperamenten, den zwei Versionen ihrer selbst, den Erlebnissen dort im Donut und auch den widerstreitenden Eindrücken ihres Therapeuten Frits van Gestel, den sie aus dem Fernsehen kennt, wo er mit seiner Liebe zu Afrika bei Salomé keineswegs punkten konnte, all das vermengt Simone Atangana Bekono zum vielschichtigen Psychogramm einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg erst noch finden muss und die ihre Wut manchmal auf Abwege führt, wenngleich die Hintergründe dieser Wut anschaulich begründet werden.

Dabei würde Salomés Zorn vielleicht noch ein etwas präsenterer Spannungsbogen abseits des sich langsam zusammensetzenden Bildes von Salomés Werden und Sein guttun, für ein Debüt allerdings ist das, was die 1991 geborene Simone Atangana Bekono hier vorlegt, in seiner psychologischen Tiefe und Ausdeutung wirklich schon sehr beeindruckend.

Fazit

Salomés Zorn ist eine umfassende Beschreibung der Seelenlandschaft einer wütenden jungen Frau, die von Rassismuserfahrung, von Gewalt, aber auch vom schwierigen Finden der eigenen Identität erzählt. Ausgehend von der Rahmenhandlung im Jugendstrafvollzug beschreibt Simone Atangana Bekono die von Ausgrenzung, von Bildungshunger und vom schwierigen Finden des eigenen Platzes in der Welt als Kind der ersten Migrantengeneration geprägte Welt.

Das erinnert mitunter an die Prosa Giulia Caminitos, aber vor allem an das Debüt Ellbogen der Autorin Fatma Aydemir. Denn wie Aydemir erzählt auch die junge Niederländerin vom schweren migrantische Erbe, das eine*n nicht nur durch das Äußere kennzeichnet, die Erfahrung von Rassismus und der Wunsch nach Abgrenzung und Frieden, der dann doch schnell in Gewalt kippen kann. Und so verbinden sich auch schnell Politik und Privates, Zorn und Sehnsucht nach Geborgenheit, die Enge des Donuts und die Sehnsucht nach der Weite der Welt da draußen. Das macht Salomés Zorn lesenswert und vielleicht auch zu einer potentiellen Lektüre für höhere Schulklassen macht.


  • Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-406-80000-9 (C. H. Beck)
  • 246 Seiten. Preis: 24,00 €
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Katie Kitamura – Intimitäten

Jedes Jahr am 30. September feiert die Übersetzungswelt den Hieronymustag als Internationalen Übersetzertag, der die Kunst der Übertragung von Texten und Reden in andere Sprachen in den Mittelpunkt stellt. Katie Kitamura liefert mit Intimitäten den passenden Roman zu diesem Tag ab. Darin preist sie die Kunst des Übersetzens und schafft ein Bewusstsein für die schwierige Arbeit, die die Übersetzer*innen in Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof im Verborgenen erbringen.


Kitamuras Heldin und namenlose Ich-Erzählerin kommt nach dem Tod ihres Vaters nach Den Haag. Dort hat sie sich für eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Strafgerichtshof beworben – verfügt allerdings über kein soziales Netz vor Ort, weshalb sie anfangs mit ihrem neuen Wohnort fremdelt.

Ich kam mit nicht viel mehr als einem Ein-Jahres-Vertrag vom Gerichtshof nach Den Haag. In jener ersten Zeit, als die Stadt mir noch fremd war, fuhr ich oft ziellos mit der Straßenbahn herum und lief stundenlang durch die Straßen, sodass ich gelegentlich nicht mehr wusste, wo ich war, und den Stadtplan auf meinem Handy zu Rate ziehen musste. Den Haag wies eine Familienähnlichkeit mit jenen anderen europäischen Städten auf, in denen ich lange Abschnitte meines Lebens verbracht hatte, vielleicht überraschte es mich deshalb, dass ich so oft die Orientierung verlor. In diesen Momenten, wenn Verwirrung an die Stelle meines Gefühls von Vertrautheit trat, fragte ich mich, ob ich hier je mehr als eine Besucherin sein könnte.

Katie Kitamura – Intimitäten, S. 8

Doch ihr Gefühl der Fremdheit an ihrem neuen Wohnort sich rasch durch die Arbeit, die sie umfänglich in Beschlag nimmt. Sie macht Bekanntschaft mit Jana, einer extrovertierten Frau, die in einem schlecht beleumundeten Viertel von Den Haag lebt. Aus der Bekanntschaft wird eine Freundschaft – und auch einen Mann namens Adriaan lernt Katie im Zuge ihres Neuanfangs in Den Haag kennen.

Dieser befindet sich gerade in einem Trennungsprozess von seiner Frau und stürzt sich mit der Erzählerin in eine Affäre. Während er nach Lissabon fliegt, um ein Komment mit seiner Ex-Frau auszuhandeln, soll die Erzählerin derweil in seiner Wohnung bleiben. Doch mit fortschreitender Dauer des Agreements wachsen in ihr die Zweifel. Und dann ist da auch noch ihre fordernde Arbeit am Strafgerichtshof, bei der sie im Prozess um einen angeklagten afrikanischen Präsidenten dolmetschen muss.

Die Kunst des Übersetzens

Die Suche nach dem richtigen Wort, der angemessenen Haltung beim Übersetzen und die Frage, inwieweit das eigene Dolmetschen Auswirkungen auf Prozesse wie die hat, die am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt werden, das sind Themen, die Katie Kitamura eindrucksvoll beschreibt und verhandelt.

Katie Kitamura - Intimitäten (Cover)

Sie nimmt die Leser*innen mit in die Dolmetscherkabinenen, in denen die meist gesichtslosen Übersetzer*innen ihr Werk verrichten, den Angeklagten die Vorwürfe ins Ohr flüstern und versuchen, bei aller notwendigen Geschwindigkeit auch noch Empathie Ton, Haltung und Subtilitäten der gesprochenen Fragen und Antworten zu vermitteln und in eine ganz andere Sprache hinüberzuretten.

Kitamura schafft ein Bewusstsein für die Notwendigkeit dieses Tuns und die Kunst, die Dolmetschen stets bedeutet. Doch ist Intimitäten darüber hinaus auch das Porträt einer Frau, deren Profillosigkeit eigentlich zur Jobbeschreibung gehört und der von der Autorin nicht einmal ein eigener Name zugestanden wird.

Kann jemand, der sich stets hinter den Worten anderer verbirgt und für eine gute Ausübung seines Jobs die eigene Persönlichkeit verschwinden lassen muss, um als möglichst neutrale Stimme im Ohr zwischen Menschen über alle Sprachbarrieren hinweg zu fungieren, im Privaten ein klares Profil entwickeln? Zumindest in meinen Augen mag das im Falle von Kitamuras Erzählerin nicht wirklich klappen. Sie bleibt unscheinbar, auch wenn man ihr durch die gewählte Ich-Erzählperspektive ja eigentlich besonders nahe kommen sollte. Aber auch hier herrscht dieselbe Distanz, die die Erzählerin in ihrer abgeschlossenen Übersetzerkabine am Strafgerichtshof zum eigentlichen Geschehen hat.

Fazit

Intimititäten ist vielleicht keine große Literatur im Sinne von Handlungsopulenz oder einem tiefenscharfen Figurenensemble. Hier ist es vielmehr ein recht unsichtbares berufliches Leben und ein ebenso wenig spektakuläreres privates Leben, das in den Mittelpunkt der Erzählung gerückt wird. Aber das, was Katie Kitamura da macht, macht sie sehr gut.

Ihr Buch wäre als Kunstgemälde eher die kleine Form mit wenig Strichen und gedeckten Farben – in sich ist das absolut stimmig und schafft ein Problembewusstsein für die Kunst des Übersetzens und die Wahl der richtigen Sprache (übersetzt von Kathrin Razum). In diesem Sinne ist Intimitäten auch ein passender Beitrag zum Hieronymustag!


  • Katie Kitamura – Intimitäten
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-446-27404-4 (Hanser)
  • 219 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maarten ´t Hart – Der Nachtstimmer

Langweilig hatte sie mich genannt, langweilig und unauffällig. Sie hatte recht, ich war langweilig. Ich hatte einen langweiligen Beruf, ich beschäftigte mich mit Kirchenorgeln. Es gab da ein Programm im Klassikradio – dort spielten prominente Menschen ihre Lieblingsplatten. Vorab sagte man ihnen: Bitte, keine Kirchenorgeln, sonst schalten die Leute sofort auf einen anderen Sender um. Wenn Orgeln und Organisten schon nicht besonders beleibt waren, wie verhielt es sich dann mit Orgelstimmern? Die kamen nicht im Radio, vom Fernsehen ganz zu schweigen. Über sie wurden keine Romane oder Erzählungen geschrieben – wobei allerdings erwähnt werden muss, dass der Isländer Halldór Laxness zumindest einen Roman verfasst hat, in dem ein Organist vorkommt. Und natürlich, nicht zu vergessen: 20 000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne. Darin steht eine Kirchenorgel an Bord eines U-Boots! Doch nie spricht Verne davon, dass das Instrument hin und wieder gestimmt werden muss.

Maarten ´t Hart – Der Nachtstimmer, S. 137

Mit diesem Umstand, den Maarten ´t Harts Protagonist Gabriel Pottjewiid hier beklagt, macht der niederländische Autor nun endgültig Schluss. Hier ist er, der Roman, der einen Orgelstimmer in den Mittelpunkt stellt, und der dem Handwerk und der Orgel selbst ein Denkmal setzt. Passend zur Wahl der Orgel als Instrument des Jahres lässt sich bei Maarten ´t Hart der Reiz dieses Instruments und die Kunst des Orgelbaus entdecken. Darüber hinaus ist der Roman aber auch die Geschichte einer Befreiung aus der Vereinzelung und die Beschreibung eines skurrilen Dorfs in den Niederlanden.

Wie in einem Wes Anderson-Film

Maarten 't Hart - Der Nachtstimmer

Man fühlt sich zunächst wie in einem Film von Wes Anderson, beginnt man in Der Nachtstimmer zu lesen. Da reist der Klavierstimmer Gabriel Pottjewiid per Zug in ein kleines Dörfchen an der niederländischen Küste, wo er im Auftrag der Firma Auerbach&Wüste eine Orgel stimmen soll. Er kommt im Seemannheim unter und erlebt eine Gemeinschaft voller skurriler Rituale und Verhaltensweisen. So tagt im Seemannheim ein Bibelkreis, der sich der Auslegung der heiligen Schrift gewidmet hat und etwa über den sprechenden Esel Bileams streitet. Zu essen gibt es stets FGK – Fleisch, Gemüse, Kartoffeln. Eine große Werft sorgt für steten Krach, das Dorf scheint von Käuzen und Originalen bevölkert zu sein.

Inmitten dieser eigenwilligen Welt soll Pottjewiid eine Garrels-Orgel stimmen – ein Auftrag, der ihn über mehrere Tage beschäftigen wird. Sein Aufenthalt verlängert sich, als ihn die andere Gemeinde im Dorf ebenfalls noch für die Stimmung ihrer Orgel akquirieren möchte. Für die monotone Arbeit erhält er aber schon bald Unterstützung in Form eines jungen Mädchens. Lanna fasziniert die Welt der Orgeln ebenfalls, das Mädchen stellt sich als geschickte und gelehrige Schülerin heraus, die für die Arbeit an der Orgel wie gemacht scheint. Im Gefolge der von den Dorfbewohner*innen als leicht zurückgeblieben stigmatisierten Lanna bekommt es Pottjewiid dann auch mit Lannas Mutter Gracinha zu tun, die im Dorf von Argwohn bis Begehren ebenso viele Emotionen auslöst. Diese drei werden während der Wochen dort an der Küste zu einer besonderen Einheit.

Das Porträt eines Eigenbrötlers und einer Annäherung

Der Nachtstimmer ist ein Roman über einen Eigenbrötler, der sich langsam aus seiner Vereinzelung heraus löst. Langsam baut er eine Bande zu Lanna und ihrer Mutter Gracinha auf. Inmitten der skurrilen Dorfwelt fassen die Figuren langsam Zutrauen zueinander und verlassen allmählich ihre Komfortzonen. Das schildert Maarten ´t Hart mit viel Wärme und Sympathie für seine Figuren. Ebenso ist das Buch aber auch ein großer Roman über Orgeln und das Stimmen ebenjener. Was eine Garrels-Orgel von einer Schnitger-Orgel unterscheidet, welche besonderen Pfeifen in welchen Orgeln verbaut wurden, wie die Stimmung dieser Instrumente funktioniert und welcher Reiz von der „Königin der Instrumente“ ausgeht, das lässt sich in Der Nachtstimmer ebenfalls nacherleben.

Dieser Roman verweigert sich allen Konventionen, mischt einen kleinen Kriminalplot mit dem Handwerk des Orgelstimmens, vermengt eine Liebesgeschichte mit der Beschreibung eines Dorfs, das wie aus der Zeit gefallen wirkt. So wohnt Der Nachtstimmer etwas Zeitloses inne, das aber dennoch ganz hervorragend genau in dieses Jahr passt, in dem die Orgel mit all ihren Facetten gefeiert wird. Es ist ein skurriler, warmherziger Roman, den Maarten ´t Hart hier geschaffen hat. Ein Buch mit dem Blick für das Besondere im Alltag.

Und nicht zuletzt muss auch dem Übersetzer Gregor Seferens ein großes Lob ausgesprochen werden, der den Roman aus dem Niederländischen ins Deutsche übertrug. Ihm gelingt es – eine Orgelmetapher in dieser Rezension sei erlaubt- die vielen Register und Stimmungen dieses Textes toll ins Deutsch zu retten. So erfindet er für Maarten ´t Harts skurrile Sprache und das Idiom der Dorfbevölkerung tolle Übertragungen wie beispielsweise die Redewendung „Jemanden hinter die Fichte führen“, die sich allesamt stimmig in den Gesamtkontext des Buchs einfügen.

Fazit

Der Nachtstimmer ist ein Roman über Einsamkeit und über den Weg aus dieser heraus. Genauso ist dieses Buch aber auch ein großer Roman über Orgeln und die Kunst, diese zu stimmen. Hier lässt sich nacherleben, was es bedeutet, der „Königin der Instrumente“ zu einem Wohlklang zu verhelfen. Und damit ist nun auch endgültig Schluss mit dem von Gabriel Pottjewiid eingangs beklagten Umstand, dass es keinen Roman über Orgelstimmer gäbe. Hier ist er!

Maarten ´t Hart zeigt, dass man aus der eigentlich unspektakulären Kunst auch tolle Literatur zaubern kann!


  • Maarten ´t Hart – Der Nachtstimmer
  • Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
  • ISBN 978-3-492-07043-0 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Joost Zwagerman – Duell

Es gibt so Bücher, da liest man die Plotidee und ist schon überzeugt. Joost Zwagermans Novelle Duell ist genau solch ein Fall. Ursprünglich im Weidle-Verlag erschienen, liegt nun die Taschenbuchausgabe dieses nicht einmal 150 Seiten starken Buchs im Piper-Verlag vor. Ergänzt wird das Buch um ein Nachwort des Übersetzers Gregor Seferens.

Joost Zwagerman - Duell (Cover)

Im Original 2010 erschienen, erzählt das Buch die Geschichte Jelmer Verhoofs. Jener gilt als Shootingstar unter den Kunstkuratoren, stets umgibt ihn ein jugendlicher Esprit. Doch nun soll das von ihm verwaltete Holland Museum die Pforten schließen, ein Umbau steht ins Haus. DIE Möglichkeit also für eine spektakuläre Derniere in seinem Haus.

Verhoff beschließt, unter dem Ausstellungstitel Duel junge zeitgenössische niederländische Künstler*innen in einen Dialog mit den angestammten Meisterwerken seines Hauses treten zu lassen. Diese Chance eröffnet sich auch der jungen Emma Duiker, die die Chance zu einem Coup nutzt. Sie kopiert 1:1 das Gemälde Untiteld No. 18 von Mark Rothko. Doch einige Zeit nach dem Ende der Ausstellung wird Verhoof von einem seiner Restauratoren darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Depot des Museums nunmehr offenbar die Kopie des Rothko-Bildes befindet. Verhoof stellt die junge Künstlerin zur Rede und erfährt von ihrem unglaublichen Plan, den sie rund um das Rothko-Gemälde ersonnen hat.

Was ist Kunst?

Das ist die zentrale Frage, um die sich Duell dreht. Mit seiner Versuchsanordnung schafft es Joost Zwagerman, die Leser mit dieser Frage zu konfrontieren, ohne dass es zu theorielastig wird. Zwar hat Zwagerman einen Hintergrund als Kunstkritiker und Sachverständiger, das drängt bei dieser Novelle aber dankenswerterweise nie in den Vordergrund. Stattdessen gelingt ihm mit diesem Büchlein ein kurzweiliges Abenteuer, das von Amsterdam bis nach Ljubljana führt, und das auf vielen Ebenen unterhält und anregt.

Man kann dieses Buch natürlich nur als unterhaltsame Komödie mit feinem Humor lesen. Genauso kann man aber in Duell auch eine Parabel auf den modernen Kunstbetrieb finden. Nicht umsonst ist ein Werk, auf das im Lauf des Buchs immer wieder Bezug genommen wird, der Essay The End of Arts as we know it eines fiktiven Kunsthistorikers. Die zentralen Fragen daraus greift Zwagerman mit seiner Geschichte von Zeit zu Zeit auf:

Wenn man ein Gemälde 1:1 kopiert und dann so austauscht, dass sogar den Experten der Tausch erst nach langer Dauer auffällt – welches der beiden Werke ist dann das wirkliche Kunstwerk? Wie bemisst sich der Wert eines modernen Gemäldes? Sind Kunstinstallationen gemalten Werken ebenbürtig? Duell öffnet den Raum für spannende Fragen, die natürlich ein jeder und eine jede anders beantworten wird. Eben das ist ja Kunst – die verschiedenen Blickwinkel auf ein und dasselbe Werk. Auch Zwagerman gelingt das mit seiner schmalen Novelle, weswegen das Buch in meinen Augen auf alle Fälle ein Kunstwerk ist (wenngleich die Entscheidung für die alte Rechtschreibung etwas irritiert).

Umso trauriger, dass der Künstler Joost Zwagermann nicht mehr unter uns weilt. Er nahm sich nach einer schweren Depression im Jahr 2015 selbst das Leben. Er hinterlässt ein vielfältiges Werk, das bei uns wieder oder erst noch zu entdecken ist. Die nächste Gelegenheit bietet der Weidle-Verlag, der nun Zwagermans Gimmick veröffentlich hat, das dem Holländer 1989 seinen Durchbruch bescherte.


  • Joost Zwagerman – Duell
  • Übersetzt von: Gregor Seferens
  • € 10,00 [D], € 10,30 [A]
  • Erschienen am 04.12.2018
  • 160 Seiten, Broschur
  • ISBN: 978-3-492-31355-1
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Die Drei im Dezember

Drei Lektüren meiner letzten Tage, kurz vorgestellt und besprochen. Und ab geht die wilde Fahrt!

Éric Vuillard – Ballade vom Abendland

Ein Buch wie ADHS. Einem irren Kameramann gleich springt Éric Vuillard mitten hinein in das Getümmel des Ersten Weltkriegs. Er zoomt auf Beteiligte wie General Schlieffen, den amerikanischen Präsidenten McKinley, den Attentäter Gavrilo Princip oder Sophie Chotek, jene von Princip ermordete Gattin des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand.

Ähnlich wie bei seinem Erfolg Die Tagesordnung interessiert sich Vuillard auch hier für die Mechanismen, die einen solchen Krieg auslösen. Bei seiner Suche findet er vor allem viel Absurditäten und legt den Wahnsinn offen, den Krieg bedeutet. Seine Collagentechnik und Erzählweise ist dabei oftmals wirklich anstregend, stilistisch nicht immer einwandfrei, manchmal einfach too much. Dennoch schafft Vuillard mit seinem Buch etwas ganz großartiges: Ballade vom Abendland ermöglicht einen neuen Blick auf den Ersten Weltkrieg, fernab von immer wieder wiedergekäuten Jahreszahlen, Ereignissen und Wegmarken. Das ist es, was besondere Literatur ausmacht!

Erschienen ist das Buch in der Übersetzung von Nicola Denis in der Reihe Matthes&Seitz Paperback. Genauere Informationen gibt es hier.


Kathleen Collins – Nur ein Mal

Hier sollte man sich nicht von dem nichtssagenden deutschen Titel in die Irre führen lassen. Viel besser ist der Originaltitel, der zugleich auch der Titel einer der im Buch enthaltenen Kurzgeschichten ist: Whatever happened to interracial love? bzw. im Deutschen etwas sperriger: Was ist nur aus der Liebe zwischen den Rassen geworden?

Das ist eines der Themen, das Kathleen Collins Buch neben vielen anderen umkreist. Die Entstehung dieses Buchs ist dabei wirklich besonders. Die Skizzen und Kurzgeschichten, die in diesem Buch versammelt sind, entstammen aller einer großen Kiste. In diese hatte Collins ihre Theaterstücke, Fragmente und Short Storys gepackt, ehe sie 1988 verstarb. Erst nach 18 Jahren öffnete ihre Tochter die Truhe, sodass wir nun in den Genuss dieser besonderen Erzählungen kommen.

Diese sind alle im Kosmos des Jahres 1963 angesiedelt und erzählen von der Liebe, der Suche nach Verwirklichung und Glück oder vom alltäglichen Rassismus. Manches wird nur angerissen, andere Geschichten sind tiefer ausgestaltet. Eine faszinierende Zeitkapsel, die den Sound und Beat des New Yorks 1963 nacherleben lässt.

Erschienen ist das Buch in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg im neugegründeten Kampa-Verlag. Alle Informationen hierzu gibt es an dieser Stelle.


Bernard MacLaverty – Schnee in Amsterdam

Es passiert kaum Spektakuläres in diesem Buch. Ein altes Paar aus Irland tritt seinen Kurzurlaub in Amsterdam an. Man kennt sich seit Jahrzehnten, hat sich mit den Fehlern und Makeln des anderen arrangiert – und nun also vier Tage in Amsterdam.

Damit ist die Handlung von Bernard MacLavertys Roman Schnee in Amsterdam eigentlich relativ vollständig umrissen. Das Spannende ist hier weder die Rahmenhandlung noch die Sprache, die zwar erfreulich genau die Atmosphäre und jeweiligen Stimmungen einzufangen weiß, aber hinter die große Stärke des Romans zurücktritt.

Diese ist die Zeichnung der beiden Hauptfiguren Stella und Gerry. Wie beide eigentlich alles voneinander wissen, dennoch aber blind für die wahren Bedürfnisse und Geheimnisse des anderen sind, das ist toll gezeichnet und mit einer großen Empathie für die Figuren geschildert. Denn es gibt ein Geheimnis, das mit dem Besuch der Touristenattraktionen Amsterdams wieder neu ins Bewusstsein von Stella gerät. Nie hat sie es Gerry anvertraut, doch nun reißt der Urlaub alte Wunden auf.

Der Kurzurlaub gerät bei MacLaverty zum Kammerspiel, das beide Figuren eine spannende Entwicklung durchlaufen lässt. Weniger formal denn psychologisch interessant und glaubhaft erzählt!

Erschienen ist MacLavertys Roman in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser bei C.H. Beck.

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