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Daniel Kehlmann – Lichtspiel

In seinem neuen Roman Lichtspiel holt Daniel Kehlmann den heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Regisseur G. W. Pabst zurück ins Licht – und blickt auch auf die dunklen Seiten in dessen Leben. Kehlmann gelingt ein Roman, der sich literarisch das abschaut, wofür Pabst einst berühmt war: die Schnittkunst.


Lichtspiel ist ein Roman über einen Menschen, dessen Leben alleine schon genug Material für einen spannenden Roman bietet. Wie etwa Hans Pleschinski in Wiesenstein zeigt auch Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman einen Künstler zur Zeit des Nationalsozialsmus, dessen Hadern mit den Machthabern, aber auch seine Anpassung an ein System, das für den einst „roter Pabst“ genannten Regisseur eine wichtige Rolle vorsah.

Ein linker Regisseur – gefördert von den Nationalsozialisten

1925 machte G. W. Pabst erstmals mit seinem Film Die freudlose Gasse von sich Reden. Dieser Stummfilm sorgte für den Durchbruch von Greta Garbo, die neben Stars wie Asta Nielsen in der Verfilmung des Buchs von Hugo Bettauer zu sehen war. Ungeschönt zeigte der Filme die soziale Kluft und die grassierende Armut in einem Wiener Armenviertel, was zum Ruf Pabsts als sozialrealistischer und dezidiert linker Regisseur beitrug, was dieser wiederum mit Filmen wie seiner Adaption der Dreigroschenoper oder den Antikriegsfilm Westfront 1918 verstärkte.

Filme mit dem Hollywoodstar Louise Brooks folgten – und auch in Hollywood versuchte Pabst Fuß zu fassen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Teils vom maladen Zustand seiner Mutter, teils mit dem Versprechen völliger Kunstfreiheit heimgelockt begab sich Georg Wilhelm Pabst dann wieder zurück nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Dort drehte er mit Förderung durch das Propagandaministerium unter anderem mit dem Schauspieler Werner Krauß, den er in seinem Film Paracelsus besetzte. Sein letzter Film dieser reichsdeutschen Phase, Der Fall Molander, gilt als verschollen.

Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus blieb Pabst dem Medium Film verbunden, drehte weitere Werke, ehe der Österreicher 1956 mit Durch die Wälder, durch die Auen den letzten seiner rund 40 Filme drehte. 1967 schließlich verstarb Pabst in Wien und geriet als Zeitgenosse von anderen Regiestars wie Fritz Lang oder Leni Riefenstahl etwas ins Vergessen.

G. W. Pabst – der Meister des Schnitts

Daniel Kehlmann holt den einst als „Meister des Schnitts“ gerühmten Regisseur wieder zurück ins öffentlich Bewusstsein – und bedient sich für die Montage seines Romans ebenjener Schnittkunst, die auch Pabst zum gefeierten Stummfilm- und später Tonfilmregisseur machte.

Daniel Kehlmann - Lichtspiel (Cover)

So beginnt der Roman auch alles andere als erwartet. Denn nicht Pabst steht im Mittelpunkt, sondern ein inzwischen schon reichlich dementer ehemaliger Assistent des Meisters, der in der Nachkriegszeit im österreichischen Fernsehen interviewt wird. Extra aus seinem Altersheim abgeholt soll er vor laufender Kamera über seine Zusammenarbeit mit Pabst und die gedrehten Filme, darunter Der Fall Molander, Auskunft geben.

Dies spannt die erzählerische Klammer des Romans auf, der mit den tatsächlichen Dreharbeiten des Films in Tschechien unmittelbar vor Kriegsende seinen Ausklang finden wird. Dazwischen montiert Kehlmann weitestgehend chronologisch entscheidende Szenen aus Pabsts Leben, die er fiktional anreichert und aneinanderreiht. Trotz eines anfänglichen Gefühls der Unverbundenheit fügen sich diese in der Gesamtheit des Buchs doch, obgleich die Schnitte sehr hart sind.

Licht und Schatten eines Lebens

So nimmt Kehlmann Pabsts Frau Trude oder den Sohn in den erzählerischen Fokus, erzählt von Hollywoodstars, denen er begegnet. Auch Nazi-Funktionäre oder ein Hausmeister haben ihre Auftritte, bei denen Pabst so manches Mal auf den ersten Blick kaum auftaucht – aber er ist doch immer präsent.

Aus all den Figuren und Momenten formt sich das Bild eines Menschen, der für den Film lebte, dafür aber auch immer wieder Kompromisse einging und sich anpasste.

„Drehen kann fast jeder“ , sagte Pabst. „Beim Schneiden macht man erst wirklich einen Film“

Daniel Kehlmann – Lichtspiel, S. 398

Doch nicht nur die Schnitte und die Montage sind in diesem Buch herausragend. Auch spielt Kehlmann mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens, etwa wenn man Zweifel an Pabst und seinem Blick auf die Realität bekommt. So gleicht ein Antrittsbesuch bei Propagandaminister Goebbels einem halluzinierendem Trip, bei dem nicht wirklich klar ist, was sich nun abspielt. Auch der Tathergang eines Unfall mit einer Leiter in der heimischen Bibliothek im österreichischen Dorf Dreiturm provoziert zumindest Fragen. Immer wieder gibt es solche Szenen, die sich nicht wirklich auflösen lassen und in ihrer Ambiguität fortbestehen.

Diese Doppelbödigkeit flicht Kehlmann auch an anderen Stellen immer wieder geschickt ein. Großartig beispielsweise die Szene, in der Pabsts Frau Trude ob ihrer Passgenauigkeit zu einem literarischen Zirkel von Frauen einflussreicher Nazis geprüft wird und in dem sich alle gegenseitig belauern und darüber die erschreckend schlechte Prosa des NS-Autoren Alfred Karrasch in den Himmel loben (die ihr Mann dann trotzdem für die Machthaber verfilmen wird).

Dieser Sinn für Zwischentöne, für Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit macht aus einem Künstlerporträt eines interessanten Menschen einen auch literarisch überzeugenden Roman, der die Erinnerung an G. W. Pabst wachhält.

Fazit

Lichtspiel ist ein Text, bei dem sich das ganze Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen hart geschnittenen Szenen miteinander ins Bild setzt und einen Schritt zurücktritt. Dadurch entsteht das Bild eines Künstlers und Menschenlenkers, der trotz seinem Sinn für Schnitt, die Montage und den genauen Blick gerne auch die Augen verschloss vor den Ungerechtigkeiten und dem Terror der Nazis (etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Leni Riefenstahl oder eigenen Dreharbeiten, bei denen auch Kriegsgefangene und Insassen von Arbeitslagern zum Einsatz kamen).

Kehlmann gelingt ein schwebendes, spannend erzähltes und literarisch ebenso interessant gestaltetes Künstlerporträt, das Licht und Schatten im Leben eines Menschen zu einem tatsächlichen Lichtspiel miteinander vereint.

Auf den Seiten des Rowohlt-Verlages gibt es auch ein einsichtsreiches Interview zu Kehlmanns Perspektive auf Pabst und die Themen des Romans.


  • Daniel Kehlmann – Lichtspiel
  • ISBN 978-3-498-00387-6 (Rowohlt)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Winnie M Li – Komplizin

Das richtige Buch zur richtigen Zeit. Mitten hinein in die Rammstein-Debatte und ihre ganze diskursiven Entgleisungen erscheint nun Winnie M Lis Roman Komplizin, der sich um Machtmissbrauch im Filmbusiness dreht, der aber darüber hinaus auch universell gültige Strukturen aufdeckt und benennt. Lektüre, die man gerne einigen Lautsprechern in der aktuellen Debatte an die Hand geben möchte.


Die Causa Brüderle, der MeToo-Skandal nebst der hiesigen Diskussion auch hierzulande oder ganz aktuell die Debatte um Rammstein-Sänger Till Lindemann und der ihm vorgeworfene Missbrauch junger Frauen. Es sind immer die gleichen Mechanismen, die sich in den Diskussionen beobachten lassen. Schnell nach dem Bekanntwerden der Beschuldigungen folgt eine Relativierung der Vorwürfe meist durch Männer mit folgendem Grundtenor. Alles nicht so schlimm, die Frauen sollten sich nicht so haben, da würde etwas hochgejazzt, was eigentlich doch normal sei und eben den Spielregeln im jeweiligen Business folge. Die Frauen hätten wissen müssen, worauf sie sich einlassen, und so weiter, und so fort.

Ebenso ermüdend wie das Verharren in den gleichen Argumentationsmustern ist auch die Trägheit der Öffentlichkeit, die nach anfänglicher Sensationslust schnell das Interesse verliert – und vor allem die Unsichtbarmachung der Opfer. Die Täter sind prominent, von Till Lindemann bis Dieter Wedel – die Stimmen der Opfer aber haben kein großes Gewicht und fallen schnell hinten über. Auch in Winnie M Lis Roman ist das der Fall.

Eine Interviewanfrage mit Sprengkraft

Winnie M Li - Komplizin (Cover)

Hier ist es die Sarah Lai, die sich in ihrem Job als Hochschuldozentin durchschlägt. In ihrem Seminar bespricht sie mit Studierenden deren Drehbücher und versucht ihnen etwas filmtheoretisches Wissen zu vermitteln. Doch den Film kennt sie nicht nur aus der Theorie. Früher war sie einmal Produzentin und arbeitete mit dem britischen Multimilliardäre Hugo North zusammen. Sogar bis zu den Golden Globes hat sie es geschafft. Doch nun, im Jahr 2017, ist der frühere Ruhm einer kargen Monotonie gewichen. Nur noch ein paar dürre Zeilen in der Internet-Filmdatenbank IMDB zeugen von Sarahs früherem Erfolg.

Doch nun werden Anschuldigungen gegen Hugo North publik und so erhält auch Sarah von einem Starreporter der New York Times namens Thom Gallagher eine Interviewanfrage. Nach anfänglichem Zögern überwindet Sarah ihre Vorbehalte und beginnt dem Reporter ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die viel Sprengkraft bereithält. Die Geschichte, die sich in den Interviews zeigt, wird zu einer #MeToo-Geschichte, wie sie sie jüngst auch Maria Schrader in der filmischen Adaption des Sachbuchs She said der Journalistinnen Jodi Kantor und Megan Twohey zeigte, die 2017 den Weinstein-Skandal enthüllten.

Manche Dinge lassen sich nicht aus der Welt schaffen, auch wenn wir sie noch so sehr hinter Geschenktaschen, Presseerklärungen und Fotos mit lächelnden Gesichtern zu verbergen suchen. Die Wahrheit lebt weiter, auch wenn wir manchmal sehr genau hinsehen müssen, um sie zu entdecken: in zensierten Kommentaren, auf unveröffentlichten Fotos, im irritierenden Schweigen, das auf hinter verschlossenen Türen abgehaltene Meetings folgt. In E-Mails, auf die wir nie eine Antwort bekommen haben.

Heute sehen wir alles

Winnie M Li – Komplizin, S. 7 f.

Rückblenden auf eine ehrgeizige Karriere

Drei große Gespräche sind es, zu denen sich Gallagher und Sarah Lai treffen und die zurückführen bis ins Jahr 2006, als Sarah ihre Karriere im Filmbusiness begann. Zwischen die einzelnen Passagen fügt Winnie M Li Interviewabschriften, die Gallagher für seine Reportage mit anderen Beteiligten führte. Allmählich zeigt sich so das Bild eines Hollywood, in dem Frauen nur Objekte zweiter Klasse sind.

Dabei beginnt alles eigentlich mit toughen Frauen, die es den männlichen Konkurrenten zeigen wollen. Obwohl sich ihre Eltern für Sarah eine solide Karriere, gerne auch im familieneigenen Chinarestaurant in New York vorstellen, will sich Sarah nicht mit dieser festgefügten Ordnung begnügen. Sie will in die Filmwelt eintauchen und wird nach einem unbezahlten Praktikum zur rechten Hand der Filmproduzentin Sylvia Zimmerman. Arbeit gibt es viel, Anerkennung nur wenig und Geld noch weniger. Zusammen feiern sie aber mit einem Independent-Film einen ersten Erfolg, der zum Türöffner für weitere Arbeiten wird.

Die Selbstausbeutung in der Firma scheint dem Ende nah, als der britische Multimilliardär Hugo North an Bord kommt und die Arbeit mit seinem Geld maßgeblich unterstützt. Er krempelt den Laden der beiden Frauen gehörig um und sorgt dafür, dass die zweite Produktion dann ins Herz der Filmindustrie verlagert wird – nach Hollywood. Doch die Dreharbeiten sind für Sarah mehr als anstrengend. Nachdem sie in der Anfangszeit schon maßgeblich am Skript und der Steuerung der Finanzen mitgearbeitet hat, muss sie jetzt ihre Chefin vertreten und steigt zum Associate Producer auf. Doch nicht nur die Dreharbeiten fordern Sarah heraus. Auch Hugo wird immer launischer und macht Sarah das Leben zur Tortur, bis dann eine private Party im Chateau Marmont einen verheerenden Ausgang nimmt.

Komplizin eines verhängnisvollen Systems

In vielen Rückblenden nimmt uns Winnie M Li mit in Sarahs Leben und zeigt eine junge Frau, deren Arbeitsethos und Ehrgeiz sie weit – aber auch in Gefahr gebracht haben. Sie erzählt vom Arbeitsalltag an einem Filmset, der aufreibenden Arbeit zwischen Stars, Drehplan, Geldgebern und Öffentlichkeitsarbeit und von gefährlichen Abhängigkeiten. Sie beleuchtet in Komplizin den Machtmissbrauch, der aufgrund vielschichtiger Abhängigkeiten an einem solchen Set besteht und der Missbrauch, wie ihn auch Harvey Weinstein dutzendfach betrieb, Vorschub leistet.

Doch für eine platte Opfererzählung ist Winnie M Li zu klug. Sie erzählt, wie sich auch Sarah selbst mitschuldig macht und selber die Kultur des Wegschauens und Verdrängens pflegt, um den Film nicht in Gefahr zu bringen. Wie man sich durch Schweigen zur Komplizin dieses verhängnisvollen Systems macht, das einem seine Dienste im seltensten Fall ehrt, das zeigt Li sehr deutlich.

Damit knüpft Komplizin auch an die heutigen Debatten an, die ja meist eine ähnliche Ausgangslage wie der hier fiktiv geschilderte und an Harvey Weinstein erinnernde Fall aufweisen. Das Machtgefälle zwischen junger Frau und arriviertem Künstler (oder Geldgeber), ein System, das am Laufen gehalten werden muss, um für alle Beteiligten erträglich zu sein – und die unbarmherzige Ausgrenzung aller, die bei diesen Spielregeln nicht mehr mitmachen möchten. Das arbeitet die Aktivistin und Autorin in diesem Buch deutlich heraus.

Ob dieser analytischen Schärfe und dem detaillierten Blick ins Betriebssystem Hollywood verzeiht man da die ein oder andere erzählerische Zeitlupe und Übergenauigkeit, die die Rückblenden kennzeichnet, gerne. Ein Buch, das auch über den #MeToo-Skandal oder die Causa Lindemann leider weiter Aktualität und Relevanz besitzen wird. Das macht es zu einer empfehlenswerten und augenöffnenden Lektüre, selbst wenn man mit Hollywood und dem Produzentengeschäft nicht viel anfangen kann.


  • Winnie M Li – Komplizin
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47326-9 (Suhrkamp)
  • 475 Seiten. Preis: 18,00 €
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Christian Kracht – Die Toten

Ein neues Buch von Christian Kracht ist immer ein Ereignis – der Rummel um seinen letzten Roman Imperium war immens und die Wogen der Debatten schlugen (in meinen Augen völlig ohne Grund) hoch. Nun hat Kracht seinen nächsten Titel Die Toten veröffentlicht – was kann das Buch?

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Nach der wahren und höchst kuriosen Lebensgeschichte des Kokovaren August Engelhardt, der mithilfe seiner Kokosnuss-Sekte die Welt retten wollte, taucht Kracht nun ein in die fiebrige Welt der Weimarer Republik und in die des japanischen Kaiserreichs.

Er erzählt vom Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, der von Alfred Hugenberg, dem mächtigen Chef der UFA in Berlin, in einen wilden Plan eingespannt wird. Nägeli soll einen Film drehen – am besten mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle – der eine filmische Achse zwischen Deutschland und dem Japanischen Kaiserreich herstellen soll. Denn Hugenberg ist gewillt, den Streifen aus Hollywood die Stirn zu bieten – und Nägeli soll die Sache schaukeln …

Das Filmgeschäft in Berlin

Lotte Eisner, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Alfred Hugenberg – die Namen die Kracht in seinem neuen Roman auffährt, sind mehr als groß. Er führt direkt hinein ins damals boomende Filmgeschäft in Berlin, das Hollywood der Hauptkonkurrent war. Regisseure wie Fritz Lang sorgten für eine kreative Blüte in der Landes – und auch Kracht scheint diese Epoche beflügelt zu haben.

Die Sprache des Autors funkelt und blitzt – es ist ein Genuss dieses Geschichte zu lesen. Doch abseits von der kunstvollen Prosa bietet Die Toten eigentlich nicht viel außer jeder Menge Budenzauber. Nach der Beendigung der Lektüre überriss ich noch einmal die Handlung und hatte dabei das Gefühl, ein kunstvolles literarisches Baiser verzehrt zu haben, das recht schnell in sich zusammenfiel.

Die Rahmenhandlung des Romans ist für meinen Geschmack dann doch etwas zu banal (und auch etwas zu konstruiert), als dass das Buch länger im Gedächtnis bliebe oder in einen Literaturkanon aufgenommen werden müsste. Ein wunderbar geschriebenes Buch für Zwischendurch, aber große Kunst geht dann doch leider anders (und tiefer).

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Augustuo Cruz – Um Mitternacht

Die Jagd nach dem verlorenen Film

Um Mitternacht ist ein Film, um den sich zahllose Legenden ranken. Von Kinos, die nach der Aufführung in Flammen aufgegangen sind, von Personen, die der Film in namenlosen Schrecken versetzt und mehr munkelt man. Natürlich weckt ein solch legendärer Film, der als verschollen gilt, die Begehrlichkeiten unterschiedlichster Parteien. Das muss auch bald Scott McKenzie erkennen.
Jener fungierte beim FBI unter Edgar J. Hoover als dessen rechte Hand, ehe er aus dem Dienst ausschied. Dass er bislang jeden Fall gelöst hat (oder zumindest bis zur Lösung verfolgte, ehe er ihm wieder entzogen wurde) ist auch dem greisen Sammler Forrest J. Ackerman nicht entgangen.
Dieser hat sein Ende vor Augen und heuert McKenzie an, ihm den Streifen Um Mitternacht zu besorgen und zugänglich zu machen. Zunächst hält McKenzie dies für eine leichte Aufgabe, muss sich aber schon bald eines besseren belehren lassen. Eine Jagd nach dem Film beginnt, die ihn von den USA bis nach Mexiko führen wird und bei der er öfters zweifeln soll – was ist Realität, was Einbildung?

Zwischen Wahn und Realität

 

Mit Um Mitternacht ist Augusto Cruz ein Buch gelungen, das nicht nur Filmfans in seinen Bann ziehen wird. Jener legendäre Streifen und der Fluch, der auf ihm liegen soll, ist schon alleine dazu angetan, den Leser zu faszinieren. Jene an der Grenze zum Okkulten stehende Melange kreuzt der Spanier in seinem Debüt nun noch mit einer pulpigen Hetzjagd nach der letzten Kopie des Streifens. Schnell wechseln die Handlungsorte um dann in einem krachigen Finale zu enden.
Der Roman liest sich schnell und erinnerte mich in manchen Passagen stellenweise an den lesenswerten Thriller Die amerikanische Nacht von Marisha Pessl. Beiden Büchern liegen visuelle Legenden zugrunde (mal ein legendenumwobener Regisseur, mal ein Film wie im vorliegenden Fall) und beide verstricken Protagonisten und Leser schnell in eine reizvolle Ungewissheit: was stimmt, was ist einem Wahn entsprungen, könnte es so etwas tatsächlich geben?
Störend am Buch empfand ich eine einzige Eigenschaft: Augusto Cruz lässt sämtliche Dialoge ohne Anführungszeichen inmitten des restlichen Textkorpus stehen. Das macht die Lektüre teilweise doch recht anstrengend, wenn man noch einmal zurücklesen muss, was von wem jetzt gesagt wurde und was die äußere Handlung darstellt.
Wer sich davon beim Lesen nicht abhalten lässt, der bekommt einen schnellen und knallenden Thriller serviert, der geschickt zwischen Noir, Hardboiled und Film-Roman schwankt und keine Angst vor plakativen Figuren hat. Spannung inklusive!

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Marisha Pessl – Die amerikanische Nacht

Gefangen im Dunkel der Nacht

Zugegeben – vor diesem phantastischen Roman war mir der Begriff Marisha Pessl noch nicht untergekommen. Nach der Lektüre dieses Romans hat sich der Name der jungen Autorin aber nachhaltig in mein Gedächtnis eingeprägt.

Mit Die amerikanische Nacht ist ihr ein vielschichtiger, spannender und unheimlicher Roman gelungen, der den Leser erst nach über 780 Seiten freigibt und ihn stellenweise an seinem eigenen Verstand zweifeln lässt. Geschickt vermengt die Autorin fiktionale Dokumente, die sie in den Text einbaut, mit einer Handlung, die sich liest, als hätten sich Hitchcock, Luis Bunuel, Jorge Luis Borges und E.T.A. Hoffmann zusammengetan, um Pessls Ich-Erzähler, den Reporter Scott McGrath, in den Wahnsinn zu treiben.
Dieser war einst ein gefeierter Reporter mit einem legendären Gespür, ehe er über einen Bericht über den legendären Filmemacher Stanislas Cordova stolperte und nach einem Prozess seine Reputation verlor. Offenbar wurde er damals auf eine falsche Fährte gelockt, damit er nicht weiter im Umfeld des geheimnisumwitterten Starregisseurs schnüffeln konnte.
Doch als Cordovas junge Tochter Ashley tot im Aufzugsschacht eines verlassenen Gebäudes gefunden wird, erwacht der Spürsinn des Reporters erneut. Diesmal will er sich nicht von seinen Nachforschungen über Ashley und ihren berühmten Vater abbringen lassen und beginnt den Spuren des Cordova-Clans nachzuspüren. Doch McGraths Suche wird zu einem Trip, bei dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen und an deren Ende nicht nur McGrath an seinem Verstand zweifeln wird.

Selten hat mich in letzter Zeit ein Buch so in seinen Bann gezogen und förmlich in die Geschichte hineinstürzen lassen. Wer einen simplen Krimi erwartet, in dem der Tod der jungen Tochter Cordovas aufgeklärt wird, sieht sich schon bald heillos überfordert. Blogeinträge, erfundene Filme, diverse Metaebenen und noch viel mehr mixt Marisha Pessl zu einem Cocktail in den düstersten Farben. Wie der Titel des Originals Night Films bereits suggeriert, widmet sich der Roman mit Vorliebe dem düsteren Schaffen des legendären (und sehr überzeugend erfundenen) Stanislas Cordova und schafft es, ein wild wucherndes Referenzgeflecht zu kreieren, in dem man sich heillos verfangen kann. Was stimmt nun, was ist Einbildung?
Für mich liegt genau darin die große Stärke des Romans, da man am Ende nicht definitiv sagen kann, was nun erträumt und was real gewesen ist. Pessl zieht den Leser in einen Strudel des Ungewissen, der zumindest mich auch noch über das Ende der Lektüre hinaus beschäftigte.

Auf jeden Fall eines der stärksten, faszinierendsten und dunkelsten Bücher dieses Jahres – wenn nicht das Beste 2013!

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