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J. Todd Scott – Weiße Sonne

Zurück im Big Bend County. Dort in der Einöde zwischen Texas und Mexiko bekommt es Sheriff Cherry und sein Team diesmal mit einer Gruppe Neonazis zu tun, die in Cherrys Bezirk eine Schneise der Gewalt und Verwüstung schlagen. Weiße Sonne von J. Todd Scott.


Es ist wirklich augenfällig: auf den letzten Seiten dieses Romans greift der nach den Geschehnissen in J. Todd Scotts Erstling Die weite Leere zum Sheriff beförderte Chris Cherry zum Stift, um den langgehegten Traum eines Romans endlich anzugehen. Auch John Bassoff weist in seinem Nachwort auf diesen bemerkenswerten Umstand hin, geht Scotts Sheriff doch hier den umgekehrten Weg, den der Erschaffer der Figur selbst ging. Denn bevor sich Scott dem Schreiben zuwandte, arbeitete er als DEA-Agent im amerikanisch-mexikanischen Grenzland.

Nun gibt es mit Weiße Sonne den zweiten Roman rund um Chris Cherry und das Leben im Big Bend County zu lesen, geboren im Schatten von Scotts Erstling, wie er es im Nachwort seines Krimis selbst bezeichnet. Denn wo er für sein Debüt frei vor sich hin schreiben konnte ohne Druck und Abgabefristen im Nacken, da hat nun Die weite Leere die Erwartungshaltung für einen zweiten Roman gesteigert.

Outlaws und Gesetzeshüter im Big Bend County

Tatsächlich verfolgt J. Todd Scott in seinem zweiten Roman einen ähnlich multiperspektivischen und handlungsreichen Ansatz, wie er es bereits bei seinem ersten Roman tat. So ist Sheriff Chris Cherry nur eine Person im Personengefüge der Ordnungsmacht. Neben ihm kommen auch seine Deputys, die mexikanischstämmiger América „Amé“ Reynosa und der erfahrene Ben Harper, in Erzählsträngen zu Wort. Erstere kämpft noch immer mit den Erlebnissen aus dem Vorgängerband und ihren familiären Verflechtungen mit den mexikanischen Kartellen, letzerer versucht Chris Cherry in der Angelegenheit der der ABT zu mehr Aktion denn Reaktion zu drängen. Denn bei der ABT handelt es sich um die Aryan Brotherhood of Texas, die ausgerechnet im kleinen Städtchen Killing eingefallen ist.

J. Todd Scott - Weiße Sonne

Im Falle eines ermordeten Flussführeres gelten die gefährlichen Männer als die Hauptverdächtigen. Doch richtig zu packen bekommt sie weder Chris noch seine beiden Deputys. Besonders Amé steht unter Druck, lastet die Begegnung mit einem mexikanischen Autodieb auf ihrem Gewissen. Denn sie schlug diesen im Affekt im gefesselten Zustand, während da dieser scheinbar kompromittierendes Wissen vor allem über Amés Vergangenheit besaß.

Gewalt gegen Gefangene, im Hintergrund lauernde Kartelle, eine Neonazi-Bande voller Outlaws und ein ermorderter Flussführer. J. Todd Scott führt einige Erzählstränge ein, die die Gesetzeshüter im Big Bend County mehr als herausfordern. Dazu erzählt Scott parallel auch noch aus der ABT-Vereinigung heraus, denn hier kommen sowohl die Outlaws als auch ein verdeckter Ermittler zu Wort, der noch eine ganz persönliche Agenda innerhalb der Gruppierung verfolgt.

Erneut ein multiperspektivischer Erzählansatz

Viele Personen und Erzählstränge also einmal mehr, die in einem großen und gewaltgeladenen Finale enden, dass über Murfee hereinbricht wie jene Regenschauer, die sich dort wenig später entladen.

J. Todd Scott mutet sich und den Leser*innen einiges zu, schafft es aber wieder, sein multiperspektivisches Erzählkonstrukt über die fast 500 Seiten nicht zum Einsturz zu bringen. Zwischen Outlaws, FBI-Agenten und Gesetzeshütern springt er immer wieder hin und her, bringt Rückblenden zum Geschehen in Die weite Leere und der Vergangenheit seiner Figuren an und findet darüber immer wieder Zeit für ruhige Momente und etwas Durchatmen, ehe das hochexplosive Finale dann startet.

Hierbei zeigt sich wie in der ganzen Anlage dieses Buchs, dass im Motorblock dieses Krimis ein Western alter Schule vor sich hinschnurrt. Der wüstenähnliche Schauplatz der Handlung, die verkommenen Verbrecher, die Gesetzeshüter um Chris Cherry, die sich den Bösen entgegenstellen, aber auch selbst nicht davor gefeit sind, die Grenze zum Unrecht zu überschreiten. Weiße Sonne hat all die Zutaten, die eine packende Lektüre ausmachen.

Mir imponiert die Unbarmherzigkeit, die J. Todd Scott seinem Ensemble zumutet. Hier löst sich eben nichts in Wohlgefallen auf, vielmehr ist dieser Krimi geradezu schmerzhaft konsequent und macht mit seiner ganzen Erzählweise Lust auf einen dritten Streich des schreibenden DEA-Agenten.


  • J. Todd Scott – Weiße Sonne
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von John Bassoff
  • ISBN 978-3-948392-71-0
  • 496 Seiten. Preis: 27,00 €
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Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz

Kuba, Miami und Mexiko sind die Schauplätze von Gabriela Garcias Roman Von Frauen und Salz. Aber vielmehr als die einzelnen Schauplätze ist es das Dazwischen, das die junge Autorin interessiert und von dem sie eindrucksvoll zu erzählen weiß, indem sie ganz unterschiedliche Figuren im Laufe der anachronologisch erzählten Geschichte in ihrer ganzen Zerrissenheit und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren schildert.


Im Kern ist Von Frauen und Salz eine feministische Familiensaga, wie es sie insbesondere seit Isabel Allendes Das Geisterhaus dutzendfach auf dem Markt gibt. Frauen aus verschiedenen Generationen stehen im Mittelpunkt solcher Romane und werden bei ihren Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen herrschendes Unrecht und Gewalt inszeniert. Intergenerationalen Traumata und Widerstände, gegen die sie sich die Frauen erwehren müssen, sind dabei stets Thema und werden in solchen Sagas mal gelungener und mal weniger gelungen herausgearbeitet.

Das ist bei Gabriela Garcia nicht anders, wobei ihr Debüt in die Kategorie der gelungenen Bearbeitungen fällt, um dieses Urteil gleich vorwegzunehmen.

Ihr Roman setzt mit einem kurzen Kapitel ein, das Carmen im Jahr 201 in Miami zeigt. Nach wenigen Seiten springt Garcia dann eineinhalb Jahrhunderte zurück in der Zeit, nämlich ins Jahr 1866. Dort lernen wir María Isabel kennen, die als Tabakrollerin ihr Auskommen auf der Insel Kuba bestreitet.

Sie lebt in Camagüey und behauptet sich als einzige Tabakrollerin unter einer ganzen Menge Männern. Während die spanischen Besatzungstruppen den revolutionären Umtrieben der Kubaner*innen ein Ende setzen wollen, erwartet María Isabel ein Kind, das sie mit einem jener kubanischen Revolutionäre gezeugt hat.

Von dieser Episode geht es wieder zurück nach Miami ins Jahr 2014, wo nun Jeanette im Mittelpunkt steht. Sie lebt in prekären Verhältnissen und beobachtet die Razzia der Einwanderungsbehörde bei ihrer Nachbarin. Diese wird von den Behörden festgenommen und weggebracht. An ihr Kind hat allerdings niemand gedacht. Und so nimmt Jeanette das Kind unter ihre Fittiche, um es wenig später dann doch den Einwanderungsbehörden zu melden und zu übergeben.

Eine anachronologische Familiensaga

Gabriela Garcia - Von Frauen und Salz (Cover)

Das sind die ersten drei kurzen Episoden in diesem Roman, die zeigen, dass Gabriela Garcia aus der klassischen Form der weiblichen Familiensaga hier etwas Eigenes macht. Denn statt auf einen linear erzählten Erzählfluss setzt sie lieber auf das Erzählen in Schlaglichtern, die mit der Chronologie brechen. Schlaglichter, die erst im Zusammenhang mit dem ganzen Buch eine logische Abfolge ergeben und die Beziehung der Frauen untereinander herausarbeiten.

Dabei sind die Hauptschauplätze von Von Frauen und Salz die Insel Kuba und Miami sowie das mexikanische Grenzland. An diesen Schauplätzen leben Garcias Frauen, denen aber immer ein permanentes Gefühl des Dazwischen und der Zerrissenheit eingeschrieben ist.

So sehnt sich die in Miami aufgewachsene Enkelin nach dem Kuba ihrer Großmutter oder die Tochter einer Migrantin aus El Salvador nach Amerika, wo sie aufgewachsen ist. Dessentwegen begbit sie sich in die Hände von Schleusern, um mit diesen über den Grenzfluss wieder nach Amerika zu gelangen und so die Sehnsucht nach einem besseren oder zumindest anderen Leben zu stillen.

Erzählen durch Schlaglichter

Fortführen lässt sich dieses Motiv der Zerrissenheit und Dissoziation über das geographische und psychische Spannungsfeld der Figuren hinein bis in die Umbrüche der Geschichte selbst. Dabei bildet die wechselvolle kubanische Geschichte den Schwerpunkt von Gabriela Garcias Erzählung.

Wie die spanischen Kolonialherren in den 1860 Jahren mit blutiger Macht regieren und trotzdem nicht vor den revolutionären Umbrüchen gefeit sind, das beschreibt sie ebenso wie die alte Ordnung unter dem kubanischen Präsidenten Fulgencio Batista, die knapp hundert Jahre später durch die Revolutionäre um Fidel Castro abgelöst wurde.

Auch hier setzt Garcia wie in der gesamten Komposition ihres Buch nicht auf umfassende Darstellung der Hintergründe der jeweiligen Umschwünge, sondern verdichtet diese Momente der Zeitgeschichte auf Schlaglichter, die ihr zur Schilderung der wechselvollen Geschichte genügen.

Fünf Frauen, 150 Jahre Geschichte

Dabei ist das Schöne an Von Frauen und Salz, dass dieses erzählerische Gesamtkonzept bei aller Knappheit aufgeht. Fünf Frauenschicksale und 150 Jahre amerikanisch-kubanischer Geschichte auf gerade einmal etwas mehr als 300 Seiten, das ist eigentlich deutlich zu knapp bemessen. Dass es trotzdem funktioniert, ist der klugen Auswahl entscheidender Kipppunkte im Leben der Frauen und der Geschichte insbesondere in Bezug auf Kuba zu verdanken.

Zwar hätte die ein oder anderen Figur noch etwas mehr Profil vertragen, auch geht es manchmal doch etwas arg schnell mit den anachronologischen Sprüngen, aber doch entwickelt Garcias Geschichte Drive und eine große emotionale Wucht, wenn die Frauen mit ihren Entbehrungen und Leidensgeschichten von gewalttätigen Ehemännern bis zur Drogensucht gezeigt werden. Auch vermittelt die junge Autorin in Von Frauen und Salz gelungen, welche Bedeutung Literatur in ganz unterschiedlicher Ausprägung für Menschen haben kann. So ist es hier Victor Hugos Roman Die Elenden bzw. Les Misérables, der über Generationen weitergereicht wird und der immer wieder Hoffnung und Sinn spenden kann.

Fazit

So ist Von Frauen und Salz ein geradezu prototypischer feministischer Generationenroman, der vom Kampf gegen die Unterdrückung und das Patriarchat durch die Jahrzehnte hinweg erzählt. Durch die anachronologische Erzählweise und die Verdichtung des Materials auf entscheidende Kipppunkte hin bekommt die Prosa von Gabriela Garcia eine eigene Note und stellt die weibliche Widerstandskraft in den Mittelpunkt ihres Erzählens. Prosa mit feministischem und zeitgeschichtlichem Schlag, wie sie gerade im Trend liegt. Prosa, die aber auch unabhängig von aktuellen Moden durch die Themen und Erzählweise überzeugt.


  • Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz
  • Aus dem Englischen von Anette Grube
  • ISBN 978-3-546-10011-3 (Claassen)
  • 304 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sam Hawken – Vermisst

Laredo ist einer der Hotspots für den amerikanisch-mexikanischen Güterverkehr. Das hat mit der Lage der texanischen Stadt zu tun, die über eine Brücke direkt mit Nuevo Laredo in Mexiko verbunden ist. Tausende von Trucks transportieren Tag für Tag Waren aus Mexiko in die USA und umgekehrt. Auch für den Drogenhandel ist die Stadt von zentraler Bedeutung. Verschiedene Kartelle wie die Golfos und das Sinaloa-Kartell kämpfen mit brutaler Gewalt um die Vorherrschaft über die Stadt. Auch Jack Searle, der Held von Sam Hawkens Krimi Vermisst wird in diesen Konflikt hineingezogen und bekommt die Tödlichkeit des mexikanisch-amerikanischen Drogenkriegs am eigenen Leib zu spüren.


Es war eine Meldung, die selbst die von den alltäglichen Mord- und Gewaltnachrichten im Bezug auf den Drogenkrieg abgestumpfte amerikanische Öffentlichkeit aufhorchen ließ. Gerade einmal sieben Stunden währte die Karriere des neuen Polizeichefs von Nuevo Laredo. Alejandro Domínguez Coello hatte gerade frisch seinen Dienst angetreten, als von Auftragsmördern eines lokalen Drogenkartells erschossen wurde. Diese Meldung ließ auch die in Sachen Brutalität und Gewalt schon viel gewohnten Menschen in der texanisch-mexikanischen Grenzregion aufhorchen.

Hier war eine neue Eskalationsstufe im Drogenkrieg erreicht. Leider aber bei Weitem nicht die finale, wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt haben. Immer brutaler agieren die Kartelle, die mit Morden und zur Schau gestellter Gewalt wichtige Gebiete für sich besetzen wollen. Die Kämpfe zwischen den verschiedenen Kartellen eskalieren immer weiter und sorgen für Tausende von Opfern. Alleine in den Jahren 2015-2020 zählen vorsichtige Schätzungen über 150.000 Tote im Bezug auf den grassierenden Drogenkrieg. Es scheint kein Ende der Gewalt in Sicht. Im Gegenteil.

Wie sich ein Drogenkrieg anfühlt

Wie sich dieser Drogenkrieg für normale Menschen anfühlt, davon erzählt Sam Hawken. Er stellt den Handwerker Jack Searle in den Mittelpunkt seines Romans. Dieser verdient mit Aufträgen auf Baustellen sein täglich Brot. Er sorgt für seine beiden Stieftöchter und besucht einmal im Monat seine mexikanischen Verwandten. Dazu muss er mit seinen Töchtern über die Brücke nach Nuevo Laredo.

Sein Leben ist ein unspektakuläres. Manchmal heuert er mexikanische Migranten an, die ihm bei der Arbeit helfen. Die Aufträge sichern ihm ein Auskommen – für mehr reicht es allerdings nicht. Ein kleines Eigenheim mit Unkraut in der Auffahrt, ein Truck, das nennt Searle sein Eigen.

Die Katastrophe beginnt, als der dem Drängen seiner minderjährigen Tochter nachgibt. Diese möchte zusammen mit der Tochter der mexikanischen Verwandschaft in Konzert in Mexiko besuchen. Jack erlaubt ihr diesen Ausflug mit Bauchgrimmen – das sich schon bald als gerechtfertigt erweist. Denn die beiden jungen Frauen kehren nicht vom Konzert zurück. Verzweifelt beschließt Jack, sich auf die Suche nach seinen Töchtern zu machen. Unterstützung erhält er dabei vom Polizisten Gonzalo Soler, der für die Policia Municipale in Nuevo Laredo tätig ist. Zusammen durchkämmen die beiden die Grenzstadt auf der Suche nach den beiden Mädchen. Dabei stellen sie rasch fest, das in dieser Stadt nichts funktioniert, ohne dass ein Kartell seine Finger im Spiel hat …

Ein Buch im Schatten Don Winslows

Sam Hawken steht mit seinem Krimi unweigerlich im Schatten DES Chronisten des war on drugs: Don Winslow. Dieser hat mit seinen drei Epen Tage der Toten, Das Kartell und Jahre des Jägers von den Anfängen des Drogenkonfliktes bis in die heutige Trump-Ära hinein unglaublich feinteilig und komplex das metastasierende Geflecht Drogenkrieg herausgearbeitet. Die Messlatte liegt damit für Sam Hawken schon fast unerreichbar hoch. Und ja – er reißt sie erwartungsgemäß. Denn die Komplexität der fast 3000 Seiten starken Winslow’schen Opus Magnum erreicht Sam Hawken mit seinem Krimi nicht. Vielmehr konzentriert sich Hawken auf die verzweifelte Suche eines Vaters nach seiner Tochter.

Sam Hawken - Vermisst (Cover)

Ein klassischer Plot, der – wie auch Peter Henning in seinem Nachwort hinweist – in der Tradition von Ein Mann sieht rot oder der Taken-Filmreihe mit Liam Neeson steht. Ein solcher Plot steht und fällt natürlich mit einem zentralen Element – dem Helden. Und hier offenbart Vermisst leider zentrale Schwächen. Denn weder Jack Searle noch Gonzalo Soler sind sonderlich plastisch gezeichnet Figuren. Ihnen fehlt eine Backstory, die sie besonders auszeichnet und durch die man Sympathien für sie entwickelt. Dass Soler der um sich greifenden Korruption zu widerstehen versucht und Jack ein anständiger Kerl ist, das reicht für ein tiefergehendes Leseerlebnis leider nicht aus.

Folglich folgt man ihrer Suche nach dem Verschwinden von Jacks Stieftochter auch eher distanziert, vor allem, da diese Gegenperspektive der jungen Frauen im Buch nie wirklich angerissen wird (wenngleich dann das Ende klarmacht, warum). Um wirklich Drive zu entwickeln und die Leser*innen mitfiebern zu lassen, dazu fehlt es Sam Hawken schlicht an literarischen Möglichkeiten.

Auch hier drängt sich wieder unweigerlich der Vergleich zu Don Winslow auf, wenngleich das wenig fair erscheint. Der gebrochene Art Keller, den die Verluste seines Lebens gezeichnet haben, der aber unerschütterlich seine Mission verfolgt – das ist ein Charakter, wie er glaubhaft und plastisch ist. Mit diesem Vergleich im Hinterkopf hatte Sam Hawkens Buch das Nachsehen, wenngleich das Ende von Vermisst zu den stärksten Aspekten des Buchs gehört.

Von der Realität längst eingeholt

Ein Problem, das mich die Lektüre zudem etwas distanziert genießen ließ, ist das der Realität. Natürlich: was die Kartelle in Hawkens Buch treiben, ist schlimm. Auch die kriegsähnlichen Zustände und Schilderungen bedrücken. Allerdings ist die Realität doch noch ein ganzes Stück grausamer und brutaler geworden und hat die Fiktion dieses Buchs schon lange eingeholt. Es wirkt schon fast nostalgisch, wenn man sich hier noch auf der Suche nach den beiden Mädchen zusammentelefoniert oder an einem Drucker daheim Fotos reproduzieren muss, um die Stadt mit Suchaufrufen zu tapezieren. Die Realität der sozialen Medien, die modernen technischen Möglichkeiten einer Personensuche, in Vermisst haben sie noch nicht Einzug gehalten.

So wirkt es, als habe die Realität dieses Buch in vielen Aspekten längst eingeholt und mit Vollgas rechts überholt. Bilder von dutzenden unter Brücken Erhängten, Drogenbarone wie El Chapo und die flankierende Berichterstattung durch die Medien lassen Vermisst etwas abgehängt erscheinen und geben dem Buch einen leicht historischen Touch der Beschreibung eines frühen Zustandes des war on drugs.

In Verbindung mit den etwas limitieren literarischen Gestaltungsmitteln Sam Hawkens entsteht so der Eindruck eines Buchs, das sowohl von der Realität als auch von anderen literarischen Größen überholt wurde. Als Erzählung eines einfachen Mannes auf seiner Suche nach seiner Stieftochter gegen alle Widerstände geht das Buch in Ordnung. Auch schafft es Hawkens, einen Eindruck davon zu erwecken, wie sich diese Drogenkriege für unbescholtene Menschen in der Grenzregion anfühlen müssen. Mehr allerdings kann das Buch nicht liefern und verliert gegen die so komplexe und auf der Höhe der Zeit agierende Prosa Don Winslows deutlich.


  • Sam Hawken – Vermisst
  • Aus dem Englischen von Karen Witthuhn
  • ISBN 978-3-948392-02-4 (Polar-Verlag)
  • 400 Seiten. Preis: 22,00 €
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Valeria Luiselli – Archiv der verlorenen Kinder

In seiner kürzlich in der taz erschienen Rezension zu Colson Whiteheads Roman Die Nickelboys stellte Johannes Franzen fest, dass man mögliche Vorbehalte gegen Protestliteratur oder politische Literatur aufgeben sollte, wenn sie so gut gemacht seien, wie dies bei Whitehead der Fall ist.

Colson Whiteheads „Die Nickel Boys“ ist ein politischer Roman, der die Probleme politischer Literatur nach Möglichkeit vermeidet – ein Beispiel dafür, wie eine gelungene engagierte Literatur heute aussehen könnte, die nicht nur agitiert, sondern auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen kann.

Johannes Franzen über Colson Whiteheads „Die Nickelboys“

An diese Worte aus Franzens Rezension musste ich während der Lektüre von Valeria Luisellis Archiv der verlorenen Kinder denken. Denn ihr Buch ist für mich ebenfalls ein ganz klarer Fall politischer Literatur – und zwar der der guten Sorte. Ein Buch, das ein Anliegen hat, das aber darüber hinaus auch nicht vergisst, auch auf der literarisch-ästhetischen Ebene zu überzeugen.

Von New York nach Mexiko – und umgekehrt

Luiselli erzählt auf faszinierende Art und Weise von zwei gegenläufigen Ereignissen, die aktueller nicht sein könnten. An der mexikanisch-amerikanischen Grenze werden Tausende von Kindern aufgegriffen, die von ihren Eltern in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft gen Norden geschickt wurden. Durch Wüsten und auf Zügen schlagen sich die Kinder durch, um dann von der Grenzpolizei aufgegriffen und in den Süden zurückgeschickt zu werden.

Von diesen Kinderdeportationen hat auch die Erzählerin des zweiten Erzählstrangs gehört. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern will sie von New York aus in den Süden der USA reisen. Die Erzählerin hat das Schicksal der Flüchtlingskinder im Hinterkopf, ihr Mann das der Apachen. Beide suchen sie im Süden nach Material für Reportagen und Dokumentationen. Sie sehen sich selber als Dokumentarist (der Mann) und als Dokumentarin (die Erzählerin), die mit Klängen Geschichten erzählen. Sie lassen das sichtbar werden, was sonst verborgen bleibt – so auch die Geschichte der jungen Migranten, die es niemals nach Amerika schaffen. Mit ihren beiden Kindern machen sie sich im Auto auf den Weg aus New York in Arizona. So bewegen sich beide Parteien unaufhörlich aufeinander zu.

Mauerbau zu Mexiko, Flucht, Vertreibung, Flüchtlingsschicksale – möglicherweise werden viele Leser*innen an dieser Stelle schon abwinken, zu überpräsent (und wahrscheinlich auch zu ermüdend) mögen diese Schlagworte wirken, ohne die man Valeria Luisellis Erzählung nicht lesen kann. Es wäre allerdings ein Fehler, keinen genauen Blick auf dieses Buch zu werfen. Denn hier passiert auf literarischer Ebene Erstaunliches.

Elegien für verlorene Kinder

Dabei beginnt man am besten schon einmal mit dem Titel. Archiv der verlorenen Kinder – was soll das sein? Der Titel spiegelt einen Kunstgriff der Autorin wieder. Denn im Gepäck hat die Erzählerin für den weiten Weg von New York nach Arizona nicht nur Hörbücher, sondern auch ein Archiv in Form von sieben Schachteln im Kofferraum. In denen hat jedes Familienmitglied (die bis auf eine Ausnahme völlig ohne Namen bleiben) Stauraum für die Reise bekommen. Eines der Bücher, das in den Kisten lagert, ist das Werk Elegien für verlorene Kinder der (fiktiven Autorin) Ella Camposanto.

In den Elegien beschreibt die Autorin das Schicksal von Flüchtlingskindern, die mithilfe des Zugs, La Bestia genannt, von Mexiko nach Amerika zu gelangen versuchen. Die Erzählerin liest in diesen Elegien, nimmt sie auch auf Band auf und liest sie ihren Kindern vor. Je weiter die Familie in den Süden vordringt, desto mehr überlagern sich die eigene Reise und die Elegien. Fiktive und erlebte Schicksale verschwimmen immer mehr, bis am Ende kaum mehr unterscheidbar ist: was entspringt Camposantos Elegien, was haben die Kinder tatsächlich erlebt?

Amerikanisch-Mexikanische Grenze [By Dicklyon – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=76151119]

Diese kunstvolle Vermischung der Ebenen erzielt Luiselli auch durch einen weiteren erzählerischen Kniff. Mehrmals wechselt die Autorin die Erzählperspektive. Auch so wird es zunehmend schwierig, die Schicksale der Kinder der Erzählerin von denen der Flüchtlingskinder aus Mexiko zu separieren. Oder im Sinne des Romans zu sprechen: die Grenzen werden zunehmend durchlässig und verschwinden schlussendlich gar.

Die Schicksale der Kinder vermischen sich zudem auch mit dem der Apachen, die ein weiteres Hauptmotiv bilden.

Flucht, Vertreibung und Geronimo

Der Ehemann der Erzählerin ist von der Historie des Indianerstammes fasziniert. Immer wieder erzählt er seinen Familienmitgliedern von den Schicksalen des Stammes, insbesondere dem von ihrem Häuptling Geronimo. Dieser wurde mitsamt seines Stammes aus den angestammten Gründen vertrieben und nahm den Kampf gegen die Besatzer auf. Bis zu seinem Tod sollten Geronimo und seine Apachen nie mehr heimisch werden.

Nur noch in allzu schnell verlöschenden Echos ist diese Geschichte der Apachen noch vernehmbar. Der Mann der Erzählerin ist bemüht, diese einzufangen – aber auch hier zeigt sich, dass Migration und Vertreibung nur verlorene Menschen hervorbringen, deren Schicksal kaum in Erinnerung bleibt und viel zu schnell verloren geht.

Das Anliegen von Valeria Luiselli schwebt immer klar sichtbar über dem Roman – was diesem aber keinesfalls zum Nachteil gereicht. Durch die clevere Verwendung von Motiven und literarischen Stilmitteln gerät ihr Buch niemals plump und eindimensional. Mit großer Kunstfertigkeit webt sie Töne, Klänge und Sprache in die Schriftlichkeit eines Romans ein. Sie strukturiert den Text durch die sieben Schachteln als Hauptmotiv.

Zudem gelingt ihr mithilfe eines wunderbaren Kniffs, der hier natürlich nicht verraten werden soll, am Ende die ganze Reise, die die Familie hinter sich gebracht hat, den Leser*innen noch einmal vor Augen zu führen. Das ist clever gemacht und zeigt, dass sich Text- und Handlungsebene hier ebenbürtig begegnen.

Ein Buch von großer literarischer Kunstfertigkeit

Wie durchdacht und anspielungsreich Archiv der verlorenen Kinder eigentlich ist, das zeigt auch das Nachwort. In den verschiedenen Elegien hat Valeria Luiselli diverse literarische Anspielungen eingearbeitet (die mir kaum aufgefallen sind, wie ich gestehen muss). So spielen Autor*innen wie Susan Sontag, Dante, Marcel Schwob, Ezra Pound oder Virginia Woolf eine große Rolle. Wie alles zusammenhängt und was sich Luiselli bei der Montage ihres Buchs gedacht hat, das erklärt sie gut nachvollziehbar und schaffte zumindest in meinem Fall noch einige Aha-Effekte. Ein großes Lob sei an dieser Stelle auch an die Übersetzerin Brigitte Jakobeit ausgesprochen, die den Roman ins Deutsche übertragen hat.

Archiv der verlorenen Kinder ist ein mehr als eindrückliches Werk mit einer Botschaft, die niemals moralinsauer wirkt. Ein großartig geschriebenes Buch, das ein Roadtrip, die Innenansicht einer Familie, ein wütender Kommentar auf die aktuelle Migrationspolitik der USA, ein Buch mit Anliegen und eine Hommage an Klänge ist. Das alles und noch mehr steckt im Roman von Valeria Luiselli. Literatur mit Haltung und Mission von allererster Güte.

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Augustuo Cruz – Um Mitternacht

Die Jagd nach dem verlorenen Film

Um Mitternacht ist ein Film, um den sich zahllose Legenden ranken. Von Kinos, die nach der Aufführung in Flammen aufgegangen sind, von Personen, die der Film in namenlosen Schrecken versetzt und mehr munkelt man. Natürlich weckt ein solch legendärer Film, der als verschollen gilt, die Begehrlichkeiten unterschiedlichster Parteien. Das muss auch bald Scott McKenzie erkennen.
Jener fungierte beim FBI unter Edgar J. Hoover als dessen rechte Hand, ehe er aus dem Dienst ausschied. Dass er bislang jeden Fall gelöst hat (oder zumindest bis zur Lösung verfolgte, ehe er ihm wieder entzogen wurde) ist auch dem greisen Sammler Forrest J. Ackerman nicht entgangen.
Dieser hat sein Ende vor Augen und heuert McKenzie an, ihm den Streifen Um Mitternacht zu besorgen und zugänglich zu machen. Zunächst hält McKenzie dies für eine leichte Aufgabe, muss sich aber schon bald eines besseren belehren lassen. Eine Jagd nach dem Film beginnt, die ihn von den USA bis nach Mexiko führen wird und bei der er öfters zweifeln soll – was ist Realität, was Einbildung?

Zwischen Wahn und Realität

 

Mit Um Mitternacht ist Augusto Cruz ein Buch gelungen, das nicht nur Filmfans in seinen Bann ziehen wird. Jener legendäre Streifen und der Fluch, der auf ihm liegen soll, ist schon alleine dazu angetan, den Leser zu faszinieren. Jene an der Grenze zum Okkulten stehende Melange kreuzt der Spanier in seinem Debüt nun noch mit einer pulpigen Hetzjagd nach der letzten Kopie des Streifens. Schnell wechseln die Handlungsorte um dann in einem krachigen Finale zu enden.
Der Roman liest sich schnell und erinnerte mich in manchen Passagen stellenweise an den lesenswerten Thriller Die amerikanische Nacht von Marisha Pessl. Beiden Büchern liegen visuelle Legenden zugrunde (mal ein legendenumwobener Regisseur, mal ein Film wie im vorliegenden Fall) und beide verstricken Protagonisten und Leser schnell in eine reizvolle Ungewissheit: was stimmt, was ist einem Wahn entsprungen, könnte es so etwas tatsächlich geben?
Störend am Buch empfand ich eine einzige Eigenschaft: Augusto Cruz lässt sämtliche Dialoge ohne Anführungszeichen inmitten des restlichen Textkorpus stehen. Das macht die Lektüre teilweise doch recht anstrengend, wenn man noch einmal zurücklesen muss, was von wem jetzt gesagt wurde und was die äußere Handlung darstellt.
Wer sich davon beim Lesen nicht abhalten lässt, der bekommt einen schnellen und knallenden Thriller serviert, der geschickt zwischen Noir, Hardboiled und Film-Roman schwankt und keine Angst vor plakativen Figuren hat. Spannung inklusive!

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