Category Archives: Historischer Roman

Percival Everett – James

In Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn blieb für ihn nicht viel Platz im Rampenlicht – dafür holt ihn der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett nun umso eindrücklicher nach vorne auf die ganz große literarische Bühne: die Rede ist vom Sklaven Jim, der in Everetts Roman James seine Lebensgeschichte erzählen darf und so literarische Würde und Würdigung erhält.


Es ist eine Szene, die Leserinnen und Leser aus Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn gut kennen. Zu beginnen verstecken sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn wie weiland Max und Moritz giggelnd vor dem Sklaven Jim, dem sie einen Streich spielen wollen. Der tumbe Mann bekommt zwar mit, dass sich da irgendetwas draußen in den Büschen vor der Veranda versteckt, aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, schläft er ein und erwacht wenig später desorientiert und ist ein billiges Opfer des juvenilen Unsinns von Tom und Huck. So zumindest, wenn man Twains Variante der Ereignisse Glauben schenken darf.

Ganz anders ist es, wenn man nun James von Percival Everett liest. Auch er steigt mit der Szene ein, lässt sie aber durch die Augen von Jim selbst erleben, wie auch das gesamte Buch einen literarischen Gegenschuss zu Twains Klassiker darstellt.

Ein literarischer Gegenschuss zu Mark Twain

Hier ist es nun ein intelligenter und alerter Mann, der durchaus die Urheber des Streichs auszumachen vermag und der sich über seine zugedachte Rolle in dem ganzen Mummenschanz nur allzu bewusst ist – der diese Rolle aber spielt, weil er sie spielen muss.

Percival Everett - James (Cover)

Denn eigenes Denken und eigenmächtiges Tun sind Dinge, die einem Sklaven wie Jim in den Südstaaten der USA alles andere als gut zu Gesicht stehen. Er ist stets Verfügungsmasse seiner weißen Besitzer – wird im Lauf des Buchs aber zu seinem eigenen Herr und verwandelt sich vom unterwürfigen Diener zum Herren seiner selbst, der in einem letzten Akt der Selbstermächtigung schließlich auch seinen verstümmelten Sklavennamen ablegt und zu James wird sich damit als Individuum aus seiner Fremdbestimmung löst.

Auslöser dieses Prozesses ist der Umstand, dass Jim verkauft werden soll. Seine Besitzerin Miss Watson möchte ihren Sklaven veräußern, wovon er Kenntnis erlangt und in den Norden zu fliehen beschließt, um später seine Familie zu sich holen zu können.

„Was heißt das, Miss Watson will dich den Fluss runter verkaufen?“

„Ich bin’n Sklave, Huck. Sie kann mich verkaufm, wenn sie will. Un scheints will sie. Un eh sie das macht, musstich weglaufm.“

„Aber du hast ne Familie.“

„Heißt gar nix, wenn du n Sklave bist“

Percival Everett – James, S. 42

Auf der Flucht durch den Süden der USA

Beistand auf seiner Flucht erhält er von Huckleberry Finn, der sich dem flüchtigen Sklaven anschließt. Mal zusammen, mal getrennt erleben die beiden Abenteuer, wobei das Wort Abenteuer eigentlich zu positiv konnotiert ist für das, was den beiden widerfährt. So wird Jim verkauft, findet sich in der Gegenwart zweier Lügner und Betrüger wieder, muss auf einem Schaufelraddampfer oder einem Sägewerk Dienst tun und wird als Höhepunkt aller Täuschungen und Scharaden als hellhäutiger Schwarzer Teil einer Minstrel-Gruppe, in der sich Weiße per Blackfacing als Schwarze ausgeben, um sich über diese lustig zu machen.

Ähnlich wie auch Colson Whitehead in Underground Railroad ist auch James eine Reise durch den rassistischen Süden und dessen allgegenwärtiger Gewalt. Eine Reise, die immer wieder schaudern macht, wenn man mit James dessen Unterdrückung und Verfügung über seine Existenz miterleben muss, vor allem da dieser James alias Jim ein durchaus hellsichtiger Erzähler ist, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, im Kopf mit Voltaire debattiert und sein eigenes Martyrium schließlich zu Papier bringt, auch wenn der Preis dafür ein unmenschlicher ist.

James ist für mich eine Lektüre, die auch den Vorgängerroman Die Bäume zumindest für mich noch einmal deutlich zugänglicher machte, wo ich zuvor mit Everetts nachtschwarzer und reichlich überdrehter Racheburleske haderte. Aber wie er hier den Rassismus, die allgegenwärtige Gewalt gegen Schwarze, die Unterdrückung und die weithin etablierte Abwertung von Leben beschreibt, daraus folgt die Gewalt und Wut, die sich in Die Bäume Bahn bricht.

Sklaverei, Rassismus und die Macht der Sprache

Zudem – und vor allem ist James aber auch ein Roman, der die Kraft der Sprache und des geschriebenen, zuvorderst aber die Macht des gesprochenen Worts eindrücklich vor Augen führt. Denn während Jim für die Weißen die Rolle des tumben Schwarzen spielt, dessen Diktion wie im obigen Zitat verwaschen und ungebildet klingt, verfügt er doch über eine Gabe, die den Weißen völlig fehlt. Wie den anderen Sklaven ist es auch ihm möglich, zwischen den Sprachen hin- und herzuwechseln, seine Besitzer im Unklaren über seine wahre Geisteskraft zu lassen – und sich blitzschnell von Beredsamkeit und Belesenheit zu stammelnder Hilflosigkeit zu verwandeln. Es ist eine Mehrsprachigkeit, deren bedachter Einsatz Leben retten, in unbedachten Momenten aber auch für große Gefahr sorgen kann.

Das führt der im Buch angewandte Kunstdialekt vor Augen, für den Übersetzer Niklaus Stingl eine eigene deutsche Sprachversion voller Verschleifungen und phonetischer Nachbildung von Wörtern gefunden hat, um so dem speziellen Südstaatenslang von Twains und damit auch Everetts Welt eine Entsprechung zu verleihen.

Könnte man auf den ersten Blick Everetts Vorhaben, einem der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Literatur und einen der zentralen Schlüsseltexte in der Geschichte dieses Landes eine literarische Antwort oder Gegenperspektive gegenüberzustellen, als vermessen abtun, zeigt James aber doch, welche neuen Räume und Sichtweisen ein solches Vorhaben durch eine gelungene Ausführung eröffnen kann.

James bleibt einerseits im historischen und literarischen Rahmen, weitet damit aber auch die Geschichte um die entscheidenden historischen und sozialen Aspekte, die in Twains Roman durch die gewählte Perspektive der beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht in dem Maße offenbar werden, wie sie es hier tun.

Fazit

Percival Everett gelingt sein großes Vorhaben bravourös. James ist eine Reise in die brutale und zutiefst rassistische Geschichte der Südstaaten. Dennoch scheint auch Hoffnung hier gleich in zweierlei Form auf. Zum einen im Leben James‘, der sich der Fremdbestimmung entgegenstellt – und in der Geschichte des Landes, da der Roman auch die Anfänge des US-amerikanische Bürgerkriegs schildert und der sich anschickt, eines der dunkelsten Kapitel der US-Historie zu überwinden.

Ein literarischer Gegenschuss zu einem Klassiker, der trotz alles historischem Rahmens doch auch in die Gegenwart hineinweist und eine der großen Bruchlinien der US-Gesellschaft auf fiktional höchst spannende Weise vermisst. Große Literatur!


  • Percival Everett – James
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27948-3 (Hanser)
  • 336 Seiten. Preis: 26,00 €
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Maria Leitner – Hotel Amerika

Ihr Roman Hotel Amerika zählte zu einem der ersten Werke, das die Nationalsozialisten 1933 im Zuge ihrer Bücherverbrennung in die Flammen warfen. In einer Neuausgabe lässt sich nun der einst verfemte Roman Maria Leitners aus dem Jahr 1930 wiederentdecken und zeigt eine scharfsichtige Autorin, die vom Klassenkampf in einem megalomanischen Luxushotel im New York der Roaring Twenties erzählt.


Das Hotel steht jetzt vor ihnen wie eine riesenhafte, ungeheuere, hellerleuchtete Schachtel, in die unzählige Menschen, unzählige Schicksale gepfercht sind, Menschen aus allen Klassen und aus allen Teilen der Welt, Reiche und Arme, Glückliche und Elende. Hier ist alles angehäuft, Hölle und Himmel, Trauer und Glück, Krankheit und Übermut.

Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 218

Das Hotel als Schmelztiegel der Klassen, Schicksale und Hoffnungen, Maria Leitner erzählt in ihrem 1930 erschienenen Debütroman davon, indem sie verschiedene Figuren als erzählerische Ankerpunkte in ihre Geschichte setzt. Sie alle eint, dass ihr Romanpersonal tatsächlich fast durch die Bank weg eben das ist: Personal. Ihre Figuren sind Menschen, die man in den Zimmern des luxuriösen Hotels allerhöchstens antrifft, wenn sie dieses putzen. Menschen, die hinter den Kulissen für den reibungslosen Ablauf des Betriebs im Hotel Amerika schuften müssen.

Menschen im Hotel, die arbeiten

Da ist die irische Waschfrau Shirley, die zusammen mit ihrer Mutter Celestina unter elenden Bedingungen im Hotelkomplex haust und selbst nur die löchrigsten abgelegten Textilien erhält, die aus dem Bestand des Hotels ausgesondert wurden. Das schwedische Zimmermädchen Ingrid, das unter den strengen Augen der Etagendame putzt und feudelt und Badewannen scheuert. Da ist der deutsche Küchenjunge Fritz, der überwältigt die gigantische Küchenmaschinerie im Bauch des Hotels kennenlernt. Schwarze Spüler*innen, hocheffiziente Arbeitsteilung, Schränke für das stets wohltemperierte Geschirr und inmitten des Ganzen der stellvertretende Küchenchef, der per Rohrpostanlage und Rundumblick die Maschinerie antreibt.

Maria Leitner - Hotel Amerika (Cover)

Pagen, Aufzugführer, Nachtwächter, Kellner, sie alle stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich damit grundlegend von anderen Romanen aus dieser Zeit wie etwa Menschen im Hotel von Vicki Baum oder Joseph Roths Leben im Hotel unterscheidet, was angesichts des Lebens und der Beschäftigung von Maria Leitners nicht verwundert, wie es Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Hotel Amerika herausarbeitet.

Denn Maria Leitner war eine unermüdlich reisende Beobachterin und Journalistin, die sich aus einer dezidiert linken Perspektive heraus für den Klassenkampf interessierte. Durch ihre Brüder erlebte sie den Versuch einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn hautnah mit, ehe sie nach der blutigen Niederschlagung dieser Republik nach nur vier Monaten aus Ungarn fliehen musste.

Das engagierte Leben einer weitgereisten Journalistin

Als Tochter jüdischer Eltern im heutigen Kroatien in Varaždin geboren, berichtete Leitner als Korrespondentin für eine ungarische Zeitung als Stockholm. Für den KPD-Politiker und Verleger Willi Münzenberg schrieb sie, im Auftrag des Ullstein-Verlages reiste sie jahrelang durch die USA.

Stets vom großen Interesse für die Arbeiterfrage geleitet lernte sie New York ebenso wie Haiti, Aruba oder das Leben im Mittleren Westen kennen. Mit ihren investigativen Sozialreportage wurde sie zu einer Vorreiterin dieser Disziplin, reiste gar inkognito fünfmal nach Hitlerdeutschland, um direkt vor Ort von den Veränderungen unter den neuen Machthabern zu berichten.

Es war ein wirkliches spektakuläres Leben, das Maria Leitner lebte und das mit nur 50 Jahren sein Ende fand, als Maria Leitner auf ihrer Flucht nach Marseille trotz der Bemühungen ihres Bekannten Theodore Dreisers und Varian Frys vom ERC keine Ausreisegenehmigung erhielt. Völlig verausgabt, mittellos und verzweifelt starb die weitgereiste Journalistin und Autorin den Hungertod.

Katharina Prager kommt in ihrem umfangreichen und kenntnisreichen Nachworts in Bezug auf das Leben und das Schreiben Maria Leitners zu folgendem Schluss:

Zwischen Ullstein und Münzenberg, zwischen Neuer Sachlichkeit und proletarischer Linkskultur, zwischen Arbeiterbewegung und Feminismus überschritt Maria Leitner durchgehen institutionelle, literarische und politische Grenzen und fand dabei ganz neue Perspektiven.

Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 246

Der Klassenkampf wird geprobt

Hotel Amerika zeigt die linken Lebensthemen Maria Leitners ganz deutlich. Neben der Fokussierung auf das Proletariat in Form des in unwürdigen Zuständen hausende Hotelpersonal ist auch das Wagnis eines Arbeitskampfs eines der zentralen Themen in ihrem Roman.

Abseits einer etwas umständlich erzählten Erpressungsgeschichte einer reichen Erbin, deren bevorstehende Hochzeit den erzählerischen Rahmen des Romans bildet, sind es vor allem die Schilderungen der krassen Ausbeutung der Arbeiterschicht, der die Lektüre von Hotel Amerika so eindrücklich machen (und die die Antipathie der Nationalsozialisten gegen Leitners dezidiert linkes Erzählen anschaulich belegt).

Denn während die Hotelgäste in Luxus schwelgen, das Personal nach Lust und Laune malträtieren und den Takt der Arbeit vorgeben, hausen die Arbeitenden in engen Verschlägen und müssen zeitlich eng getaktet ihr Essen einnehmen, gegen das sogar Gefängniskantinen in Sachen Qualität und Ambiente beneidenswert erscheinen. Die Ausbeutung von Persons of Color, Frauen und den anderen Bediensteten ist das Fundament, auf dem dieses Hotel gegründet ist. Bis es den Arbeiter*innen reicht und sie mit ihrem Arbeitskampf die etablierte Ordnung und den Ablauf des Tages fast ins Wanken bringen, folgt man diesen Erkundungen des Hotelbetriebs von unten doch sehr gerne.

Fazit

Mit Hotel Amerika bringt der Reclam-Verlag ein erzählerisch interessantes Buch einer ebenso interessanten Autorin wieder zurück auf den deutschen Buchmarkt. Wie Maria Leitner von der Ausbeutung des einfachen Hotelpersonals berichtet und den Arbeitskampf im Luxushotel proben lässt, das ist eindrücklich gelungen. Gerade in Verbindung mit dem informativen Nachwort Katharina Pragers ist diesem Buch zu wünschen, dass es mitsamt seiner einst verfemten Autorin wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt!


  • Katharina Prager – Hotel Amerika
  • Mit einem Nachwort von Katharina Prager
  • ISBN 978-3-15-011476-6 (Reclam)
  • 255 Seiten. Preis: 25,00 €
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Alex Hay – Mayfair House

Während im Haus der Ball der Saison gegeben wird, räumt eine Truppe um die ehemalige Haushälterin das Herren – oder besser Damenhaus leer. Alex Hay transferiert in Mayfair House den klassischen Heist-Novel in die edwardianische Ära und macht damit erfreut damit die Herzen aller Downton Abbey-Nostalgiker.


Die Park Lane in London im Jahr 1905: hier befindet sich das spektakuläres Herrenhaus der de Vries‘. In Sachen Status ist dieses Haus ganz weit vorne. Eine Vielzahl an Zimmern, eine Bibliothek, ein Bakkaratzimmer, Kapelle, Vestibül und ein repräsentatives Treppenhaus. Dieses Anwesen hat alles, was sich der standesbewusste und mehr als wohlhabende Londoner zur Beginn des 20. Jahrhunderts nur vorstellen kann.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunkt, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Alex Hay – Mayfair House, S. 14 f.

Nein, Mrs King ist wirklich nicht mehr zu beeindrucken. Denn ihr, die als emsige Haushälterin den Laden zusammenhielt und für die Bewirtschaftung des prunkenden Gebäudes sorgt, wurde soeben gekündigt. Ein nächtlicher Besuch im männlichen Dienstbotentrakt wurde ihr zum Verhängnis – weswegen sie nun auf eine Rache sinnt, die es in sich hat.

Verlobungsball und Raubzug in einem

Denn während sich die Erbin Miss de Vries mit dem Gedanken trägt, einen Ball zu geben, legt Mrs King derweil eine erstaunliche kriminelle Energie an den Tag. Sie schart eine Gruppe von Frauen um sich, darunter die Schauspielerin Hephzibah und die Unterweltgröße Mrs Bone. Sie alle wollen gemeinsam das luxuriöse Anwesen leerräubern, während Miss de Vries gleichzeitig im Haus einen Ball gibt, auf dem ihre Verlobung bekanntgegeben werden soll.

Alex Hay - Mayfair House (Cover)

Diese unterschiedlichen Stränge verknüpft Alex Hay nach einem schnellen Einstieg mit einem Countdown, der die Kapitel einleitet und der die vierundzwanzig Tage in rascher Folge herunterzählt, ehe Ende Juni 1905 die allesentscheidende Nacht stattfindet. Dabei zeigt May die mannigfachen Vorbereitungen für den Ball und den Coup die sich widersprechen und bei denen sich – ganz genrekonventionell – Interessen, Pläne und Beteiligte gegenseitig in die Quere kommen, was der Brite mit viel Lust am Pomp und dem Clash der vielen weiblichen Figuren inszeniert.

Hat das Genre Genre des Heist-Movies oder des Heist-Plots nicht erst seit Eric Amblers Topkapi oder der vor einem knappen Vierteljahrhundert erschienen Oceans-Reihe Reihe von Steve Soderbergh immer wieder neue Interpretationen erlebt (man denke nur an die höchst erfolgreiche Netflix-Serie Haus des Geldes), so verschmilzt Hay mit großer Lust den Herrenhausroman (oder hier vielmehr Damenhausroman) mit dem leichtgängigen Krimiplot, bei dem Männer wirklich nur eine Randerscheinung darstellen.

Das ist unterhaltsam gemacht, hat durch die beiden konträren Abendplanungen Drive und wurde von Regina Rawlinson in ein passend altmodisches Deutsch gekleidet. Hier ist von Schmu und Kalamitäten die Rede – und man beaugapfelt sich gar. All das lässt das historische Flair dieser überwiegend im Mayfair House spielenden Geschichte wirklich aufleben.

Fazit

Insgesamt gelingt Alex Hay mit diesem Roman ein historischer Roman, der einerseits im Herrenhaus-Ambiente schwelgt, auf der anderen Seite aber mit den Dienstmädchen und den anderen am Clou beteiligten Frauen jene Figuren in den Blick nimmt, die in zeitlich ähnlich gelagerten Romanen eher nur am Rande vorkommen. Das macht aus Mayfair House einen kurzweiligen Lesespaß, der nicht nur England-Nostalgiker gut unterhalten dürfte!


  • Alex Hay – Mayfair House
  • Aus dem Englischen von Regina Rawlinson
  • ISBN 978-3-458-64440-8 (Suhrkamp)
  • 405 Seiten. Preis: 20,00 €
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Nicola Upson – Experte in Sachen Mord

Tod und Intrigen im Londoner West End. Im ersten Band ihrer Reihe um Josephine Tey und Archibald Penrose nimmt Nicola Upson die Leser*innen mit in die flirrende Welt des Theaters und erzählt in Experte in Sachen Mord von Morden, Familiengeheimnissen und rauschenden Theatererfolgen zwischen Covent Garden und St. Martins Lane.


Auch wenn Josephine Tey selbst vom letzten Zug nach Schottland schrieb, so nimmt sie als fiktive Figur in Nicola Upsons Roman Experte in Sachen Mord den genau umgekehrten Weg. So reist sie zu Beginn des Romans aus ihrer schottischen Heimat in Inverness nach London. Der Grund für die Reise der eigentlich recht reisescheuen Elizabeth Mackintosh alias Josephine Tey hat aber einen guten Grund. So ist es ihr Theaterstück Richard von Bordeaux, das am Theater des Impresarios Bernard Aubrey sämtliche Rekorde bricht.

Die Theaterwelt im Londoner West End

Nicola Upson - Experte in Sachen Mord (Cover)

Ausverkaufte Vorstellungen, lange Schlangen vor den Ticketschaltern, Souvenirpuppen passend zur Inszenierung und Schauspieler, die in ihren Rollen zu Stars werden, darunter auch der junge John Terry (dessen reales Vorbild John Gielgud Upson im Roman kaum verhüllt). Teys Stück löst im Londoner West End einen regelrechten Hype aus, und so giert der Impresario natürlich nach weiteren Erfolgen, die er in Form einer geplanten Tour des Stücks mitsamt seinem Erfolgsschauspieler gefunden zu haben meint.

Auch Elspeth, eine junge Frau, ist großer Fan von Teys Stück und der Autorin selbst, mit der sie zufällig ein Zugabteil auf dem Weg nach London teilt. Kurz nach der Ankunft des Zuges im Bahnhof King’s Cross wird die junge Frau allerdings brutal ermordet. Der Tatort im Zugabteil ist geschmückt und wie ein Bühnenbild inszeniert. Das macht auch Archibald Penrose von Scotland Yard stutzig.

Der alte Freund Josephines beginnt mit seinen Ermittlungen, die ihn mitten hinein ins Londoner West End führen. Denn nicht nur vor den Kulissen der Theater gibt es Morde und Intrigen – auch dahinter geht es nicht minder gefährlich zu. Neidische Inspizientinnen, ambitionierte Stars und mittendrin Aubrey als Impresario, der alle Charaktere und Pläne zusammenhalten muss.

Archie Penrose und Josephine Tey ermitteln

Dass Experte in Sachen Mord der Auftakt einer Reihe ist, merkt man dem Krimi nur in einigen wenigen Aspekten an. So ist die Einführung der Nebenrollen etwas schematisch und die Zeichnung mancher Figuren doch etwas unterambitioniert – und auch gewisse Längen schleichen sich inmitten der Mördersuche im Westend ein. So sind 480 Seiten für den Plot etwas überdehnt, wenngleich es Nicola Upson schlussendlich gut gelingt, die einzelnen Fäden und Charaktere des Buchs zu einem wahren Familiendrama zusammenzuführen.

Die besondere Stärke liegt in der Atmosphäre, die die britische Autorin hier heraufzubeschwören weiß. Trinkrituale hinter der Bühne der Theater, Josephine Tey bei zwei Freundinnen, die als Ausstatterinnen entscheidend zum Erfolg vieler Theaterproduktionen beitragen, Klatsch und Tratsch und die Grillen mancher Theaterstars – Experte in Sachen Mord schöpft hier aus dem Vollen und lässt die Theaterbegeisterung der Zwischenkriegszeit lange vor Kino, Musicals und Co wiederauferstehen.

Ähnlich wie Reginald Arkell in seinem 1953 erschienenen Roman Charley Moon ist auch dieser historische Krimi eine Hommage an die flirrende Theaterwelt Londons und die seiner Stars – mit der ermittelnden Krimiautorin Josephine Tey mittendrin.

Zudem gibt es in ihrem Krimi auch Anklänge an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der noch immer in den Köpfen der Britinnen und Briten vorhanden war und der auch auf die Geschehnisse in Experte in Sachen Mord entscheidende Auswirkungen hat. Somit ist der Krimi voller Zeitgeschichte und Lokalkolorit, was entscheidend zur Qualität des Cosy Crime-Titels beiträgt.

Fazit

Insgesamt gelingt Nicola Upson mit dem ersten Band ihrer Krimireihe um Josephine Tey und Archibald „Archie“ Penrose ein wirklich guter Auftakt zu einer Serie, die im englischen Original mittlerweile schon elf Bände umfasst. Theaterwelt, eine (trotz zweier Leichen) recht unblutiger Krimi, gemächliches Tempo, verbunden mit nur ein paar kleineren Anlaufschwierigkeiten machen aus Experte in Sachen Mord einen wirklich guten Krimi für alle Theaterfans und Freunde klassischer britischer Krimis.

Weitere Informationen zu Josephine Tey und Nicola Upsons Reihe gibt es auch auf dem Lady-Blog. Und mit Mit dem Schnee kommt der Tod liegt noch ein weiterer, eher in weihnachtlichem Rahmen angesiedelter Band der Reihe bereits besprochen vor (es handelt sich um den neunten Band der Reihe).


  • Nicola Upson – Experte in Sachen Mord
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN 978-3-0369-5013-6 (Kein & Aber)
  • 480 Seiten. Preis: 22,00 €
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Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält

Vom Schlachthaus des Ersten Weltkrieges bis hinein in die Wirren des Japanisch-Chinesischen Kriegs, von Sarajevo bis nach Manila. In seinem Roman Die Welt und alles, was sie enthält wagt Aleksandar Hemon den ganz großen Wurf und schickt einen jüdischen Apotheker auf eine weltumspannende Schmerzensreise. Erträglich wird all das erfahrene Leid nur durch die Liebe zu einem Mann.


Es ist nur ein kleiner Moment, der den Apotheker Rafael Pinto hineinkatapultiert in einen der entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts. Eigentlich müsst er in der familieneigenen Apotheke in Sarajevo hinter dem Tresen stehen, Pulver mischen und Kunden beraten. Doch wir schreiben den 28. Juni 1914 und die ganze Stadt ist auf den Beinen und vibriert vor Erregung. Der Grund dafür ist der bevorstehende Besuch des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand.

Rafael Pinto interessiert das allerdings überhaupt nicht. Vielmehr ist es ein Rittmeister, der sein Interesse auf sich zieht. Der im militärischen Dienst der Monarchie stehende Mann sucht den sephardischen Juden Pinto in dessen Apotheke auf, um von ihm ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen zu erhalten.

Doch es ist nicht nur ein Mittel gegen die Kopfschmerzen, das der Rittmeister vom Apotheker erhält. Es kommt zu einem Kuss zwischen Pinto und dem Rittmeister. Ein kleiner Moment, der sich fast anfühlt, als würde die Welt kurz stillstehen.

Ein Kuss, ein Schuss und der Krieg

Ganz betört vom gerade Erlebten folgt Pinto dem Rittmeister hinaus auf die Straßen der bosnischen Hauptstadt, als sich die gerade noch stillzustehende Welt geradezu explosiv beschleunigt. Denn Pinto wird unmittelbar Zeuge des Attentats auf den zu Besuch weilenden Thronfolger, das zugleich den Beginn des Ersten Weltkriegs markiert. Vom Kuss zum verheerenden Schuss in nur wenigen Momenten – und kurz darauf hinein in das, was später als Großer Krieg und noch etwas später als Erster Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Schnell geht es in Hemons Romans zur Sache – ein Merkmal, das auch die weiteren Lebensstationen Pintos kennzeichnen wird.

Aleksandar Hemon - Die Welt und alles, was sie enthält (Cover)

Als Soldat findet Pinto sich auf den Schlachtfeldern des Krieges wieder, als er in Galizien als eingezogener Soldat Dienst tut. Die Schrecken, die inkommensurable Gewalt, die Hoffnungslosigkeit in den Schützengräben erfährt er am eigenen Leib. Doch wo die Gefahr ist, da wächst auch das Rettende. Im Falle von Pinto hört jenes Rettende auf den Namen Osman Karišik . Er ein Muslim, Rafael Pinto ein sephardischer Jude, und zusammen ein Liebespaar, das in der gegenseitigen Liebe ein Mittel gegen la gran eskuridad – die große Leere – findet.

Zusammen überleben sie auf den Schlachtfeldern und schlagen sich von Galizien und der Bukowina bis nach Taschkent durch. Es ist nur eine Station auf einer wahren Schmerzensreise, die Pinto und Karišik immer weiter weg führt von Zuhause. Sie begegnen Bolschewiken, blutrünstige Banden, trennen sich in den Bergen Turkestans, Pinto schlägt sich schließlich durch die Wüste Taklamakan bis nach Schanghai durch, wo er aber, wie immer wieder auf seiner Reise, mit Krieg und Gewalt konfrontiert ist.

Die Schmerzen des 20. Jahrhunderts

Aleksandar Hemon erzählt vom allgegenwärtigen Leid des 20. Jahrhunderts, das Pinto bei so gut wie allen Lebensstationen, egal wo auf dem Erdball begegnet. Zwar kommt es immer wieder zu Umbrüchen, folgen neue Schauplätze oder neue Figuren, gleich aber bleiben stets die zugrundeliegenden Themen der Flucht, Vertreibung und des Gefühls, nie wirklich anzukommen.

Themen, die nur diesen Roman bestimmen, sondern auch in der Biografie ihres Autors eingeschrieben sind. So gab dieser nach der Belagerung Sarajevos 1992 ähnlich wie sein Held Rafael Pinto gezwungenermaßen die Heimat auf, um fortan in den USA zu leben und auf Englisch zu schreiben.

Diese Erfahrung des fremdbestimmt Getriebenen merkt man Die Welt und alles, was sie enthält unmittelbar an. Genauso ist sein Roman aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die alles erträgt, alles hoffet und die alles duldet, selbst als Osman Pinto verlassen muss und ihm die Verantwortung für sein Kind überträgt.

Schmerzen und Liebe, es ist nur eines von vielen Komplementärbeziehungen in diesem Roman, der mit seiner queeren Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwas an Alice Wills Durch das große Feuer erinnert. Dort wo sich Will allerdings auf den Großen Krieg konzentriert, geht Hemon noch deutlich weiter, indem er die Gewalterfahrungen und Vertreibung seines Helden bis ins Jahr 1949 dehnt und so das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Brutalität eindrücklich schildert.

Fazit

Die Welt und alles, was sie enthält ist die herausfordernde, wirklich globale Reise eines Helden, der über alle Grenzen hinausgeht, der Stürme überlebt und der angetrieben von seiner Liebe zu Osman und zu seinem Kind immer weiter geht. Nicht immer einfach zu lesen, mit vielen fremdsprachigen Wortfetzen, harten Schnitten und Umbrüchen gestaltet bereist dieser Roman eine Vielzahl an Schauplätzen, thematisiert die Gewalt im Chinesisch-Japanischen Krieg 1937 ebenso wie die Entbehrungen während der Durchquerung der Taklamakan-Wüste oder die Verzweiflung in den nassen und kalten Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Mag Hemons Roman auch nicht die ganze Welt enthalten, so steckt doch ein ganzes Stück der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman. Eine herausfordernde Lektüre, gewiss nichts für Nebenbei, aber voller Intensität, Vielsprachigkeit und queerer Liebe (übersetzt von Henning Ahrens).


  • Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-546-10047-2 (Claassen)
  • 400 Seiten. 26,00 €
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