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Sarah Moss – Sommerwasser

Sommerurlaub – das kann eine traumhafte Angelegenheit sein. Außer man reist nach Schottland, mietet sich eine Hütte und erlebt dann tagelangen Dauerregen. So ergeht es den Urlaubern, die Sarah Moss in ihrem neuen Roman Sommerwasser porträtiert und einmal mehr ihre genaue Beobachtungsgabe unter Beweis stellt.


Schottland ist wohl nicht das erste Reiseziel, das einem in den Sinn kommt, wenn es um Sommerurlaub im herkömmlichen Sinn geht. Durchschnittstemperaturen von 15 bis 17 Grad im Sommer und wechselhaftes Klima haben wohl eher für Wanderer und Outdoorfreunde ihren Reiz denn für Familien, deren Kinder gerne die Sommertage mit Baden und Aktivitäten am Strand verbringen. Und doch hat es einige Urlauber in den Norden Großbritanniens verschlagen, die dort in einer an einem See gelegenen Feriensiedlung ihre freien Tage verbringen und auf Entspannung und Abstand vom Alltag hoffen.

Dabei macht Schottland den Klischees von kaltem und regnerischen Wetter allerdings alle Ehre und beschert den Urlaubern jede Menge Sommerwasser. Kräftige Schauer sorgen in Sarah Moss‘ neuem Roman für viel Niedergeschlagenheit und Frust anstelle von unbeschwerten Sommertagen. So sind die Urlauber gezwungen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der Malaise umzugehen. Und dann passiert im schottischen Dauerregen auch noch eine Katastrophe. Aber alles der Reihe nach.

Mütter, Ärzte, Teenager im schottischen Dauerregen

Die schottische Autorin beginnt ihren Reigen mit dem Versuch einer Mutter, der Enge der Holzhütten zu entfliehen, indem sie morgens zu einer Joggingrunde aufbricht, um sich etwas zu sortieren und die Gedanken fließen zu lassen. Der Dauerregen sorgt für viel Anspannung im familiären Verbund und so macht sich die Frau zu einer frühmorgendlichen Runde auf, bei der ihr Bewusstseinsstrom zu fließen beginnt. Durch ihre Wahrnehmungssplitter und Gedankenfetzen entstehen erste Eindrücke der Feriensiedlung, die für sie längst zum Hort von Frustration und angespannten Nerven geworden ist.

Und los, Füße trappeln, Herz und Lunge, überrascht, arbeiten. Kaltes Wasser auf bettwarmer Haut, und warum genau macht sie das nochmal? Die Ferienanlage liegt im Schlaf, Vorhänge zugezogen, Autos voller Regenperlen. Die Blockhütten, denkt sie wieder, sind eine dumme Idee, Amerika oder vielleicht Skandinavien entliehen, jedenfalls einem Land, in dem es seltener regnet als in Schottland, wann hat man irgendwo in Großbritannien schon Gebäude aus Holz gesehen? Torf, wennschon, hier oben, Stein, wenn man hat, der verrottet nicht. Sie sehen aber nicht skandinavisch aus – nicht dass sie schon mal da gewesen wäre, aber sie hat Fotos gesehen -, sie sehen alt aus, eine unattraktive Mischung aus weich werdenden Holzwänden und billigen Plastikfenstern, die Art Gartenschuppen, die man früher oder später abreißen muss.

Sarah Moss – Sommergäste, S. 12 f.

Vor der Tür der See voller Wasser, von oben der Regen, der nicht nur die Substanz der Häuser angreift. Im Folgenden beginnt Moss einen Reigen von frustrierten Urlaubsgästen und deren Gedanken, immer wieder unterteilt von kleinen Splittern Nature Writing, die die einzelnen Episoden unterteilen (übersetzt von Nicole Seifert).

Unterschiedliche Menschen, präzise beobachtet

Sarah Moss - Sommerwasser (Cover)

So springt die Autorin etwa zu einem pensionierten Arzt, der morgens die Joggingrunde der Mutter beobachtet. Von ihm geht es beispielsweise weiter zu seiner malenden Gattin. Ein junges Pärchen beim Liebesakt, eine ukrainische Familie, die mit ihren lauten Feierorgien die Nerven zusätzlich strapaziert oder ein Teenager, der angeödet von der Monotonie dort am See kurzerhand ein Boot schnappt, um auf dem See der Enge der Hütten zu entkommen. Zwar befindet sich unweit von der Feriensiedlung noch ein Pub, inklusive WLAN-Zugang, damit hat es sich dann aber auch in der schottischen Wildnis.

Immer wieder springt Sarah Moss von Hütte zu Hütte, blickt durch die Augen eines Feriengastes und beweist damit ihr großartiges Talent zur Beobachtungsgabe und Personenzeichnung – vom Kleinkind bis zum Senior, egal ob Mann oder Frau. Innerhalb weniger Seiten entstehen präzise Zeichnungen von Charakteren, in denen Moss auch erneut das Thema der Mutterschaft und aller Einschränkungen der eigenen Bedürfnisse, die damit einhergehen, aufgreift.

Sie zeigt wie schon in ihrem Debüt Schlaflos Mütter an der Belastungsgrenze, bedingt durch Dauerregen, Enge in der Unterkunft, Kinder, die sich nicht bewegen können und Männer, die es zwar gut meinen, aber nicht unbedingt Hilfen für die Frauen sind.

Fazit

So entsteht allmählich das Bild eines Urlaubs, den sich wohl fast alle Beteiligten anders vorgestellt hätten. Dauerregen, kleine Ferienhütten die Unmöglichkeit, sich für längere Zeit mal aus dem Weg zu gehen sorgen für das Gegenteil der Entspannung, die der Sommerurlaub für alle Beteiligten doch eigentlich hätte bereithalten sollen. Hier schlagen nicht nur Wellen an den See, pladdert der Regen auf Hausdächer – auch ganz unterschiedliche Bewusstseinsströme der Figuren ergießen sich hier und ergeben ein ganz besonderes Sommerwasser. Durch die präzisen Porträts entsteht ein Figurenreigen von einem Urlaub, wie man ihn sich eigentlich nicht wünscht, einmal mehr grandios eingefangen von Sarah Moss.


  • Sarah Moss – Sommergäste
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-293-00609-6 (Unionsverlag)
  • 192 Seiten. Preis: 24,00 €
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R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Eine mittelständische englische Familie fährt in den Urlaub ans Meer. Aus dieser einfachen Ausgangslage macht R. C. Sherriff einen berührenden Roman, der vom Glück des unbeschwerten Sommerurlaubs erzählt, der zugleich aber auch vom Wissen um die Vergänglichkeit des Urlaubs im Kleinen und die des Lebens im Großen kündet. Große Literatur – und eine echte Wiederentdeckung!


Mit dem Sommerurlaub ist es ja so eine Sache. Liegt er noch vor einem, scheint der Sommer unendlich lang, die Tage glutheiß, das Jahr auf seinem Höhepunkt und der Herbst noch ganz weit weg. Kehrt man dann Ende August oder im September wieder in den normalen Alltagstrott zurück, so mehren sich die Zeichen, dass die schönsten warmen Tage des Jahres hinter einem liegen.

Es wird abends wieder früher dunkel, die Sonne hat ihre Kraft verloren und an manchen Orten zeigen sich schon wieder die ersten Nebelfelder, die die Gedanken an die kommenden kalten Tage ins Bewusstsein rufen. Der Sommerurlaub, er trägt neben aller scheinbaren Ewigkeit eben auch das Wissen um die Endlichkeit der Sommeridylle in sich.

Auch R. C. Sherriff weiß um die Vergänglichkeit, die allem Sommern eingeschrieben ist. Bei ihm ist es die mittelständische Familie Stevens, die einen unbeschwerten Sommer an der Südküste Englands erleben möchte. Dabei ist aber auch sie trotz aller Sehnsucht nach Idylle und dem Bemühen um die Bewahrung derselben auch vor Enttäuschungen und dem Vergehen der Zeit nicht gefeit.

Noch einmal gemeinsam auf nach Bognor

R. C. Sherriff - Zwei Wochen am Meer (Cover)

So sind die beiden älteren Kinder eigentlich schon zu alt für einen gemeinsamen Familienurlaub am Meer und haben andere Prioritäten, als so wie all die Jahre zuvor wieder mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder die Ferien an der Südküste in Bognor zu verbringen. Und doch soll es nun im September noch einmal wie früher sein, so wünschen es sich die Eltern. Man teilt sich in einer angestammten Pension Zimmer, kennt seine Vermieterin ebenso wie den Strand in- und auswendig und hat in jahrelanger Verfeinerung eine Art To Do-Liste erarbeitet, die die Familie nun am Vortag des Urlaubs Stück für Stück abarbeitet. Von der Nahrung für die Katze bis zur Übergabe des Schlüssels ihres Vorstadthäuschens will alles bedacht sein.

Mit einem Kofferträger geht es zur U-Bahn, man steigt in Clapham Junction ein, versucht sich mit Tricks ein familieneigenes Bahnabteil zu besorgen und schon setzt sich die Bahn in Richtung Bognor in Bewegung.

Es sind Ferien, die in krassem Widerspruch zur heutigen Spaß- und Eventkultur an Badestränden stehen, die R. C. Sherriff hier beschreibt. Bekocht von der Vermieterin wird die Frage der Anmietung eines eigenen Strandhäuschens zum fast überlebensgroßen Thema, das die Familie Stevens beschäftigt. Man badet, besucht ein Konzert der Kurkapelle und erlebt entschleunigte Tage am Meer, über denen eine starke Ahnung der Vergänglichkeit liegt.

Die Vergänglichkeit der Sommeridylle

Bei allem Staunen hatte sie jedoch tief drinnen gewusst, dass etwas passieren würde. Seit ihrer Abreise aus Dulwich wusste sie, dass noch vor Ferienende etwas Gewaltiges geschehen würde. Sie wusste es, als sie alle zusammen auf den Zug in Clapham Junction gewartet hatten, sie wusste es, als sie hinter Horsham ihre Sandwiches gegessen hatten, sie wusste es, als sie durch die Straßen von Bognor zum „Seaview“ gelaufen waren. Jedes Mal hatte sie gespürt, dass es zum letzten Mal war und dass sie das nie wieder zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter tun würde und auch nicht mit Dick und Ernie. Es hatte sich so traurig angefühlt, dass sie sich all das sofort wieder zurückwünschte. Jetzt aber wusste sie erst, was das alles zu bedeuten hatte. Es war immer schön gewesen in Bognor, und trotzdem hätte es nicht ewig so weitergehen können. Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, den verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was inhen aber immer bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer, S. 287

Immer wieder tauchen im Buch Themen und Motive des Abschieds auf, die den Urlaub begleiten. Stevens senior laboriert noch immer an seinem unsanften Ausscheiden aus dem von ihm mitbegründeten Fußballverein, der einen Generationenwechsel einleiten sollte. Der Mann der Vermieterin ist gestorben und die Pension verschleißt Stück für Stück. Es mehren sich die Indizien, dass der Urlaub der Familie in dieser Form der letzte sein wird, den die Stevens gemeinsam verleben. Die beiden älteren Kinder treiben verstärkt Fragen wie ihr berufliches Glück oder Freundschaften um.

Und auch wenn es Vater Stevens gelingt, der Urlaubsidylle noch einen zusätzlichen Tag abzugewinnen, so schwingt doch in den Tagen eine Ahnung mit, dass ein solch sparsamer und selbstgenügsamer Urlaub lange noch vor der Phase des Massentourismus schon bald Geschichte sein wird, ebenso wie es darüber hinaus für die im Buch repräsentierte Epoche des Kleinbürgertums gilt.

Eine feinsinnige Wiederentdeckung

Wie feinsinnig, gut beobachtet und meisterhaft introspektiv R. C. Sherriff dies schildert, das ist wirklich große Kunst. Und auch wenn Sherriff normalerweise eher Drehbücher schrieb und in Hollywood sein Glück suchte, so erfuhr er in seinem Leben doch ähnliche Sehnsucht nach Nostalgie und Vertrautheit, wie er sie in Zwei Wochen am Meer schildert.

Davon erzählt der Autor und Übersetzer Karl-Heinz Ott in seinem Nachwort, in dem er auch die Geschichte des Romans erzählt, der eine wirkliche Wiederentdeckung ist. So gab der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro auf eine Umfrage des britischen Guardian, die nach literarischen Entdeckung von Schriftsteller*innen während der Coronazeit fragte, die Entdeckung dieses Romans aus dem Jahr 1931 zu Protokoll. Dies sorgte für eine Renaissance des Buchs, das Ishiguro für die Kunst lobte, „die wunderbare, im täglichen Leben anzutreffende Würde feinfühlig[..] auf einer völlig undramatischen Ebene“ einzufangen.

Die Parallelen zwischen Ishiguros Schreiben und Zwei Wochen am Meer arbeitet Ott sehr schön heraus und analysiert Werk und Wirken Sherriffs in seinem Nachwort sorgfältig.

Kleine Mängel in der Übersetzung

Noch schöner wäre es dabei allerdings gewesen, wenn Ott und das Lektorat die gleiche Sorgfalt auch auf den übersetzten Text angewendet hätten. Denn die Übersetzungsleistung weist ein paar Defizite auf und mengt dem rundum positiven Eindruck des Romans so selbst einen Hauch der Kritik bei.

Denn Ott trifft mitunter eigenwillige übersetzerische Entscheidungen, indem er beispielsweise den im Zuge der Weltausstellung in London erbauten Crystal Palace als Kristallpalast übersetzt, um nach zweimaliger Erwähnungen desselbigen dann umzuschwenken und diesen doch als Crystal Palace zu titulieren. Kann man im Deutschen mit dem Begriff der Landlady wenig anfangen, wäre doch hier der übersetzerische Griff zur Vermieterin idiomatischer gewesen, ebenso wie im Deutschen der Begriff der Sperrstunde wohl deutlich geläufiger sein dürfte als die von Ott gewählte „Polizeistunde“, die etwas seltsam für sich steht.

Es mögen nur Marginalien sein, im Text fallen sie in ihrer Häufigkeit dennoch auf und mindern den ansonsten fabelhaften Eindruck dieses Buchs und der vom Unionsverlag herausgegebenen Ausgabe um einen kleinen Hauch.

Fazit

Ein fabelhafter Roman und eine echte Wiederentdeckung. Wie zart und genau beobachtend R. C. Sherriff in Zwei Wochen am Meer über seine Figuren schreibt, einen Familienurlaub vor Bettenburgen und Eventfixierung beschreibt und wie er es schafft, dass über allem der Hauch der Vergänglichkeit liegt, das ist ganz große literarische Kunst! Und auch wenn die Übersetzung ein wenig sorgfältiger hätte ausfallen dürfen, so mindert das den Gesamteindruck dieses großartigen Sommerurlaubs nur marginal. Für mich ganz klar ein literarischer Sommerhit!


  • R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott
  • ISBN 978-3-293-00604-1 (Unionsverlag)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Emma Cline – Die Einladung

Hochsommer in den Hamptons. Dort, wo die Schönen und Reichen vor den Toren New Yorks Urlaub machen, da möchte auch Alex sein und dazugehören. Nur Die Einladung zu diesem exklusiven Leben, sie fehlt ihr. Und so schnorrt sie sich in Emma Clines zweitem Roman von Tag zu Tag durch. Sommerlektüre irgendwo zwischen Victor Jestin und Peter Richter.


Die Hamptons, sie sind der Sommersitz der begüterten New Yorker. Im August ziehen sie sich zurück in ihre exklusiven Anwesen, um dort die heißen Tage zumeist bis zum Labor Day-Feiertag, dem ersten Montag im September, zu verbringen. Auch Alex will im Kreis der Hautevolee ihren Sommer verbringen. Einen einzigen Haken hat die Sache – die junge Frau hat keinerlei Einladung für die exklusiven Partys und Häuser. Und so schnorrt sie sich durch, prostituiert sich und lässt sich von anderen Männern aushalten, die ihr ein Ticket zur Upperclass verschaffen sollen.

Doch bei einem älteren Liebhaber leistet sich Alex auf einer Party im Alkohol- und Drogenrausch einen Fehltritt, sodass er sie aus seinem Haus komplimentiert. Nun gilt es für die junge Frau, sich in der Welt der Hamptons durchzuschlagen und neuen Anschluss zu finden. Denn zurück nach New York kann sie nicht, hat kein wirkliches Dach über dem Kopf und über so etwas wie Geld verfügt sie gleich zweimal nicht. Und so versucht sie unter größter Anstrengung die Fassade eines Lebens zu wahren, das eigentlich nur Schein statt Sein ist, immer mit dem verzweifelten Ziel vor Augen, ohne Geld und Dach über dem Kopf zu überstehen, um in ein paar Tagen zu einer Party ihres Sugardaddys zurückzukehren.

Alex ging eine Weile in der Sonne. Streckenweise, dort, wo sich die Baumkronen verflochten, lag die Straße im Schatten. Die Luftfeuchtigkeit brachte sie dennoch zum Schwitzen. Ihre Stirn war nass, auch der Hals. Sie hob den Saum ihres Shirts und versuchte eine Brise heraufzubeschwören. Ihre Sandalen scheuerten. Immer wieder musste sie stehen bleiben, sich vorbeugen, um einen Finger zwischen Haut und Sandalenriemchen zu schieben. Ihr Weekender war klein genug, um nach Strandtasche auszusehen, nicht nach einer Tasche, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt, und das war wichtig. Es war wichtig, nicht zu verzweifelt zu wirken, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Sie war ein Mädchen, das am Straßenrand entlangging, und solange sie sich an diese ruhigen Straßen hielt, war das nicht so ungewöhnlich.

Emma Cline – Die Einladung, S. 96 f.

Durchschnorren in den Hamptons

Emma Cline - Die Einladung (Cover)

Man verfolgt auf einem dramaturgisch recht gleich bleibenden Level die verzweifelten Versuche Alex, den Anschluss an ihr bisheriges Leben zu halten, das mit 22 Jahren noch recht kurz ausgefallen ist. Sie bezirzt Hausangestellte, simuliert auf Hauspartys Zugehörigkeit oder nutzt fremde Kinder, um auf Kosten derer Eltern die Kreditkarten mit ihrem Konsum zu belasten.

Dabei zeigt Emma Cline eine junge Frau, die zwischen Ignoranz, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit changiert – immer mit dem verzweifelten Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die nicht die ihre ist. Mit Verve rennt Alex gegen diese unsichtbaren Klassenschranken an, wobei man nicht weiß, ob man die Dreistigkeit der jungen Frau bewundern oder bemitleiden soll.

Insgesamt gesehen passt der englische Originaltitel The Guest dabei eine ganze Nummer besser zu Emma Clines Buch als die deutsche Variante der Einladung, auch wenn Alex beständig einer solchen Einladung hinterherjagt. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist und bleibt Alex, die sich in fremde Leben einzuschleichen versucht. Sie mag sich so verbiegen und verstellen, wie sie will, mag charmieren und das unbeschwerte Summergirl geben – und doch bleibt sie in der Welt der Hamptons immer nur ein Gast.

Damit führt Emma Cline gewissermaßen das Thema des Dazugehörigkeitsgefühl und der weiblichen Anpassung fort, das sie schon in ihrem Debütroman The Girls (2016) und dem Kurzgeschichtenband Daddy (2021) verhandelte.

Fazit

Emma Cline inszeniert ihre Geschichte in einer flirrenden, sommerhellen Stimmung, die aber auch genug Raum für untergründige Spannung und dunkle Momente lässt. Ihr Buch Die Einladung ist ein perfekter Summerread. Ihre Heldin Alex schwankt zwischen Leichtigkeit, Bangen, Exzess und Scharade. Angesichts dieser stimmigen Mischung verzeiht man sogar die gerade anfangs etwas rumpelnde Übersetzung gerne.


  • Emma Cline – Die Einladung
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27757-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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Arno Frank – Seemann vom Siebener

Ein Tag im Freibad, der zum Brennglas aufs Leben wird. Arno Frank inszeniert in Seemann vom Siebener das Freibad als Wimmelbild und erzählt von Träumen, Tod und dem Wagnis, sich vom Sprungbrett in die Tiefe zu stürzen. Großartige Lektüre, nicht nur für den Sommer!


„Ich will den Seemann nicht vom Einer machen.“

„Sondern?“

Wortlos mache ich mit dem Daumen eine Aufwärtsbewegung.

„Vom Dreier? Respekt!“

Ich schüttele den Kopf: „Nicht vom Brett…“

„Vom Fünfer?“ Er packt mich an der Schulter und dreht meinen Oberkörper, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen kann: „Bist du irre?“

Ich schüttele den Kopf, versuche ein Lächeln und schiebe sanft seine Hand von meiner Schulter: „Ich mache einen Seemann vom Siebener“.

Arno Frank – Seemann vom Siebener, S. 126

Es ist geradezu ein prototypisches Schwimmbad, welches Arno Frank in seinem Roman Seemann vom Siebener skizziert und das Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt: Eine Liegewiese, Betonplatten, eine alte Linde, die Schatten spendet. Der Schwimmbad-Kiosk, ein Feld mit überlebensgroßen Schachfiguren, eine rote Pilzdusche im Kinderschwimmbereich – und vor allem ein echter Zehn-Meter-Sprungturm.

Das Freibad als Bühne des Lebens

Arno Frank - Seemann vom Siebener

So sieht es aus, das irgendwo in der Pfalz gelegene Freibad, das bei Arno Frank zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens wird. Wir schreiben Freitagmorgen bei bestem Wetter, es ist der letzte Freitag in den Sommerferien. Dem Freibad steht also ein Besucheransturm bevor, doch hiervon merken die Kassiererin Renate und Bademeister Kiontke, eine Art Faktotum des Bads, früh am Morgen noch wenig. Die Wassertemperatur wird per Kreide auf die Tafel aufgebracht, das Morgenmoderationsteam im Radio treibt seine Scherze – die meisten Gäste sind aber noch zuhause, wovon Arno Frank durch die multiperspektivische Erzählweise seines Romans berichtet.

Erst allmählich finden sie sich im Bad ein. Die schon demente ehemalige Lehrerin und zugleich Gattin des Schwimmbad-Erbauers, die Ich-Erzählerin, die der Plan eines Seemannsköpfer vom 7-Meter-Brett umtreibt. Josefine, der es nach Meinung einiger Badbesucher*innen besser zu Gesicht stehen würde, sich bei den Vorbereitungen der Trauerfeier denn beim Schwimmen im Bad zu betätigen.

Da ist Lennart, der nach Jahrzehnten der Absenz wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und im Freibad auf viele Jugenderinnerungen trifft. Die Kindergartengruppe mit ihrer Kindergärtnerin, der Kioskbetreiber und viele mehr. Wimmelbildgleich ergeben diese von jung bis alt reichenden Figuren an diesem Freitag einen Chor, der in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen erzählt.

Leben und Tod, Sonne und Schatten

Da sind nicht ergriffene Chancen für die Liebe, da ist das Vergessen und zugleich Erinnerungen an die zurückliegende Partnerschaft, da sind Vorbehalte gegenüber Geflüchteten, da sind Bienenstiche und da ist Aufbruch. Bittersüß ist sie, diese Hommage an das Treiben im Freibad, die uns Arno Frank präsentiert.

Zwar strahlt die Sonne und das kühle Wasser verheißt Lebenslust, genauso sind aber auch die Schatten in Form von Tod, Suizid und Endlichkeit in diesem namenlosen Freibad präsent. Das ist großartig gemacht und in seiner Vielstimmigkeit ein Buch, das über eine platte Wie-schön-war-das-damals-im-Freibad-Verklärung weit hinausgeht, obwohl es sich natürlich für eine Lektüre im Bad empfiehlt. Aber über so kurze saisonale Dutzendware hinaus besitzt Seemann vom Siebener eben große Qualitäten, auch im literarischen Sinn.

Konnte mich Arno Frank mit seinem Debüt So, und jetzt kommst du, der Aufarbeitung seiner eigenen Biographie als Sohn eines Hochstaplers literarisch nicht wirklich überzeugen, muss ich doch feststellen, dass er sein erzählerisches Instrumentarium im Vergleich zu seinem Erstling deutlich geschärft hat. Souverän spielt er mit Motiven und Weiterführungen von Erzählfäden, bietet sein chorisch erzählter Episodenroman immer wieder kleine Aha-Momente, wenn zuvor Angeklungenes weitergeführt wird, wenn Menschen und Schicksale plötzlich ein Bild ergeben und selbst vermeintlich kleine Dinge auf Großes rückschließen lassen.

Ein Brennglas aufs Leben

Seine indirekten Porträts der Menschen, die Charakterisierung des Freibads als Brennglas der Gesellschaft, die genaue Schilderung aller Figuren im ganzen möglichen Altersspektrum, die Spannung ob des riskanten Sprungversuchs, die sich immer weiter steigert – und das alles innerhalb eines einzigen Tags inszeniert. Das wusste mir ausnehmend gut zu gefallen. Mal besitzt Seemann vom Siebener einen Hauch von „Tatsächlich… Liebe“, dann erinnert Franks Erzählung wieder an andere multiperspektivische Erzählprojekte wie etwa Robert Seethalers Das Feld.

Es ist ein Roman, aus dem man endlich lernt, dass es sich beim Sprungturm fälschlicherweise von einem Siebenmeter-Brett spricht, handelt es sich eigentlich einen 7,5-Meter hohes Brett. Zudem funktioniert das Buch aufgrund des detailliert beschriebenen Freibads wie eine Zeitkapsel, die eigene Erinnerungen an sonnendurchglühte Nachmittag mit Schwimmbad-Pommes, Slush-Eis und dem Hinfiebern auf die Freigabe des Sprungturms durch den Bademeister weckt.

Fazit

Seemann vom Siebener ist ein Roman für den Sommer – aber auch für weit darüber hinaus. Literarisch ambitioniert, groß in Sachen Emotionen und Kindheitserinnerung. So muss sie aussehen, die perfekte Freibadlektüre!


  • Arno Frank – Seemann vom Siebener
  • ISBN: 978-3-608-50180-3 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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Agnes Krup – Leo und Dora

Das ist nun wirkliches Pech. Nach einer langen Überfahrt aus Tel Aviv nach New York möchte Leopold Perlstein eigentlich bei seiner bei seiner Agentin Alma und deren Mann absteigen. Doch ein Feuer hat deren Haus und Auto vernichtet. Beide sind abgereist und haben ihm stattdessen eine Unterkunft im Roxy organisiert. Das im Bundestaat New York an der Grenze zu Connecticut gelegene Hotel hat schon bessere Tage gesehen. Die Hotelbesitzerin Dora und der unter Schreibblockaden leidende Perlstein gewöhnen sich langsam aneinander und entdecken dort in Neuengland Gemeinsamkeiten. Leo und Dora von Agnes Krup.


Man muss unweigerlich an zwei der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts denken, wenn Agnes Krup auf den ersten Seiten ihren Protagonisten Leopold Perlstein einführt. Ein schreibender Versicherungsangestellter, der nach seiner Flucht aus Wien in Tel Aviv eine Anstellung gefunden hat. Ein Mann, der bei seiner Überfahrt in ein neues Leben im Jahr 1948 von einem Schachbrett und seiner Leidenschaft für das Spiel der Könige begleitet wird. Und ein Mensch, der im Exil wieder schriftstellerische Erfüllung sucht und auf Drängen seines Verlegers ein neues Werk vorlegen soll, um sich endgültig von seiner Herkunft und seinem Brotberuf freimachen zu können. Das sind die Nöte und biographischen Hintergründe, mit denen Krup ihren Helden versieht und die mich an Franz Kafka und Stefan Zweigs Schachnovelle erinnerten – wenngleich, so viel so schon verraten, Agnes Krup literarisch nicht in deren Nähe kommt.

Ein Hotel mit eigenen Regeln

Agnes Krup - Leo und Dora (Cover)

Das heruntergekommene Hotel Roxy fordert den frisch angekommenen und auf Konstanz bedachten Perlstein nun ganz gehörig heraus. So stehen die Tische mal zusammen, mal am Wochenende allein, das Essen, von einer aus Plochingen stammenden Schwäbin zubereitet, ist nahezu ungenießbar. Und vom Esprit der gehobenen europäischen Boheme ist die Hotelgemeinschaft so weit entfernt wie New York von Tel Aviv.

Nur das Ehepaar Geringer mit der jungen Asha und ihrem deutlich älteren Professoren-Gatten, dessen Passion inzwischen der Klematiszucht gilt, verheißt Perlstein Ansprache und intellektuellen Austausch. Allmählich lernt er die Hintergrundgeschichte des Hotels, die seiner Besitzerin und die der Geringers kennen. Er fährt Automobil, geht baden und versucht sich sogar einer Geisteraustreibung, da es im Hotel immer wieder spukt.

Eine nette Geschichte

Agnes Krup hat mit Leo und Dora eine nette und unterhaltsame Geschichte geschrieben. Sie erzählt von der langsamen Annäherung der unterschiedlichen Figuren Leopold und Bernstein, sie lässt ein Exilantenschicksal aufscheinen, reißt die Geschehnisse in Wien an, die Leo zur Flucht gezwungen haben. Auch als Sommerbuch oder Hotelroman lässt sich Krups Roman lesen. Und doch vermisste ich das gewisse Etwas an der Erzählung, das mir Leo und Dora über das Buchende hinaus im Kopf verankert.

Krups Sprache passt, die formale Gestaltung ist durch die chronologische Einteilung in Tage gediegen, die innere Struktur ist durch die Annäherung von Leo und Dora vorgegeben und wird gut befolgt. Dagegen lässt sich wirklich nicht viel einwenden – und doch hätte ich mir etwas mehr gewünscht, damit dieses Buch aus dem guten Mittelmaß herausragt. Besondere Figuren mit Ecken und Kanten, eine Sprache, die sich nicht nur mit der Auskleidung der Erzählung begnügt, ein überraschendes Ende oder etwas anderes Unerwartetes.

Fazit

Aber das Unerwartete blieb leider aus, sodass ich nicht davon ausgehe, die Leo und Dora lange über die Lektüre hinaus im Kopf zu behalten. Das mag vielleicht ungerecht erscheinen, macht das Buch doch nichts falsch und ist als Roman wirklich nicht schlecht. Nur das Besondere, das Bedenkenswerte, ich habe es hier leider nicht gefunden. Und so bleibe ich immer noch ins Sachen Hotelroman bei James Gordon Farrells Troubles, in Sachen Exilantenschicksal bei Ulrike Draesners Schwitters oder bei Ulrich Becher mit seiner Murmeljagd, die sich für mich intensiver im Lesegedächtnis verankerten, als das, was Leo und Dora bietet. Gewiss, es ist kein schlechtes Buch, aber es hält eben auch nur das bereit, was Cover und der Titel schon andeuten und versprechen. Wem das genügt, der dürfte zufrieden sein. Ich hätte mir mehr gewünscht.


  • Agnes Krup – Leo und Dora
  • ISBN 978-3-351-03899-1 (Aufbau)
  • 285 Seiten. Preis: 22,00 €
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