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Niklas Maak & Leanne Shapton – Durch Manhattan

Es gibt Bücher, die haben eine ebenso einfache wie bestechende Grundidee. Durch Manhattan von Niklas Maak und Leanne Shapton zählt zu dieser Kategorie. Denn hier treffen sich eine Künstlerin (Shapton) sowie ein Architektur- und Kunstkritiker (Maak), um gemeinsam Manhattan zu durchqueren, von der Südspitze auf einer annähernd geraden Linie bis in den Norden zum Ende der Halbinsel. Auf ihrem Weg begegnen ihnen Menschen, Bauten und kleine Momente, die sie in Schrift und Bild einfangen. Ein schön gestaltetes Werk und das Zeitdokument eines New York kurz nach dem Umbruch, den die Präsidentschaft Donald Trumps bedeuten sollte.


STATEN ISLAND FERRY TERMINAL I

Wir fingen ganz unten an. Wir trafen uns am Staten Island Ferry Terminal. Wir hatten keinen genauen Plan, nur die Idee, das zu tun, was alle, die nach Manhattan kamen, seit Jahrhunderten taten: an der Südspitze ankommen und dann nach Norden gehen.

Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt, wenn man sie nicht nur nach Punkten absucht, an denen sich etwas Bedeutendes oder Bekanntes befinden soll; was findet man, wenn man nicht einfach Orte aufsucht, von denen man gehört hat, und so einen vorgezeichneten Weg folgt – sondern wenn man einfach losgeht, vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichen Ende, wenn man eine Linie zieht vom Staten Island Ferry Terminal nach oben und dann hinaufwandert entlang dieser Linie bis zur 220th Street, wo der Harlem River Manhattan von der Bronx trennt, entlang einer Linie, die keiner Regel, aber auch nicht dem Zufall folgt, sondern die Bewegung der Besiedlung Manhattans nachzeichnet?

Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan, S. 6

Von Süd nach Nord durch Manhattan

So beschreibt Maak das gedankliche Konzept, das Durch Manhattan zugrunde liegt. Ein Stadtplan, der zur groben Orientierung dient, ist mit im Gepäck, und schon geht es los mit den ersten Metern Manhattan, die Maak und Shapton in nuce den rasanten Wandel zeigen, den New York und insbesondere Manhattan seit den ersten Einwanderern erfuhr, die hier an der Südspitze Manhattans ankamen, nachdem sie auf Ellis Island die Erlaubnis zum Aufenthalt im Land of the free erhielten.

Niklas Maak, Leanne Shapton - Durch Manhattan (Cover)

Telefonzellen, die dort am Hafen in Zeiten von WhatsApp und Smartphones schon wieder reichlich anachronistisch wirken. Hausnummer, die auf den Türen der Häuser anstelle einer dauerhaften Montage nur geklebt werden und so einen Eindruck der Schnelllebigkeit geben. Schaukelnde Ampeln im Wind. Es sind kleine Beobachtungen, die Durch Manhattan ausmachen.

Aber auch bekannte Landmarken wie die Wall Street oder der Trump Tower werden von den beiden Flanierenden besucht. Während Maak über die Einsamkeit der Familienmitglieder Donald Trumps sinniert (der zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade sein erstes Jahr der Präsidentschaft begann), lässt sich auch vor allem an der Wall Street die unglaubliche Schnelllebigkeit beobachten, wenn Maak noch einmal der Occupy Wall Street-Bewegung nachspürt, die heute schon wieder so ziemlich in Vergessenheit geraten ist.

Immer wieder gibt es neben den kleinen und größeren Beobachtungen auch biographische Skizzen, die Maak in den Spaziergang einflicht. Diese erzählen Einwandererschicksale oder bisweilen auch skurrile Begebenheiten, etwa die eines möglichen Seitensprungs, der durch Google Maps bezeugt wurde.

Ein vielstimmiges Portraits Manhattans

Wenn es ein Wort gibt, mit dem sich dem sich Stil und Inhalt von Durch Manhattan charakterisieren lassen, dann ist es das Wort Polyphon. Denn Maak und Shapton gelingt es, die ganze Vielstimmigkeit New Yorks in diesem Buch einzufangen. So finden alle Bevölkerungsschichten und Ethnien Widerhall in diesem Buch, neben den bekannten Sehenswürdigkeiten sind es auch Orte wie Hancock Place oder der Bryant Park, die die Popkultur Manhattans sonst eher ausspart.

Und auch thematisch offenbart Maaks und Shaptons Kollaboration eine unglaubliche Bandbreite, die von Überlegungen zum Reiz der Hamptons über die Bildwelten Edward Hoppers bis hin zur Beschreibung der Funktionsweise amerikanischer Fenster reicht. Hinter all dem scheint immer wieder die Herkunft Niklas Maaks als Gastprofessor für Architekturgeschichte und Architekturliebhaber durch, der mit seinem Wissen unangestrengt die ebenso eleganten wie präzisen Schilderungen von Gebäuden und deren Bewohner*innen grundiert.

Blick ins Buch nebst beigefügter Karte.

Und auch in den von Leanne Shapton aquarellierten Bildwelten drückt sich diese Vielstimmigkeit aus. Ihre Skizzen und Sketches treten mit Maaks Schilderungen in einen Dialog und ergänzen und umspielen die meist zweispaltigen Textkörper. Sie zeigen Shaptons Blick für die Besonderheiten abseits des Offensichtlichen und bieten Bildwelten, die von konkret bis abstrakt reichen und denen stets eine Erklärung des Dargestellten beigegeben ist.

Fazit

So entstanden ist ein Buch, der dem Flanieren huldigt, ähnlich wie das auch Teju Cole in seinem ebenso empfehlenswerten Roman Open City tat. Niklas Maaks und Leanne Shaptons zweitägige Tour mündet in einem Buch, das die Widersprüche und unterschiedlichen Facetten Manhattans gelungen porträtiert. Das Buch verbindet ein Auge für Architektur und stilistische Varianz. Kleine biographische und künstlerische Skizzen ergeben ein Buch, das dem Geist Manhattans nachspürt und diesen Geist Anfang des Jahres 2017 auch tatsächlich treffend einfängt. Mit viel Beobachtungsgabe und dem Auge für die Details abseits des Weges wissen die beiden über das Große im Kleinen viel über diese Halbinsel zu erzählen, die ebenso Sehnsuchtsort wie Albtraum sein kann.

Dieser Dialog von Stadt und Kunst ist ein großartiges Geschenkbuch, von dem man freilich keine tiefschürfende Analyse zu den Zuständen der USA erwarten soll. Aber als will Durch Manhattan auch gar nicht. Vielmehr ist es eine gelungene Lehntstuhlreise, die eine*n mitnimmt in die Häuserschluchten dort und ein Gefühl für den Puls dieses Stadtteils vermittelt und in dem man sich immer wieder festlesen kann!


  • Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan
  • ISBN 978-3-446-25666-8 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
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Emma Cline – Die Einladung

Hochsommer in den Hamptons. Dort, wo die Schönen und Reichen vor den Toren New Yorks Urlaub machen, da möchte auch Alex sein und dazugehören. Nur Die Einladung zu diesem exklusiven Leben, sie fehlt ihr. Und so schnorrt sie sich in Emma Clines zweitem Roman von Tag zu Tag durch. Sommerlektüre irgendwo zwischen Victor Jestin und Peter Richter.


Die Hamptons, sie sind der Sommersitz der begüterten New Yorker. Im August ziehen sie sich zurück in ihre exklusiven Anwesen, um dort die heißen Tage zumeist bis zum Labor Day-Feiertag, dem ersten Montag im September, zu verbringen. Auch Alex will im Kreis der Hautevolee ihren Sommer verbringen. Einen einzigen Haken hat die Sache – die junge Frau hat keinerlei Einladung für die exklusiven Partys und Häuser. Und so schnorrt sie sich durch, prostituiert sich und lässt sich von anderen Männern aushalten, die ihr ein Ticket zur Upperclass verschaffen sollen.

Doch bei einem älteren Liebhaber leistet sich Alex auf einer Party im Alkohol- und Drogenrausch einen Fehltritt, sodass er sie aus seinem Haus komplimentiert. Nun gilt es für die junge Frau, sich in der Welt der Hamptons durchzuschlagen und neuen Anschluss zu finden. Denn zurück nach New York kann sie nicht, hat kein wirkliches Dach über dem Kopf und über so etwas wie Geld verfügt sie gleich zweimal nicht. Und so versucht sie unter größter Anstrengung die Fassade eines Lebens zu wahren, das eigentlich nur Schein statt Sein ist, immer mit dem verzweifelten Ziel vor Augen, ohne Geld und Dach über dem Kopf zu überstehen, um in ein paar Tagen zu einer Party ihres Sugardaddys zurückzukehren.

Alex ging eine Weile in der Sonne. Streckenweise, dort, wo sich die Baumkronen verflochten, lag die Straße im Schatten. Die Luftfeuchtigkeit brachte sie dennoch zum Schwitzen. Ihre Stirn war nass, auch der Hals. Sie hob den Saum ihres Shirts und versuchte eine Brise heraufzubeschwören. Ihre Sandalen scheuerten. Immer wieder musste sie stehen bleiben, sich vorbeugen, um einen Finger zwischen Haut und Sandalenriemchen zu schieben. Ihr Weekender war klein genug, um nach Strandtasche auszusehen, nicht nach einer Tasche, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt, und das war wichtig. Es war wichtig, nicht zu verzweifelt zu wirken, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Sie war ein Mädchen, das am Straßenrand entlangging, und solange sie sich an diese ruhigen Straßen hielt, war das nicht so ungewöhnlich.

Emma Cline – Die Einladung, S. 96 f.

Durchschnorren in den Hamptons

Emma Cline - Die Einladung (Cover)

Man verfolgt auf einem dramaturgisch recht gleich bleibenden Level die verzweifelten Versuche Alex, den Anschluss an ihr bisheriges Leben zu halten, das mit 22 Jahren noch recht kurz ausgefallen ist. Sie bezirzt Hausangestellte, simuliert auf Hauspartys Zugehörigkeit oder nutzt fremde Kinder, um auf Kosten derer Eltern die Kreditkarten mit ihrem Konsum zu belasten.

Dabei zeigt Emma Cline eine junge Frau, die zwischen Ignoranz, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit changiert – immer mit dem verzweifelten Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die nicht die ihre ist. Mit Verve rennt Alex gegen diese unsichtbaren Klassenschranken an, wobei man nicht weiß, ob man die Dreistigkeit der jungen Frau bewundern oder bemitleiden soll.

Insgesamt gesehen passt der englische Originaltitel The Guest dabei eine ganze Nummer besser zu Emma Clines Buch als die deutsche Variante der Einladung, auch wenn Alex beständig einer solchen Einladung hinterherjagt. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist und bleibt Alex, die sich in fremde Leben einzuschleichen versucht. Sie mag sich so verbiegen und verstellen, wie sie will, mag charmieren und das unbeschwerte Summergirl geben – und doch bleibt sie in der Welt der Hamptons immer nur ein Gast.

Damit führt Emma Cline gewissermaßen das Thema des Dazugehörigkeitsgefühl und der weiblichen Anpassung fort, das sie schon in ihrem Debütroman The Girls (2016) und dem Kurzgeschichtenband Daddy (2021) verhandelte.

Fazit

Emma Cline inszeniert ihre Geschichte in einer flirrenden, sommerhellen Stimmung, die aber auch genug Raum für untergründige Spannung und dunkle Momente lässt. Ihr Buch Die Einladung ist ein perfekter Summerread. Ihre Heldin Alex schwankt zwischen Leichtigkeit, Bangen, Exzess und Scharade. Angesichts dieser stimmigen Mischung verzeiht man sogar die gerade anfangs etwas rumpelnde Übersetzung gerne.


  • Emma Cline – Die Einladung
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27757-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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J. Todd Scott – Weiße Sonne

Zurück im Big Bend County. Dort in der Einöde zwischen Texas und Mexiko bekommt es Sheriff Cherry und sein Team diesmal mit einer Gruppe Neonazis zu tun, die in Cherrys Bezirk eine Schneise der Gewalt und Verwüstung schlagen. Weiße Sonne von J. Todd Scott.


Es ist wirklich augenfällig: auf den letzten Seiten dieses Romans greift der nach den Geschehnissen in J. Todd Scotts Erstling Die weite Leere zum Sheriff beförderte Chris Cherry zum Stift, um den langgehegten Traum eines Romans endlich anzugehen. Auch John Bassoff weist in seinem Nachwort auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, geht Scotts Sheriff doch hier den umgekehrten Weg, den der Erschaffer der Figur selbst ging. Denn bevor sich Scott dem Schreiben zuwandte, arbeitete er als DEA-Agent im amerikanisch-mexikanischen Grenzland.

Nun gibt es mit Weiße Sonne den zweiten Roman rund um Chris Cherry und das Leben im Big Bend County zu lesen, geboren im Schatten von Scotts Erstling, wie er es im Nachwort seines Krimis selbst bezeichnet. Denn wo er für sein Debüt frei vor sich hin schreiben konnte ohne Druck und Abgabefristen im Nacken, da hat nun Die weite Leere die Erwartungshaltung für einen zweiten Roman gesteigert.

Outlaws und Gesetzeshüter im Big Bend County

Tatsächlich verfolgt J. Todd Scott in seinem zweiten Roman einen ähnlich multiperspektivischen und handlungsreichen Ansatz, wie er es bereits bei seinem ersten Roman tat. So ist Sheriff Chris Cherry nur eine Person im Personengefüge der Ordnungsmacht. Neben ihm kommen auch seine Deputys, die mexikanischstämmiger América „Amé“ Reynosa und der erfahrene Ben Harper, in Erzählsträngen zu Wort. Erstere kämpft noch immer mit den Erlebnissen aus dem Vorgängerband und ihren familiären Verflechtungen mit den mexikanischen Kartellen, letzerer versucht Chris Cherry in der Angelegenheit der der ABT zu mehr Aktion denn Reaktion zu drängen. Denn bei der ABT handelt es sich um die Aryan Brotherhood of Texas, die ausgerechnet im kleinen Städtchen Killing eingefallen ist.

J. Todd Scott - Weiße Sonne

Im Falle eines ermordeten Flussführeres gelten die gefährlichen Männer als die Hauptverdächtigen. Doch richtig zu packen bekommt sie weder Chris noch seine beiden Deputys. Besonders Amé steht unter Druck, lastet die Begegnung mit einem mexikanischen Autodieb auf ihrem Gewissen. Denn sie schlug diesen im Affekt im gefesselten Zustand, während da dieser scheinbar kompromittierendes Wissen vor allem über Amés Vergangenheit besaß.

Gewalt gegen Gefangene, im Hintergrund lauernde Kartelle, eine Neonazi-Bande voller Outlaws und ein ermorderter Flussführer. J. Todd Scott führt einige Erzählstränge ein, die die Gesetzeshüter im Big Bend County mehr als herausfordern. Dazu erzählt Scott parallel auch noch aus der ABT-Vereinigung heraus, denn hier kommen sowohl die Outlaws als auch ein verdeckter Ermittler zu Wort, der noch eine ganz persönliche Agenda innerhalb der Gruppierung verfolgt.

Erneut ein multiperspektivischer Erzählansatz

Viele Personen und Erzählstränge also einmal mehr, die in einem großen und gewaltgeladenen Finale enden, dass über Murfee hereinbricht wie jene Regenschauer, die sich dort wenig später entladen.

J. Todd Scott mutet sich und den Leser*innen einiges zu, schafft es aber wieder, sein multiperspektivisches Erzählkonstrukt über die fast 500 Seiten nicht zum Einsturz zu bringen. Zwischen Outlaws, FBI-Agenten und Gesetzeshütern springt er immer wieder hin und her, bringt Rückblenden zum Geschehen in Die weite Leere und der Vergangenheit seiner Figuren an und findet darüber immer wieder Zeit für ruhige Momente und etwas Durchatmen, ehe das hochexplosive Finale dann startet.

Hierbei zeigt sich wie in der ganzen Anlage dieses Buchs, dass im Motorblock dieses Krimis ein Western alter Schule vor sich hinschnurrt. Der wüstenähnliche Schauplatz der Handlung, die verkommenen Verbrecher, die Gesetzeshüter um Chris Cherry, die sich den Bösen entgegenstellen, aber auch selbst nicht davor gefeit sind, die Grenze zum Unrecht zu überschreiten. Weiße Sonne hat all die Zutaten, die eine packende Lektüre ausmachen.

Mir imponiert die Unbarmherzigkeit, die J. Todd Scott seinem Ensemble zumutet. Hier löst sich eben nichts in Wohlgefallen auf, vielmehr ist dieser Krimi geradezu schmerzhaft konsequent und macht mit seiner ganzen Erzählweise Lust auf einen dritten Streich des schreibenden DEA-Agenten.


  • J. Todd Scott – Weiße Sonne
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von John Bassoff
  • ISBN 978-3-948392-71-0
  • 496 Seiten. Preis: 27,00 €
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Winnie M Li – Komplizin

Das richtige Buch zur richtigen Zeit. Mitten hinein in die Rammstein-Debatte und ihre ganze diskursiven Entgleisungen erscheint nun Winnie M Lis Roman Komplizin, der sich um Machtmissbrauch im Filmbusiness dreht, der aber darüber hinaus auch universell gültige Strukturen aufdeckt und benennt. Lektüre, die man gerne einigen Lautsprechern in der aktuellen Debatte an die Hand geben möchte.


Die Causa Brüderle, der MeToo-Skandal nebst der hiesigen Diskussion auch hierzulande oder ganz aktuell die Debatte um Rammstein-Sänger Till Lindemann und der ihm vorgeworfene Missbrauch junger Frauen. Es sind immer die gleichen Mechanismen, die sich in den Diskussionen beobachten lassen. Schnell nach dem Bekanntwerden der Beschuldigungen folgt eine Relativierung der Vorwürfe meist durch Männer mit folgendem Grundtenor. Alles nicht so schlimm, die Frauen sollten sich nicht so haben, da würde etwas hochgejazzt, was eigentlich doch normal sei und eben den Spielregeln im jeweiligen Business folge. Die Frauen hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen, und so weiter, und so fort.

Ebenso ermüdend wie das Verharren in den gleichen Argumentationsmustern ist auch die Trägheit der Öffentlichkeit, die nach anfänglicher Sensationslust schnell das Interesse verliert – und vor allem die Unsichtbarmachung der Opfer. Die Täter sind prominent, von Till Lindemann bis Dieter Wedel – die Stimmen der Opfer aber haben kein großes Gewicht und fallen schnell hinten über. Auch in Winnie M Lis Roman ist das der Fall.

Eine Interviewanfrage mit Sprengkraft

Winnie M Li - Komplizin (Cover)

Hier ist es die Sarah Lai, die sich in ihrem Job als Hochschuldozentin durchschlägt. In ihrem Seminar bespricht sie mit Studierenden deren Drehbücher und versucht ihnen etwas filmtheoretisches Wissen zu vermitteln. Doch den Film kennt sie nicht nur aus der Theorie. Früher war sie einmal Produzentin und arbeitete mit dem britischen Multimilliardäre Hugo North zusammen. Sogar bis zu den Golden Globes hat sie es geschafft. Doch nun, im Jahr 2017, ist der frühere Ruhm einer kargen Monotonie gewichen. Nur noch ein paar dürre Zeilen in der Internet-Filmdatenbank IMDB zeugen von Sarahs früherem Erfolg.

Doch nun werden Anschuldigungen gegen Hugo North publik und so erhält auch Sarah von einem Starreporter der New York Times namens Thom Gallagher eine Interviewanfrage. Nach anfänglichem Zögern überwindet Sarah ihre Vorbehalte und beginnt dem Reporter ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die viel Sprengkraft bereithält. Die Geschichte, die sich in den Interviews zeigt, wird zu einer #MeToo-Geschichte, wie sie sie jüngst auch Maria Schrader in der filmischen Adaption des Sachbuchs She said der Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey zeigte, die 2017 den Weinstein-Skandal enthüllten.

Manche Dinge lassen sich nicht aus der Welt schaffen, auch wenn wir sie noch so sehr hinter Geschenktaschen, Presseerklärungen und Fotos mit lächelnden Gesichtern zu verbergen suchen. Die Wahrheit lebt weiter, auch wenn wir manchmal sehr genau hinsehen müssen, um sie zu entdecken: in zensierten Kommentaren, auf unveröffentlichten Fotos, im irritierenden Schweigen, das auf hinter verschlossenen Türen abgehaltene Meetings folgt. In E-Mails, auf die wir nie eine Antwort bekommen haben.

Heute sehen wir alles

Winnie M Li – Komplizin, S. 7 f.

Rückblenden auf eine ehrgeizige Karriere

Drei große Gespräche sind es, zu denen sich Gallagher und Sarah Lai treffen und die zurückführen bis ins Jahr 2006, als Sarah ihre Karriere im Filmbusiness begann. Zwischen die einzelnen Passagen fügt Winnie M Li Interviewabschriften, die Gallagher für seine Reportage mit anderen Beteiligten führte. Allmählich zeigt sich so das Bild eines Hollywood, in dem Frauen nur Objekte zweiter Klasse sind.

Dabei beginnt alles eigentlich mit toughen Frauen, die es den männlichen Konkurrenten zeigen wollen. Obwohl sich ihre Eltern für Sarah eine solide Karriere, gerne auch im familieneigenen Chinarestaurant in New York vorstellen, will sich Sarah nicht mit dieser festgefügten Ordnung begnügen. Sie will in die Filmwelt eintauchen und wird nach einem unbezahlten Praktikum zur rechten Hand der Filmproduzentin Sylvia Zimmerman. Arbeit gibt es viel, Anerkennung nur wenig und Geld noch weniger. Zusammen feiern sie aber mit einem Independent-Film einen ersten Erfolg, der zum Türöffner für weitere Arbeiten wird.

Die Selbstausbeutung in der Firma scheint dem Ende nah, als der britische Multimilliardär Hugo North an Bord kommt und die Arbeit mit seinem Geld maßgeblich unterstützt. Er krempelt den Laden der beiden Frauen gehörig um und sorgt dafür, dass die zweite Produktion dann ins Herz der Filmindustrie verlagert wird – nach Hollywood. Doch die Dreharbeiten sind für Sarah mehr als anstrengend. Nachdem sie in der Anfangszeit schon maßgeblich am Skript und der Steuerung der Finanzen mitgearbeitet hat, muss sie jetzt ihre Chefin vertreten und steigt zum Associate Producer auf. Doch nicht nur die Dreharbeiten fordern Sarah heraus. Auch Hugo wird immer launischer und macht Sarah das Leben zur Tortur, bis dann eine private Party im Chateau Marmont einen verheerenden Ausgang nimmt.

Komplizin eines verhängnisvollen Systems

In vielen Rückblenden nimmt uns Winnie M Li mit in Sarahs Leben und zeigt eine junge Frau, deren Arbeitsethos und Ehrgeiz sie weit – aber auch in Gefahr gebracht haben. Sie erzählt vom Arbeitsalltag an einem Filmset, der aufreibenden Arbeit zwischen Stars, Drehplan, Geldgebern und Öffentlichkeitsarbeit und von gefährlichen Abhängigkeiten. Sie beleuchtet in Komplizin den Machtmissbrauch, der aufgrund vielschichtiger Abhängigkeiten an einem solchen Set besteht und der Missbrauch, wie ihn auch Harvey Weinstein dutzendfach betrieb, Vorschub leistet.

Doch für eine platte Opfererzählung ist Winnie M Li zu klug. Sie erzählt, wie sich auch Sarah selbst mitschuldig macht und selber die Kultur des Wegschauens und Verdrängens pflegt, um den Film nicht in Gefahr zu bringen. Wie man sich durch Schweigen zur Komplizin dieses verhängnisvollen Systems macht, das einem seine Dienste im seltensten Fall ehrt, das zeigt Li sehr deutlich.

Damit knüpft Komplizin auch an die heutigen Debatten an, die ja meist eine ähnliche Ausgangslage wie der hier fiktiv geschilderte und an Harvey Weinstein erinnernde Fall aufweisen. Das Machtgefälle zwischen junger Frau und arriviertem Künstler (oder Geldgeber), ein System, das am Laufen gehalten werden muss, um für alle Beteiligten erträglich zu sein – und die unbarmherzige Ausgrenzung aller, die bei diesen Spielregeln nicht mehr mitmachen möchten. Das arbeitet die Aktivistin und Autorin in diesem Buch deutlich heraus.

Ob dieser analytischen Schärfe und dem detaillierten Blick ins Betriebssystem Hollywood verzeiht man da die ein oder andere erzählerische Zeitlupe und Übergenauigkeit, die die Rückblenden kennzeichnet, gerne. Ein Buch, das auch über den #MeToo-Skandal oder die Causa Lindemann leider weiter Aktualität und Relevanz besitzen wird. Das macht es zu einer empfehlenswerten und augenöffnenden Lektüre, selbst wenn man mit Hollywood und dem Produzentengeschäft nicht viel anfangen kann.


  • Winnie M Li – Komplizin
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47326-9 (Suhrkamp)
  • 475 Seiten. Preis: 18,00 €
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T. C. Boyle – Blue Skies

Erst gibt es Häppchen und Hochzeit, dann kommt die Apokalypse. T.C. Boyle exerziert in Blue Skies die Auswirkungen der Klimakatastrophe im Privaten durch – und erzählt so auch von der großen gesellschaftlichen Ignoranz, mit der wir diesem Thema nur zu gerne begegnen.


Es ist ein Gefühl, das der Filmemacher Adam McKay im vergangenen Jahr mit seinem vielbesprochenen Werk Don’t look up adressierte. Da nähert sich ein Asteroid mit zerstörerischer Kraft unaufhaltsam der Erde – doch die Menschen ignorieren die Warnungen der Wissenschaftler, flüchten sich in Ignoranz, lassen sich von der Politik in trügerische Sicherheit wiegen und stecken den Kopf in den Sand. McKays Werk wurde vielfach als Allegorie auf den Klimawandel gelesen – und unseren Umgang mit der Katastrophe, in die wir sehenden Auges steuern und doch unser Verhalten nicht ändern wollen.

Auch der amerikanische Bestsellerautor T.C. Boyle widmet sich in seinem neuesten Roman Blue Skies diesem Thema, obschon der Beginn seines Roman noch nicht wirklich in diese Richtung weist.

Influencerinnen und Insektenmehl

T. C. Boyle - Blue Skies (Cover)

Da ist die junge Cat, die sich aus Langeweile und einem spontanen Impuls heraus eine Schlange zulegt. 300 Dollar bezahlt sie für ein Python, dazu noch ein Terrarium und „Flauschies“ genannte tiefgefrorene Mäuse als Nahrung. Wirkliche Erfahrung hat sie mit Tieren bislang noch nicht gesammelt und doch erscheint ihr die Schlange als adäquater Gefährte, die sie auch ihrem Karriereziel als Influencerin näherbringen könnte. Zusammen mit ihrem Freund Todd lebt sie in Florida. Dieser scheint sich mehr für sein Auto als für Cat zu interessieren und ist als Markenbotschafter eines Rumherstellers immer unterwegs, um Partys zu schmeißen und für einen florierenden Absatz der Marke zu sorgen.

Zwei weitere Figuren stellt T. C. Boyle neben diesen recht oberflächlichen Millenials in den Mittelpunkt von Blue Skies, deren familiäre Verknüpfungen erst langsam zutage treten. Da ist Cooper, der als Entomologe arbeitet und sich der Erforschung der Insekten und der klimawandelbedingten Veränderungen untersucht. Er hat seine Mutter Ottilie für eine nachhaltige Lebensweise sensibilisiert – und so hat sich diese nun ein Grillenfarm bestellt und versucht im Stil einer aufgeklärten und naturbewussten Arztgattin, die sie tatsächlich ist, ihr gesamtes Umfeld missionarisch vom Verzehr von Insekten zu überzeugen. Während sowohl Mutter als auch Sohn in Kalifornien zahlreiche Rückschläge im Kampf für Naturschutz und den Arterhalt hinnehmen müssen, beharrt die Tochter Cat stoisch auf einem Verbleib im Hochrisikogebiet Florida.

Hochzeit und Klimakatastrophe

Als sich alle Familienmitglieder nun zur Hochzeit von Cat und Todd im elterlichen Haus in Kalifornien versammeln, wird die vorher nur punktuell angedeutete Klimakatastrophe dann aber in ihrer ganzen Wucht erfahrbar. Denn der eigentlich als Traumhochzeit geplante Termin entwickelt sich schnell zum veritablen Desaster.

Sie standen dicht gedrängt im Flur, in der Küche und in den drei Zimmern im Erdgeschoss, umklammerten Sektflöten und Cocktailgläser, fragten sich, wo das Essen war, und versuchten, sich einzureden, dass sie eine großartige Hochzeit erlebten. Die Leute saßen auf Sofa- und Sessellehnen und auf der Treppe in den ersten Stock, umarmten ihre Knie oder hatten die Beine sittsam untergeschlagen. Der Wind war allgegenwärtig und fegte zischend und brausend wie eine einfahrende U-Bahn über das Haus hinweg.

Ein Hagel aus kleinen Partikeln prasselte gegen die Fenster, und hin und wieder schlug etwas Schweres mit einem dumpfen Poltern auf das Dach. Cat war aufgelöst, verzweifelt, drei viertel betrunken und der zerflossene Mittelpunkt des Ganzen. Sie sagte immer wieder, es sei wie ein Hurrikan, dabei hatte sie, soviel er wusste, noch nie einen erlebt – noch nicht jedenfalls. Die Fenster erbebten. Alle schwitzten.

T. C. Boyle – Blue Skies, S. 143

Der Räucherlachs fliegt von den knusprigen Kartoffelküchlein, die Caterin weigert sich „in einem Windkanal“ Essen zu servieren und dann drohen auch noch Buschfeuer das elterliche Haus zu vernichten. Es bleibt nicht die einzige Katastrophe, die T. C. Boyle in Blue Skies inszeniert.

Grün ist die Hoffnung nicht mehr

Später wird Ottilie der kurz vor ihrer Niederkunft stehenden Cat zur Seite eilen, wobei dieser Kampf gegen Zeit und Naturkräfte fast dem in Friedrich Schillers Ballade Die Bürgschaft gleicht. Überschwemmung, Unwetter mit Flugzeugturbulenzen, Insekten die zur lebensbedrohlichen Gefahr werden – die Gefahren für alle Beteiligten nehmen immer mehr zu. Und doch ändern die Figuren ihr Verhalten nicht. Das Wegschauen und ein wenig grünes Bewusstsein, damit wird man auch durch diese Krise kommen, so das Gefühl, das über Blue Skies schwebt und mit dem die reihum oberflächlichen Figuren der Katastrophe eben auch in aller Oberflächlichkeit begegnen, denn Klima wandelt sich halt irgendwie immer, so scheint die schulterzuckende Antwort der Figuren auf die Katastrophen zwischen den Zeilen auf.

Damit trifft T. C. Boyle sehr gut einen aktuellen Zeitgeist, der trotz klarer Datenlage und spürbarer Auswirkungen des Klimawandels auch hierzulande lieber auf Bequemlichkeit und ein Weiter so statt auf notwendiges und schnelles Umsteuern setzt. Im Gewand eines Familienromans macht Boyle die bevorstehenden Veränderungen spürbar – und doch setzen ihm seine Figuren nichts entgegen. Allen voran die Möchtegern-Influencerin Cat und ihr „Rumtreiber“ Todd sind Figuren, die man am liebsten einmal kräftig schütteln möchte und die man in dieser charakterlichen Anlage von anderen Werken T. C. Boyles wie etwa Grün ist die Hoffnung kennt.

Nur gibt es knapp 40 Jahre seit diesem Werk Boyles nun eben keine große Hoffnung mehr, weder fürs Grün noch für Grüne. Denn ein bisschen Grillenmehl oder ein Bienenvolk im eigenen Garten werden die Katastrophe so nicht aufhalten – auch wenn es sich gut anfühlt, das vermeintlich Richtige zu tun. Ohne mehr Radikalität wird das alles nichts. Das zeigt T. C. Boyle in Blue Skies sehr deutlich, besonders da er durch die Form des Familienromans seine (ökologische) Botschaft besonders deutlich hervortreten lässt, in dem er durch das Private zum gesellschaftlichen großen Ganzen vorstößt. Climate Fiction ohne viel Hoffnung oder: Apokalypse ahoi!


  • T. C. Boyle – Blue Skies
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-446-27689-5 (Hanser)
  • 400 Seiten. Preis: 28,00 €
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