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Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang

Vom möglichen Königsmord bis zum Aufstieg der Rechten. Donata Rigg und Claudia Klischat beschreiben in ihrem Roman Zeitlang die Geschichte einer bayerischen Familie, die zurückreicht bis in die Zeit König Ludwigs II. Dabei überraschen sie nebst einem ambitionierten Erzählplot mit stilistischer Vielfalt


Der Aufstieg der Neuen Rechten, er ist ein Thema, auf den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur noch nicht wirklich geantwortet hat. Literarisch anspruchsvolle Romane abseits des Sachbuchs, die den Komplex der AfD, ihrer Genese und die Menschen im Hintergrund beleuchten, sie sind bislang noch nicht geschrieben worden. Donata Rigg und Claudia Klischat machen sich nun daran, dies zu ändern.

Dabei siedeln sie ihren Roman in einem Landstrich an, in dem die AfD im Gegensatz zu Ostdeutschland noch nicht wirklich dominant ist: die Rede ist vom bayerischen Voralpenland, genauer gesagt dem Ammersee. Zwar bleibt jener See in ihrem Buch aber ebenso ungenannt wie die erstarkende neurechte Partei, für die Benedikt Zwicker, jüngster Spross der im erzählerischen Mittelpunkt stehenden bayerischen Dynastie, tätig ist. Dennoch sind die Bezüge klar, liegt der See im Buch neben dem Fürstensee, der nichts anderes als der Starnberger See ist und sitzt oberhalb des Ortes die Finanzschule, der man nach dem Zweiten Weltkrieg erst noch den Reichsadler mitsamt Hakenkreuz in den Klauen aus der Fassade herausmeißeln musste. Man ist also zu Gast in Herrsching am Ammersee, das im Roman den Namen Herzach trägt und in dem Benedikts Familie lange Zeit ansässig war.

Eine entzweite Familie

Doch zu Beginn des Romans ist davon nichts mehr übrig. Die Familie ist im Streit entzweit, die Tante ist mittlerweile im Besitz des Hauskomplexes, zu dem auch der Fischladen zählt, den die Familie Bader/Maurer schon seit den Zeiten Ludwigs II. betrieben hat. Doch die Hälfte der Familie wohnt inzwischen in Freiburg, wo genügend Abstand zur verfeindeten Schwester herrscht. Und auch Benedikt selbst hat sich noch einmal ein ganzes Stück weiter von seiner Familie entfernt – und das nicht nur geografisch.

Donata Rigg, Claudia Klischat - Zeitlang (Cover)

So wohnt er in Wien, wo er lange Zeit für eine hippe Werbeagentur gearbeitet hat, ehe ihn ein besonderer Auftrag zum Spindoktor eines Politikers gemacht hat, der ebenso wie dessen neugegründete patriotische Partei an die Macht will. Von der Betreuung des Social-Media-Auftritts bis hin zu Coaching reichte Benedikts Arbeit für den Politiker, der stark am rechten Rand fischt und den er aufgrund seiner Herkunft auf den Namen „Hunsrück“ getauft hat.

Es ist ein Job, der ihn auch von seiner Partnerin Marianne entfernt hat. Weder sie, noch seine Schwester Agnes noch seine Familie können verstehen, was den freigeistig und liberal erzogenen Jungen zum Unterstützer dieser Partei hat werden lassen, die mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen auf Stimmenfang geht.

Dabei ist das rechte Gedankengut quasi schon Teil der familiären DNA, wie Claudia Klischat und Donata Rigg in ihrem voluminösen Buch zeigen. War der Urgroßvater noch strammer Anhänger des bayerischen Königs und der Monarchie, so war es der Großvater, der in einer Absatzbewegung zum eigenen Vater mit der neugegründeten Nationalsozialistischen Partei sympathisierte und gegen Widerstände vor Ort in Herzach zum Parteimitglied wurde.

Zeitgeschichte in Zeitlang

Die generationalen Zeitläufe beschreiben Klischat und Rigg detailliert, schreiten von Geschehnissen der Jetztzeit wie etwa den pandemiebedingten Grundrechtseingriffen bis tief in die Vergangenheit. Ihr Roman ist voller Zeitgeschichte wie etwa den möglichen Mord an König Ludwig II. im Starnberger See, den der Großvater mit eigenen Augen beobachtete. Auch sind die Auswirkungen des politischen Münchens im 20. Jahrhundert stets in Herzach zu spüren, wo sie in gebrochenen zeitgeschichtlichen Wellen anlanden wie das Wasser, das an den Steg der familieneigenen Badeanstalt dort am See schlägt.

Politik, eine familiäre Chronik und politische Umschwünge bilden den Hintergrund von Zeitlang. Ebenso ist der Roman ein Buch über familiäre Konflikte und zerfallende Gewissheiten. Das wissen Claudia Klischat und Donata Rigg mit einer stilistischen und formalen Vielfalt zu verbinden, die sich im Lauf des Buchs steigert.

Zwar erinnert der Einstieg rund um Benedikt und dessen Tun an andere Generationenromane und die Episode um Urgroßvater Maurer und dessen königstreue Einstellung zunächst noch an einen konventionellen historischen Roman. Doch je weiter das Buch voranschreitet, umso vielfältiger werden die Töne und Gestaltungsmittel. Bayerische Einsprengsel, ein Diktat an den Sohn, Listen oder ein ganzes Kapitel über den Kontakt zwischen Eltern und ihrem Sohn im Zweiten Weltkrieg, der über Feldpostbriefe erzählt wird. Das alles sorgt in Verbindung mit den zwischen Vergangenheit und Gegenwart alternierenden Erzählsträngen für Abwechslung auf den über 600 Seiten des Romans.

Dass hier auf den letzten Metern des Romans Oskar Maria Graf seinen Auftritt hat, ist wahrlich kein Zufall. Ähnlich raumgreifend wie dieser in Das Leben meiner Mutter gestalten Donata Rigg und Claudia Klischat hier ihren Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die miteinander verbunden sind. Und auch in bajuwarische Gemütlichkeit und Heimattümmelei verfallen sie ähnlich wie Graf in seinem Werk nie.

Ob die Verzahnung der Familiengeschichte und ihrer vielgestaltigen Motivik mit dem in der Gegenwart spielenden Strang um den zum rechten Spindoktor mutierten Benedikt Zwicker restlos aufgeht, da bin ich mir nicht wirklich sicher. So ist für mich die historische Komponente etwas stärker als die Erzählung über Benedikt Zwicker und dessen Flirt mit dem rechten Rand durch seine Tätigkeit als Spindoktor.

Fazit

Davon unbesehen ist Zeitlang aber wirklich ein Roman von Großformat, was die beschriebene Zeit und die Fülle an Handlung an Form und Stil anbelangt. In Zeiten, in denen Bayern literarisch hauptsächlich für Heimatkrimis von Rita Falk, Jörg Maurer oder Klüpfel und Kobr wahrgenommen wird, zeigen Donata Rigg und Claudia Klischat, dass es auch anders geht. Ihnen gelingt ein ambitionierter Roman in Sachen Anspruch und Inhalt, der literarisch zum interessantesten zählt, was über (Ober)Bayern in den letzten Jahren geschrieben wurde!


  • Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang
  • ISBN 978-3-550-20255-1 (Ullstein)
  • 624 Seiten. Preis: 26,99 €
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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch vor und belässt vieles im Ungefähren, statt sich mit eindeutigen Zuordnungen und Einordnungen aufzuhalten.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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Chris Lloyd – Paris Requiem

Zweiter Einsatz für Eddie Giral im von den Nationalsozialisten besetzten Paris. Chris Lloyd gelingt mit Paris Requiem abermals ein souveräner und traumwandlerisch sicher erzählter Kriminalroman mit einem unangepassten Helden, der diesmal nicht nur zu einem Pakt mit dem Teufel gezwungen ist.


Vor zwei Jahren erschien mit Die Toten vom Gare d’Austerlitz der erste Roman des Briten Chris Lloyd, den Herausgeber Thomas Wörtche für seine Krimiedition bei Suhrkamp aufgetan hatte. Gleich zum Einstand gelang Lloyd ein überzeugender Kriminalroman, der seinen Helden Eddie Giral hervorragend einführte. Nicht einmal vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris ließ sich der bei der Pariser Polizei angestellte ehemalige Jazzclub-Rausschmeißer von der Arbeit abhalten. In einem komplexen Fall rund um eine Gruppe ermordeter Polen bewies er seinen kriminalistischen Riecher und sein Talent für Ironie und Aufrichtigkeit in schweren Zeiten.

Im zweiten historischen Krimi gelingt es Lloyd nun, das Begonnene auf großartige Art und Weise fortzuführen. Denn die Nazis sind noch immer in Paris präsent. Während die Vichy-Regierung unter General Pétain die Kollaboration anstrengt, regt sich in Paris langsam subtiler Widerstand gegen die Abwehr, Gestapo und SD, die die Straßen der Hauptstadt kontrollieren.

Eddie versieht seinen Dienst mit viel Widerwillen gegenüber den neuen Machthabern in der Stadt, allen voran Major Hochstetter von der Abwehr, der ein genaues Auge auf ihn hat. Zwischen Nazis und organisiertem Verbrechen versucht er irgendwie die Ordnung aufrechtzuerhalten und bangt zudem auch noch um seinen Sohn, den er im ersten Band der Reihe zur Flucht aus Paris verholfen hat.

Tod im Jazzclub

Chris Lloyd - Paris Requiem (Cover)

Als er nun an einen Tatort in einem von den Besatzern stillgelegten Jazzclub gerufen wird, ist Giral mehr als irritiert. Denn der Tote, der mit Anglergarn gefesselt auf einem Stuhl sitzt, sollte sich eigentlich nicht in dem Club, sondern hinter Gittern befinden. Schließlich hat Eddie selbst für seine Inhaftierung gesorgt. Doch irgendwie scheint es das Mordopfer aus dem Gefängnis geschafft zu haben, um sich nun mit zugenähten Lippen im Jazzclub wiederzufinden. Wer hatte mit dem Toten noch eine Rechnung offen?

Bei seiner Suche bewegt sich Eddie auf vertrautem Terrain. Halbseidene Gestalteten, Kaschemmen und Jazzclubs, in denen sich Nazis und Unterweltgrößen die Klinke in die Hand geben, sind Stationen seiner Suche, die er immer unter genauer Beobachtung Major Hochstetters vorantreibt. Dabei stößt er auf die Spur anderer Gefangener, die offenbar widerstandslos aus der Haft entlassen wurden und die sich nun zusammengetan haben scheinen – aber mit welchem Ziel? Dass ihm bei seiner Suche in Paris immer wieder der Name „Capeluche“ begegnet, ohne dass er der Lösung des Mordfalls im Jazzclub nennenswert näherkommt, all das macht die Sache nicht unbedingt einfacher.

Eddie Giral vs. Major Hochstetter

Paris Requiem ist ein starkes stück Kriminalliteratur, bei dem die schnodderige und von ironie geprägte Haltung des Ich-Erzählers Eddie mit einem guten Timing, einem ebenso gut entwickelten Plot und einem hochinteressanten Kapitel französischer Geschichte zusammenfallen.

Gekonnt lässt Lloyd, der bereits zur Geschichte der Résistance forschte, sein Wissen in den Roman einfließen, ohne diesen damit zu beschweren. Die Deals der Unterwelt mit den neuen Herren in der Stadt, der Mangel der Stadtbevölkerung und der erstarkende Widerstand gegen die Nationalsozialisten sowie das Kompetenzgerangel zwischen Sicherheitsdienst, Abwehr und Gestapo sind nur einige Punkte, die den Hintergrund zu Paris Requiem ausmachen.

Im Duell Eddies gegen den faszinierend mephistophelischen Hochstetter hat der Roman seine stärksten Szenen. Großartig etwa die Begeisterung des deutschen Majors ausgerechnet für Beethovens Freiheitsoper Fidelio, was ihn in einen Konflikt mit Eddie bringt, der als gebildeter Franzose die Volkserziehung der Deutschen überhaupt nicht schätzt. Dieser Tanz mit dem Teufel, der schon im ersten Band der Reihe begann, er geht hier in eine neue Runde und wird noch einmal ein ganzes Stück komplizierter.

Leben im besetzten Paris

Daneben macht Paris Requiem auch das Leben im besetzten Paris erfahrbar. Lloyd zeigt in starken Szenen den Vernichtungswillen der Deutschen, der sich von jüdischen Bewohnern der Stadt bis hin zu den sogenannten Frontstalags erstreckt. Das mühselige Anstehen für Essensmarken der einfachen Bevölkerung und der im Gegensatz dazu florierende Schmuggel von Whisky oder Pervitin, die kleinen und großen Deals, sie sind stetes Thema in Lloyds Welt.

Während sich Eddie immer wieder seinen Entwachern entzieht, auf eigene Faust sogar bis in die nachtschwarzen Wäldern Compiègnes vordringt, verstrickt er sich immer mehr in Abhängigkeiten und Versprechungen. Eine zusehends komplizierter und gefährlicher werdende Gemengelage, die er französische Ermittler nur durch sein Talent für Ironie erträglich macht (und sich damit in guter Gesellschaft ähnlich angelegter Ermittlungsfiguren wie Adrian McKintys Sean Duffy oder Ben Aaronovitchs Peter Grant befindet).

Fazit

Viele Fronten und Sorgen, ein raffinierter Mörder, eine Stadt im Ausnahmezustand und mittendrin Eddie zwischen Abwehr, Gestapo, Jazzkneipen und alten Versprechungen, das kennzeichnet Paris Requiem. Abermals gelingt Chris Lloyd ein toll gesetzter Krimi, der historische Kulisse und einen Krimiplot vorzüglich zu verbinden weiß. Ebenso wie der erste Band der Reihe ist auch dieser neue Krimi wieder ein hervorragendes Stück historischer Kriminalliteratur, das sich neben französischer Stimmen wie Didier Daenickx vorzüglich ausnimmt!


  • Chris Lloyd – Paris Requiem
  • Aus dem Englischen von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47373-3 (Suhrkamp)
  • 448 Seiten. Preis: 18,00 €
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Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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Daniel Kehlmann – Lichtspiel

In seinem neuen Roman Lichtspiel holt Daniel Kehlmann den heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Regisseur G. W. Pabst zurück ins Licht – und blickt auch auf die dunklen Seiten in dessen Leben. Kehlmann gelingt ein Roman, der sich literarisch das abschaut, wofür Pabst einst berühmt war: die Schnittkunst.


Lichtspiel ist ein Roman über einen Menschen, dessen Leben alleine schon genug Material für einen spannenden Roman bietet. Wie etwa Hans Pleschinski in Wiesenstein zeigt auch Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman einen Künstler zur Zeit des Nationalsozialsmus, dessen Hadern mit den Machthabern, aber auch seine Anpassung an ein System, das für den einst „roter Pabst“ genannten Regisseur eine wichtige Rolle vorsah.

Ein linker Regisseur – gefördert von den Nationalsozialisten

1925 machte G. W. Pabst erstmals mit seinem Film Die freudlose Gasse von sich Reden. Dieser Stummfilm sorgte für den Durchbruch von Greta Garbo, die neben Stars wie Asta Nielsen in der Verfilmung des Buchs von Hugo Bettauer zu sehen war. Ungeschönt zeigte der Filme die soziale Kluft und die grassierende Armut in einem Wiener Armenviertel, was zum Ruf Pabsts als sozialrealistischer und dezidiert linker Regisseur beitrug, was dieser wiederum mit Filmen wie seiner Adaption der Dreigroschenoper oder den Antikriegsfilm Westfront 1918 verstärkte.

Filme mit dem Hollywoodstar Louise Brooks folgten – und auch in Hollywood versuchte Pabst Fuß zu fassen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Teils vom maladen Zustand seiner Mutter, teils mit dem Versprechen völliger Kunstfreiheit heimgelockt begab sich Georg Wilhelm Pabst dann wieder zurück nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Dort drehte er mit Förderung durch das Propagandaministerium unter anderem mit dem Schauspieler Werner Krauß, den er in seinem Film Paracelsus besetzte. Sein letzter Film dieser reichsdeutschen Phase, Der Fall Molander, gilt als verschollen.

Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus blieb Pabst dem Medium Film verbunden, drehte weitere Werke, ehe der Österreicher 1956 mit Durch die Wälder, durch die Auen den letzten seiner rund 40 Filme drehte. 1967 schließlich verstarb Pabst in Wien und geriet als Zeitgenosse von anderen Regiestars wie Fritz Lang oder Leni Riefenstahl etwas ins Vergessen.

G. W. Pabst – der Meister des Schnitts

Daniel Kehlmann holt den einst als „Meister des Schnitts“ gerühmten Regisseur wieder zurück ins öffentlich Bewusstsein – und bedient sich für die Montage seines Romans ebenjener Schnittkunst, die auch Pabst zum gefeierten Stummfilm- und später Tonfilmregisseur machte.

Daniel Kehlmann - Lichtspiel (Cover)

So beginnt der Roman auch alles andere als erwartet. Denn nicht Pabst steht im Mittelpunkt, sondern ein inzwischen schon reichlich dementer ehemaliger Assistent des Meisters, der in der Nachkriegszeit im österreichischen Fernsehen interviewt wird. Extra aus seinem Altersheim abgeholt soll er vor laufender Kamera über seine Zusammenarbeit mit Pabst und die gedrehten Filme, darunter Der Fall Molander, Auskunft geben.

Dies spannt die erzählerische Klammer des Romans auf, der mit den tatsächlichen Dreharbeiten des Films in Tschechien unmittelbar vor Kriegsende seinen Ausklang finden wird. Dazwischen montiert Kehlmann weitestgehend chronologisch entscheidende Szenen aus Pabsts Leben, die er fiktional anreichert und aneinanderreiht. Trotz eines anfänglichen Gefühls der Unverbundenheit fügen sich diese in der Gesamtheit des Buchs doch, obgleich die Schnitte sehr hart sind.

Licht und Schatten eines Lebens

So nimmt Kehlmann Pabsts Frau Trude oder den Sohn in den erzählerischen Fokus, erzählt von Hollywoodstars, denen er begegnet. Auch Nazi-Funktionäre oder ein Hausmeister haben ihre Auftritte, bei denen Pabst so manches Mal auf den ersten Blick kaum auftaucht – aber er ist doch immer präsent.

Aus all den Figuren und Momenten formt sich das Bild eines Menschen, der für den Film lebte, dafür aber auch immer wieder Kompromisse einging und sich anpasste.

„Drehen kann fast jeder“ , sagte Pabst. „Beim Schneiden macht man erst wirklich einen Film“

Daniel Kehlmann – Lichtspiel, S. 398

Doch nicht nur die Schnitte und die Montage sind in diesem Buch herausragend. Auch spielt Kehlmann mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens, etwa wenn man Zweifel an Pabst und seinem Blick auf die Realität bekommt. So gleicht ein Antrittsbesuch bei Propagandaminister Goebbels einem halluzinierendem Trip, bei dem nicht wirklich klar ist, was sich nun abspielt. Auch der Tathergang eines Unfall mit einer Leiter in der heimischen Bibliothek im österreichischen Dorf Dreiturm provoziert zumindest Fragen. Immer wieder gibt es solche Szenen, die sich nicht wirklich auflösen lassen und in ihrer Ambiguität fortbestehen.

Diese Doppelbödigkeit flicht Kehlmann auch an anderen Stellen immer wieder geschickt ein. Großartig beispielsweise die Szene, in der Pabsts Frau Trude ob ihrer Passgenauigkeit zu einem literarischen Zirkel von Frauen einflussreicher Nazis geprüft wird und in dem sich alle gegenseitig belauern und darüber die erschreckend schlechte Prosa des NS-Autoren Alfred Karrasch in den Himmel loben (die ihr Mann dann trotzdem für die Machthaber verfilmen wird).

Dieser Sinn für Zwischentöne, für Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit macht aus einem Künstlerporträt eines interessanten Menschen einen auch literarisch überzeugenden Roman, der die Erinnerung an G. W. Pabst wachhält.

Fazit

Lichtspiel ist ein Text, bei dem sich das ganze Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen hart geschnittenen Szenen miteinander ins Bild setzt und einen Schritt zurücktritt. Dadurch entsteht das Bild eines Künstlers und Menschenlenkers, der trotz seinem Sinn für Schnitt, die Montage und den genauen Blick gerne auch die Augen verschloss vor den Ungerechtigkeiten und dem Terror der Nazis (etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Leni Riefenstahl oder eigenen Dreharbeiten, bei denen auch Kriegsgefangene und Insassen von Arbeitslagern zum Einsatz kamen).

Kehlmann gelingt ein schwebendes, spannend erzähltes und literarisch ebenso interessant gestaltetes Künstlerporträt, das Licht und Schatten im Leben eines Menschen zu einem tatsächlichen Lichtspiel miteinander vereint.

Auf den Seiten des Rowohlt-Verlages gibt es auch ein einsichtsreiches Interview zu Kehlmanns Perspektive auf Pabst und die Themen des Romans.


  • Daniel Kehlmann – Lichtspiel
  • ISBN 978-3-498-00387-6 (Rowohlt)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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