Category Archives: Historischer Roman

Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang

Vom möglichen Königsmord bis zum Aufstieg der Rechten. Donata Rigg und Claudia Klischat beschreiben in ihrem Roman Zeitlang die Geschichte einer bayerischen Familie, die zurückreicht bis in die Zeit König Ludwigs II. Dabei überraschen sie nebst einem ambitionierten Erzählplot mit stilistischer Vielfalt


Der Aufstieg der Neuen Rechten, er ist ein Thema, auf den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur noch nicht wirklich geantwortet hat. Literarisch anspruchsvolle Romane abseits des Sachbuchs, die den Komplex der AfD, ihrer Genese und die Menschen im Hintergrund beleuchten, sie sind bislang noch nicht geschrieben worden. Donata Rigg und Claudia Klischat machen sich nun daran, dies zu ändern.

Dabei siedeln sie ihren Roman in einem Landstrich an, in dem die AfD im Gegensatz zu Ostdeutschland noch nicht wirklich dominant ist: die Rede ist vom bayerischen Voralpenland, genauer gesagt dem Ammersee. Zwar bleibt jener See in ihrem Buch aber ebenso ungenannt wie die erstarkende neurechte Partei, für die Benedikt Zwicker, jüngster Spross der im erzählerischen Mittelpunkt stehenden bayerischen Dynastie, tätig ist. Dennoch sind die Bezüge klar, liegt der See im Buch neben dem Fürstensee, der nichts anderes als der Starnberger See ist und sitzt oberhalb des Ortes die Finanzschule, der man nach dem Zweiten Weltkrieg erst noch den Reichsadler mitsamt Hakenkreuz in den Klauen aus der Fassade herausmeißeln musste. Man ist also zu Gast in Herrsching am Ammersee, das im Roman den Namen Herzach trägt und in dem Benedikts Familie lange Zeit ansässig war.

Eine entzweite Familie

Doch zu Beginn des Romans ist davon nichts mehr übrig. Die Familie ist im Streit entzweit, die Tante ist mittlerweile im Besitz des Hauskomplexes, zu dem auch der Fischladen zählt, den die Familie Bader/Maurer schon seit den Zeiten Ludwigs II. betrieben hat. Doch die Hälfte der Familie wohnt inzwischen in Freiburg, wo genügend Abstand zur verfeindeten Schwester herrscht. Und auch Benedikt selbst hat sich noch einmal ein ganzes Stück weiter von seiner Familie entfernt – und das nicht nur geografisch.

Donata Rigg, Claudia Klischat - Zeitlang (Cover)

So wohnt er in Wien, wo er lange Zeit für eine hippe Werbeagentur gearbeitet hat, ehe ihn ein besonderer Auftrag zum Spindoktor eines Politikers gemacht hat, der ebenso wie dessen neugegründete patriotische Partei an die Macht will. Von der Betreuung des Social-Media-Auftritts bis hin zu Coaching reichte Benedikts Arbeit für den Politiker, der stark am rechten Rand fischt und den er aufgrund seiner Herkunft auf den Namen „Hunsrück“ getauft hat.

Es ist ein Job, der ihn auch von seiner Partnerin Marianne entfernt hat. Weder sie, noch seine Schwester Agnes noch seine Familie können verstehen, was den freigeistig und liberal erzogenen Jungen zum Unterstützer dieser Partei hat werden lassen, die mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen auf Stimmenfang geht.

Dabei ist das rechte Gedankengut quasi schon Teil der familiären DNA, wie Claudia Klischat und Donata Rigg in ihrem voluminösen Buch zeigen. War der Urgroßvater noch strammer Anhänger des bayerischen Königs und der Monarchie, so war es der Großvater, der in einer Absatzbewegung zum eigenen Vater mit der neugegründeten Nationalsozialistischen Partei sympathisierte und gegen Widerstände vor Ort in Herzach zum Parteimitglied wurde.

Zeitgeschichte in Zeitlang

Die generationalen Zeitläufe beschreiben Klischat und Rigg detailliert, schreiten von Geschehnissen der Jetztzeit wie etwa den pandemiebedingten Grundrechtseingriffen bis tief in die Vergangenheit. Ihr Roman ist voller Zeitgeschichte wie etwa den möglichen Mord an König Ludwig II. im Starnberger See, den der Großvater mit eigenen Augen beobachtete. Auch sind die Auswirkungen des politischen Münchens im 20. Jahrhundert stets in Herzach zu spüren, wo sie in gebrochenen zeitgeschichtlichen Wellen anlanden wie das Wasser, das an den Steg der familieneigenen Badeanstalt dort am See schlägt.

Politik, eine familiäre Chronik und politische Umschwünge bilden den Hintergrund von Zeitlang. Ebenso ist der Roman ein Buch über familiäre Konflikte und zerfallende Gewissheiten. Das wissen Claudia Klischat und Donata Rigg mit einer stilistischen und formalen Vielfalt zu verbinden, die sich im Lauf des Buchs steigert.

Zwar erinnert der Einstieg rund um Benedikt und dessen Tun an andere Generationenromane und die Episode um Urgroßvater Maurer und dessen königstreue Einstellung zunächst noch an einen konventionellen historischen Roman. Doch je weiter das Buch voranschreitet, umso vielfältiger werden die Töne und Gestaltungsmittel. Bayerische Einsprengsel, ein Diktat an den Sohn, Listen oder ein ganzes Kapitel über den Kontakt zwischen Eltern und ihrem Sohn im Zweiten Weltkrieg, der über Feldpostbriefe erzählt wird. Das alles sorgt in Verbindung mit den zwischen Vergangenheit und Gegenwart alternierenden Erzählsträngen für Abwechslung auf den über 600 Seiten des Romans.

Dass hier auf den letzten Metern des Romans Oskar Maria Graf seinen Auftritt hat, ist wahrlich kein Zufall. Ähnlich raumgreifend wie dieser in Das Leben meiner Mutter gestalten Donata Rigg und Claudia Klischat hier ihren Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die miteinander verbunden sind. Und auch in bajuwarische Gemütlichkeit und Heimattümmelei verfallen sie ähnlich wie Graf in seinem Werk nie.

Ob die Verzahnung der Familiengeschichte und ihrer vielgestaltigen Motivik mit dem in der Gegenwart spielenden Strang um den zum rechten Spindoktor mutierten Benedikt Zwicker restlos aufgeht, da bin ich mir nicht wirklich sicher. So ist für mich die historische Komponente etwas stärker als die Erzählung über Benedikt Zwicker und dessen Flirt mit dem rechten Rand durch seine Tätigkeit als Spindoktor.

Fazit

Davon unbesehen ist Zeitlang aber wirklich ein Roman von Großformat, was die beschriebene Zeit und die Fülle an Handlung an Form und Stil anbelangt. In Zeiten, in denen Bayern literarisch hauptsächlich für Heimatkrimis von Rita Falk, Jörg Maurer oder Klüpfel und Kobr wahrgenommen wird, zeigen Donata Rigg und Claudia Klischat, dass es auch anders geht. Ihnen gelingt ein ambitionierter Roman in Sachen Anspruch und Inhalt, der literarisch zum interessantesten zählt, was über (Ober)Bayern in den letzten Jahren geschrieben wurde!


  • Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang
  • ISBN 978-3-550-20255-1 (Ullstein)
  • 624 Seiten. Preis: 26,99 €
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Sven Recker – Der Afrik

Afrika liegt in Baden. Zumindest ein kleiner Teil. Diese geografisch neue Erkenntnis verdankt sich dem dritten Roman von Sven Recker. Dieser zeichnet in Der Afrik das Schicksal deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert nach und lässt einen Außenseiter im Badischen einen verhängnisvollen Plan vorantreiben.


Pfaffenweiler ist ein kleines Dorf, das südlich von Freiburg im Breisgau gelegen ist. Weinhänge prägen die Umgebung des Städtchens, das etwa 2500 Einwohner*innen zählt. Einer dieser Weinhänge hat eine ganz besondere Geschichte, die auch den erzählerischen Rahmen von Seven Reckers Roman Der Afrik bildet.

Denn dieser trägt den Namen Afrika. Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Namensgebung, die in Zusammenhang mit dem Denkmal steht, das sich im Wald oberhalb der Gemeinde verbirgt. Denn dieses setzt den Auswanderern ein Denkmal, die sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Afrika machten.

Hunger, Armut und fehlende Perspektiven verbunden mit einer großen Werbeoffensive des Bürgermeisters und der Politiker aus dem nahegelegenen elsässischen Colmar hatten für einen großen Aufbruch des armen Bevölkerungsteils von Pfaffenweiler gesorgt. 23 Familien mit insgesamt 132 Menschen sollten nach Afrika geschickt werden. Dort in Algerien würden die Auswanderwilligen nahezu paradiesische Zustände erwarten. Genug zu essen, Felder, die zu bestellen wären, wirtschaftlicher Aufstieg und Sorgenlosigkeit. So suggerierte es zumindest die Werbekampagne der Verantwortlichen.

Um die Reise der Menschen zu finanzieren, verfiel die Stadt unter Leitung des Bürgermeisters auf eine besondere Idee: so sollte ein naher Wald abgeholzt werden, um aus dem Erlös dieser Aktion die Reisekosten für die Ausreise zu bestreiten. Der Auswanderern zu Ehren taufte man den Weinhang auf den Namen Afrika.

Alles andere als paradiesische Zustände

Doch dieses Afrika, es war alles andere als paradiesisch, wie Sven Recker in seinem Roman zeigt. Entbehrung, krasser Mangel an allem, Hunger und Tod waren es, die die Auswanderer in Nordafrika erwarteten, wenn sie nicht schon auf der Reise dorthin gestorben waren.

Sven Recker - Der Afrik (Cover)

Niemand sollte diese Auswanderung überleben – bis auf einen Mann. Franz Xaver Luhr, genannt der Afrik, war es, der es aus Paffenweiler nach Afrika und wieder zurück geschafft hatte. Dieser historischen Figur setzt Sven Recker nun ein Denkmal, das von der Auswandererbewegung und den fatalen Folgen des Erlebten auf Körper und Geist erzählt. Ebenso bietet Der Afrik Parallelen zur heutigen Zeit an, in der wieder Schleuser mit Lügen und Propaganda über das bessere Leben auf anderen Kontinenten Menschen ins Verderben locken.

Um seine Geschichte zu erzählen, wählt Sven Recker ein außergewöhnliches literarisches Gestaltungsmittel. So greift er auf die unmittelbare Du-Anrede zurück, mithilfe derer er ganz tief in die Gedankenwelt des Afrik eindringen kann. Denn dieser hat nicht nur an seinem Körper schwere Schäden erlitten – auch sein Geist ist vom Erlebten zerrüttet. Überall sieht er einen Nachtkrapp, imaginiert sich wieder zurück zu seinem Freund Djiali, den er in der Wüste kennengelernt haben will und spricht mit sich selbst.

Seelische und körperliche Zerrüttungen

Du!

Depp!

Du!

Du weißt, was die Leute sagen. Sie glauben, die Sonne Afrikas hätte dein Hirn vollkommen verbrannt. Wenn du ins Dorf gehst, kommen die Kinder und rufen dir nach:

Du!

Du!

Depp!

Du!

Wenn sie sie dich verhöhnen, beißt du dir in die Hand, aber der Drang, das zu antworten, was du auf keinen Fall sagen willst, geht nicht weg und du brüllst:

Depp!

Du!

Depp!

Die Kinder lachen, dann rennen sie weg. Du würdest gerne eines von ihnen schnappen und am Ohrläppchen ziehen. Du traust dich nicht, stattdessen denkst du an deinen Stollen und den Sprengstoff, den du ihren Vätern seit Jahren schon bei deiner Lohnarbeit in ihren Steinbrüchen stiehlst. Bei dem Gedanken lachst du laut auf. Es klingt, als würdest du bellen und sie denken erst recht, du wärst verrückt.

Sven Recker – Der Afrik, S. 12

Eindringlich schildert Recker die Traumata des Erlebten, den heuchlerischen Umgang der Stadtspitze mit den Ausgewanderten und erzählt vom Wunsch nach Rache, der den Afrik umtreibt. Denn seit seiner Rückkehr arbeitet er an einem großen Plan, den er mit Beharrlichkeit vorantreibt: Afrika soll verschwinden. Mithilfe eines über die Jahre in den Berg gegrabenen Stollen und Dynamit soll es schon bald soweit sein. Der ganze Hang soll in die Luft gesprengt werden.

Der Plan des Afrik

Doch so einfach ist das mit dem Plan nicht. Denn schon auf den ersten Seiten des Romans findet der Afrik in seiner ärmlichen Kate einen Jungen, der eine Botschaft bei sich trägt. Dieser verkündet den Namen des Jungen, nämlich Jacob. Zudem heißt es da, dass er zur Familie des Afrik gehört.

Dies sorgt für eine Unterbrechung des Plans, auf den der Afrik so lange hingearbeitet hat. Denn plötzlich gilt es, für diesen Jungen zu sorgen, der so unverhofft in sein Leben getreten ist. Dabei rührt das Auftauchen auch wieder an alten Traumata…

Es stecken viele Themen in Reckers Buch. Eindringlich erzählt er vom Schicksal des Afrik, das durch die Du-Perspektive eine ganz eigene Intensität bekommt. Dessen Selbstgespräche, Flashbacks und Psychosen zeigen das Bild eines Mannes, dem alles genommen wurde. Aber auch darüber hinaus ist die Geschichte der Auswanderer und deren erschütterndes Schicksal gut eingebunden in den Roman bis hin zur Aktualität, die diesem historischen Roman innewohnt. Der Afrik erzählt von staatlich organisiertem Aufbruch, von Schleusern und der universellen Hoffnung auf ein besseres Leben.

Fazit

Recker gelingt ein beeindruckendes Werk, das der baden-württembergischen Auswandererbewegung und deren Schicksal ebenso ein Denkmal setzt wie dem historisch verbürgten Franz Xaver Luhr. Historisch und aktuell zugleich, literarisch und spannungstechnisch wohldurchdacht – und das alles auf gerade einmal gut 150 Seiten. Ich bin beeindruckt!

Mehr Informationen zu Sven Reckers Roman gibt es unter anderem auch beim SWR, bei Birgit Böllinger und bei Hauke Harders Blog Leseschatz.


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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Mme. Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch gelungen vor.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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Chris Lloyd – Paris Requiem

Zweiter Einsatz für Eddie Giral im von den Nationalsozialisten besetzten Paris. Chris Lloyd gelingt mit Paris Requiem abermals ein souveräner und traumwandlerisch sicher erzählter Kriminalroman mit einem unangepassten Helden, der diesmal nicht nur zu einem Pakt mit dem Teufel gezwungen ist.


Vor zwei Jahren erschien mit Die Toten vom Gare d’Austerlitz der erste Roman des Briten Chris Lloyd, den Herausgeber Thomas Wörtche für seine Krimiedition bei Suhrkamp aufgetan hatte. Gleich zum Einstand gelang Lloyd ein überzeugender Kriminalroman, der seinen Helden Eddie Giral hervorragend einführte. Nicht einmal vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris ließ sich der bei der Pariser Polizei angestellte ehemalige Jazzclub-Rausschmeißer von der Arbeit abhalten. In einem komplexen Fall rund um eine Gruppe ermordeter Polen bewies er seinen kriminalistischen Riecher und sein Talent für Ironie und Aufrichtigkeit in schweren Zeiten.

Im zweiten historischen Krimi gelingt es Lloyd nun, das Begonnene auf großartige Art und Weise fortzuführen. Denn die Nazis sind noch immer in Paris präsent. Während die Vichy-Regierung unter General Pétain die Kollaboration anstrengt, regt sich in Paris langsam subtiler Widerstand gegen die Abwehr, Gestapo und SD, die die Straßen der Hauptstadt kontrollieren.

Eddie versieht seinen Dienst mit viel Widerwillen gegenüber den neuen Machthabern in der Stadt, allen voran Major Hochstetter von der Abwehr, der ein genaues Auge auf ihn hat. Zwischen Nazis und organisiertem Verbrechen versucht er irgendwie die Ordnung aufrechtzuerhalten und bangt zudem auch noch um seinen Sohn, den er im ersten Band der Reihe zur Flucht aus Paris verholfen hat.

Tod im Jazzclub

Chris Lloyd - Paris Requiem (Cover)

Als er nun an einen Tatort in einem von den Besatzern stillgelegten Jazzclub gerufen wird, ist Giral mehr als irritiert. Denn der Tote, der mit Anglergarn gefesselt auf einem Stuhl sitzt, sollte sich eigentlich nicht in dem Club, sondern hinter Gittern befinden. Schließlich hat Eddie selbst für seine Inhaftierung gesorgt. Doch irgendwie scheint es das Mordopfer aus dem Gefängnis geschafft zu haben, um sich nun mit zugenähten Lippen im Jazzclub wiederzufinden. Wer hatte mit dem Toten noch eine Rechnung offen?

Bei seiner Suche bewegt sich Eddie auf vertrautem Terrain. Halbseidene Gestalteten, Kaschemmen und Jazzclubs, in denen sich Nazis und Unterweltgrößen die Klinke in die Hand geben, sind Stationen seiner Suche, die er immer unter genauer Beobachtung Major Hochstetters vorantreibt. Dabei stößt er auf die Spur anderer Gefangener, die offenbar widerstandslos aus der Haft entlassen wurden und die sich nun zusammengetan haben scheinen – aber mit welchem Ziel? Dass ihm bei seiner Suche in Paris immer wieder der Name „Capeluche“ begegnet, ohne dass er der Lösung des Mordfalls im Jazzclub nennenswert näherkommt, all das macht die Sache nicht unbedingt einfacher.

Eddie Giral vs. Major Hochstetter

Paris Requiem ist ein starkes stück Kriminalliteratur, bei dem die schnodderige und von ironie geprägte Haltung des Ich-Erzählers Eddie mit einem guten Timing, einem ebenso gut entwickelten Plot und einem hochinteressanten Kapitel französischer Geschichte zusammenfallen.

Gekonnt lässt Lloyd, der bereits zur Geschichte der Résistance forschte, sein Wissen in den Roman einfließen, ohne diesen damit zu beschweren. Die Deals der Unterwelt mit den neuen Herren in der Stadt, der Mangel der Stadtbevölkerung und der erstarkende Widerstand gegen die Nationalsozialisten sowie das Kompetenzgerangel zwischen Sicherheitsdienst, Abwehr und Gestapo sind nur einige Punkte, die den Hintergrund zu Paris Requiem ausmachen.

Im Duell Eddies gegen den faszinierend mephistophelischen Hochstetter hat der Roman seine stärksten Szenen. Großartig etwa die Begeisterung des deutschen Majors ausgerechnet für Beethovens Freiheitsoper Fidelio, was ihn in einen Konflikt mit Eddie bringt, der als gebildeter Franzose die Volkserziehung der Deutschen überhaupt nicht schätzt. Dieser Tanz mit dem Teufel, der schon im ersten Band der Reihe begann, er geht hier in eine neue Runde und wird noch einmal ein ganzes Stück komplizierter.

Leben im besetzten Paris

Daneben macht Paris Requiem auch das Leben im besetzten Paris erfahrbar. Lloyd zeigt in starken Szenen den Vernichtungswillen der Deutschen, der sich von jüdischen Bewohnern der Stadt bis hin zu den sogenannten Frontstalags erstreckt. Das mühselige Anstehen für Essensmarken der einfachen Bevölkerung und der im Gegensatz dazu florierende Schmuggel von Whisky oder Pervitin, die kleinen und großen Deals, sie sind stetes Thema in Lloyds Welt.

Während sich Eddie immer wieder seinen Entwachern entzieht, auf eigene Faust sogar bis in die nachtschwarzen Wäldern Compiègnes vordringt, verstrickt er sich immer mehr in Abhängigkeiten und Versprechungen. Eine zusehends komplizierter und gefährlicher werdende Gemengelage, die er französische Ermittler nur durch sein Talent für Ironie erträglich macht (und sich damit in guter Gesellschaft ähnlich angelegter Ermittlungsfiguren wie Adrian McKintys Sean Duffy oder Ben Aaronovitchs Peter Grant befindet).

Fazit

Viele Fronten und Sorgen, ein raffinierter Mörder, eine Stadt im Ausnahmezustand und mittendrin Eddie zwischen Abwehr, Gestapo, Jazzkneipen und alten Versprechungen, das kennzeichnet Paris Requiem. Abermals gelingt Chris Lloyd ein toll gesetzter Krimi, der historische Kulisse und einen Krimiplot vorzüglich zu verbinden weiß. Ebenso wie der erste Band der Reihe ist auch dieser neue Krimi wieder ein hervorragendes Stück historischer Kriminalliteratur, das sich neben französischer Stimmen wie Didier Daenickx vorzüglich ausnimmt!


  • Chris Lloyd – Paris Requiem
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47373-3 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 18,00 €
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I. L. Callis – Doch das Messer sieht man nicht

Boxerin, Reportin, jung und schwarz. Anaïs Maar, die Heldin von I. L. Callis historischem Kriminalroman Doch das Messer sieht man nicht vereint viele unterschiedlichen Facetten in sich. Dass es als junge Frau schwer ist, seinen Platz im täglichen Leben zu behaupten, das kennt sie schon zur Genüge. Doch als Schwarze ist das noch einmal eine ganz andere Kategorie. Denn während Josephine Baker für Aufregung in der Stadt sorgt, hat es Anaïs unter den erstarkenden Braunhemden immer schwerer in der Stadt. Und dann ist da auch noch der „Ripper von Berlin“.


Weckt der Titel des neuen Romans der in Österreich lebenden Autorin I. L. Callis Anklänge an Brechts Dreigroschenoper, so erweist sich Doch das Messer sieht man nicht selbst aber weniger von Brechts Moritat von Mackie Messer denn von klassischen Serienkillererzählungen beeinflusst. Denn auch im Berlin der Zwischenkriegszeit geht ein Mörder um, der sich eines Messers bedient, um seine weiblichen Opfer zu brutal zu töten.

Der Ripper von Berlin

Was in London 1888 das Stadtviertel Whitechapel war, ist nun im Jahr 1927 für den Mörder der Krögel in Berlin, ein von Armut und einfachem Handwerk geprägten Teil der ehemaligen Garnisonsstadt. Dort sucht sich der Mörder seine weiblichen Opfer und verstümmelt sie aufs Grausamste.

I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht (Cover)

Ein schrecklicher Umstand, der wiederum aber die Karriere der jungen Anaïs Maar entscheidend befördert. Denn diese möchte als Kulturredakteurin eigentlich ihrem Vorbild Egon Erwin Kisch nachstreben, sieht sich aber schon bald auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, da die Zeitungsbranche auch schon im 1927 ächzt und stöhnt und der Berliner Brennpunkt, bei dem sie eine Anstellung gefunden hat, im harten Konkurrenzkampf der Boulevardblätter ins Hintertreffen zu geraten droht.

Kurzerhand wird Anaïs auf die Story eines Frauenmordes im Krögel gesetzt. Eine Geschichte, die eigentlich keine Besonderheit wäre, würde sich der Morde nicht eben durch die besondere Brutalität auszeichnen. Kurzerhand macht die Reporterin, die sich nicht nur im harten Alltag der Zwischenkriegszeit, sondern auch im Ring aufs Durchboxen versteht, an die ihr zugteilte Arbeit und verfasst einen ersten Artikel. Darin macht sie aus dem Täter mit der griffigen Formulierung den „Ripper von Berlin“, womit ihr ein erster Wirkungstreffer gelingt.

Eine Reporterin boxt sich durch

Nicht nur, dass sie die Redaktion des Boulevardblatts auf sich aufmerksam macht und mit ihren Storys zum „Ripper von Berlin“ zum Stadtgespräch macht – auch die Aufmerksamkeit des Täters weckt die junge schwarze Reporterin.

Um Anaïs‘ Geschichte herum gruppiert die gebürtige Italienerin weitere Figuren, die abwechselnd in den erzählerischen Fokus rücken. Da ist die junge Josefine, die eigentlich gerne so wie der Filmstart Lillian Harvey wäre, aber in der Realität immer weiter die gesellschaftliche Leiter nach unten rutscht. Der Ikonenmaler Maxim Bronski oder der prominente Wahrsager Thor Jonasson, dazu noch Redakteure, Boxtrainer und andere Figuren, deren Wege sich später kreuzen werden.

Das ist alles sehr solide gemacht und berlinert nicht nur im vielfach verwendeten Dialekt recht ordentlich. Vom Wartesaal am Bahnhof Zoo, einer Boxhalle hinter dem Schlesischen Bahnhof bis zum Treiben am Nollendorfplatz reichen die Schauplätze, die I. L. Callis in ihrem Roman aufbietet.

Ähnlich wie Volker Kutscher in seinen Gereon Rath-Krimis oder Susanne Goga mit ihren Krimis um Leo Wechsler ist auch Doch das Messer sieht man nicht eine historischer Krimi, der das vergangene Berlin und seine turbulenten politischen Zeiten noch einmal auferstehen lässt. Die große Armut, das Erstarken der rechten Kräfte, die Straßenschlachten und die sich wandelnde Stimmung fängt I. L. Callis nachvollziehbar ein. Durch die schwarze Hautfarbe von Anaïs findet zudem die Komponente des Rassismus ins Buch, dem sie sich sich ausgesetzt sieht, während in der gleichen Stadt Josephine Baker für ihr Auftreten gefeiert wird.

Fazit

Diese originelle Heldin ist es, die dem Roman etwas Profil gegenüber den vielen anderen historischen Berlinkrimis verleiht. Inhaltlich ist der in Doch das Messer sieht man nicht präsentierte Fall ordentlich, wenn auch die Gestaltung des Ganzen weitestgehend in der Reproduktion konventioneller Erzählmuster verharrt. Hätte I. L. Callis den anderen Figuren auch etwas von der Tiefe zugestanden, die sie Anaïs hier schon in Ansätzen verliehen hat, wäre das Buch auch auf der Personenebene noch stärker geworden.

So macht das Buch durch die Blicke in die unterschiedlichen Milieus, die aufstrebende Reporterin Anaïs Maar und auch die augenfällige Gestaltung seine Punkte, ähnlich wie Anaïs im Boxring gegen ihren Trainer Kalle in dessen Boxschule. Kurzum: ein solider historischer Krimi aus dem Berlin der Zwischenkriegszeit.


  • I. L. Calis – Doch das Messer sieht man nicht
  • ISBN 978-3-7408-2048-0 (Emons)
  • 352 Seiten. Preis: 17,00 €
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