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Kyle Perry – Der Rausch der Tiefe

Eine Familie, in der niemand dem anderen wirklich traut und in der so gut wie alle Geheimnisse voreinander haben und sich gegenseitig belügen. Willkommen in der Familie Dempsey, die im tasmanischen Fischerort Shacktown und weit darüber hinaus das Sagen hat.

Kern des Familienimperiums ist die Abalone-Fischerei, die Davey Dempsey betreibt. Das Fischen der Delikatessen vor der Küste Tasmaniens ist allerdings nur Fassade. Die wahren Erträge generiert die Fischerei durch den Drogenhandel. Ice beziehungsweise Crystal Meth heißt der Stoff, mit dem die Davey halb Tasmanien versorgt und der zum Schicksal seiner Brüder und seines Cousins geworden ist.

Sein Bruder Mackenzie, von allen nur Mackerel, also Makrele geheißen, erlebte Psychosen und ist inzwischen körperlich recht invalide, saß im Gefängnis ein und muss sich nun regelmäßig bei den Polizeibehörden melden. Sein Cousin Ahab hat dem Crystal Meth und damit auch der Familie Dempsey abgeschworen und betreibt nun eine Kneipe in Shacktown. Und Jesse, der andere Bruder von Mackerel, ist schon vor vielen Jahren ebenso wie seine Frau Alexandra und der gemeinsame Sohn Forest verschwunden. Was damals wirklich geschah, darüber gehen die Spekulationen weit auseinander, die von Mord bis zu einem Unfall reichen.

Sieben Jahre nach Verschwinden wird Forest nun an der Küste Tasmaniens angespült. Entkräftet und dem Tode nahe zieht man ihn dort aus dem Wasser, wobei auf seinem Rücken ein Tattoo prangt, das seine Identität bestätigt. Polizei und vor allem die Dempseys sind alarmiert und erhoffen sich Antworten auf die Fragen, die sie seit Jahren umtreiben. Doch Forest treibt ein ganz eigenes Spiel mit seiner Familie und den Ermittlungsbehörden…

Zwei Cousins ermitteln

Was an Der Rausch der Tiefe besonders ins Auge fällt, das ist die Erzählweise. Denn hier ist es im Gegensatz zu Kyle Perrys Erstling Die Stille des Bösen einmal kein Ermittler oder eine Polizistin, die das Schicksal der verschwundenen Dempseys aufzulösen versucht. Stattdessen sind es zwei Familienmitglieder selbst, die hier Aufklärungsarbeit leisten wollen, nämlich die Cousins Ahab und Mackenzie. Dass sie ganz unterschiedlich in das familiäre Netz der Dempseys eingebunden sind, sorgt manchmal dafür, dass sie aneinander vorbeiarbeiten und nicht immer auf dem gleichen Kenntnisstand sind.

Kyle Perry - Der Rausch der Tiefe (Cover)

Insbesondere, da die dritte erzählerische Hauptfigur Forest mit den Dempseys noch ein ganz eigenes Spiel spielt. Aber was will man auch erwarten von dieser Familie, der nach eigener Aussage das Lügen in die Wiege gelegt ist.

Natürlich gibt es in Form einer lokalen Polizistin und der Ermittlungsleiterin De Corrado auch offizielles Personal in diesem Buch, die ermittlerische Hauptlast trägt hier die Familie allerdings selber, deren Perspektiven Perry immer wieder abwechselt und Ahab und Mackenzie über das familieneigenen Drogenimperium (das zudem durch den mysteriösen Mitbewerber namens Black Beard in Gefahr ist), Tauchhöhlen, verschwundene Familienmitglieder und falschen Identitäten brüten lässt.

Ganz ins Ziel retten kann Kyle Perry das souveräne Handling seiner Figuren dabei nicht, gerade im leicht überfrachteten Finale mit verschiedenen Schauplätzen und Enthüllungen stimmen Tempo und Figurenführung nicht hundertprozentig. Angesichts des über weite Strecke wirklich stimmigen Erzählkonzepts fällt das aber nicht gravierend ins Gewicht.

Schwächen in den Figuren, Stärken in der Naturbeschreibung

Auch sind manche Wandlungen in den Figuren nicht immer wirklich plausibel. So mutiert etwa die Schwägerin innerhalb weniger Tage von der naiven luxusverwöhnten Gattin zur knallharten Meth-Köchin á la Walter White. Und auch ein paar Klischees weniger hätten der Geschichte gut getan. Wenn beispielsweise Mackenzie wieder in das familieneigene Drogengeschäft trotz seiner vorherigen Abstinenz eintaucht, ist es neben neuer Kleidung und Haarschnitt eine schwere Goldkette, die seine Rückkehr auf die böse Seite der Macht illustriert. Das alles hätte man leicht weglassen können, ohne dass die Geschichte dadurch schwächer geworden wäre, im Gegenteil.

So muss man hier aber über ein paar wenige missglückte Bilder, Dialoge aus B-Movies und Unwuchten im Erzählen hinwegblicken, wird dafür aber wieder mit wirklich starken Naturschilderungen und Schauplätzen belohnt. Heimlicher Hauptdarsteller ist diesmal die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens mit ihren Höhlen, Kelpwäldern und gefährlichen Strömungen, insbesondere wenn der sogenannte Schwarze Wind über die Küstenlandschaft fegt und Tod und Verderben bringt.

Wenn Kyle Perry diese Unterwasserwelten beschreibt und die Tauchgänge der Protagonisten dort in Worte kleidet, dann ist das ganz starke Nature-Writing-Prosa, die sich hier mit einem in weiten Teilen überzeugenden und frisch erzählten Kriminalroman verbindet.

Suspense und Natur, es ist hier alles drin. So lautete mein Urteil über Kyle Perrys Debüt – und auch in seinem zweiten Roman löst er diese beiden Versprechen wieder ein und rundet so das Leseerlebnis zu einer überzeugenden Angelegenheit.

Fazit

Erneut arbeitet Kyle Perry in Der Rausch der Tiefe daran, Tasmanien auf der Krimilandkarte zu verankern. Und auch hier macht er wieder einen guten Job, insbesondere, wenn er die Unterwasserwelt vor der Küste Tasmaniens in den Blick nimmt und uns mitnimmt in die gefährlichen Höhlen und von ihren Geheimnissen erzählt.

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Adam LeBor – District VIII

Ein ungarischer Ministerpräsident, der nach Gutsherrenart regiert und für seinen eigenen Machterhalt über Leichen geht? Der langjährige Ungarn-Korrespondent Adam LeBor zeichnet in seinem Krimi District VIII ein ungeschöntes Bild der Zustände in Ungarn, erinnert an die Anfänge der „Flüchtlingskrise“ 2015 und schickt einen neuen Ermittler auf die Straßen Budapests.


Balthazar Kovács heißt dieser Ermittler, der als Kriminalbeamter bei der Budapester Mordkommission seinen Dienst versieht. Eine anonyme SMS lockt ihn am Morgen des 4. September 2015 zur Grenze des VIII. Bezirks in der Nähe des Platzes der Republik. Dort auf einem verlassenen Grundstück sollte sich eigentlich eine Leiche befinden. Doch als Kovács den Tatort betritt, ist die Leiche verschwunden. Lediglich eine SIM-Karte kann er an dem potentiellen Ort eines Verbrechens ausmachen, das ist alles.

Ein kleiner Roma-Junge aus dem VIII. Bezirk gibt Kovács einen Hinweis, doch dann tauchen schon Mitglieder der Gendarmerie auf, die den Tatort als den ihrigen reklamieren. Anführer der Gruppe ist Kocács´ ehemaliger Kollege Attila Ungar, der den Budapester Mordermittler bedroht und einschüchtern möchte. Doch das lässt sich der sture Kriminalbeamte nicht sagen, sein Instinkt in Sachen Verschleierung von größeren Ungereimtheiten ist geweckt. Und so beschließt er gegen die Order der omnipräsententen Gendarmen nach Rücksprache mit seinem Chef eine geheime Ermittlung durchzuführen.

Schnell stellt sich heraus, dass der Ermittler mit Romnja-Wurzeln hier in ein Wespennest gestochen hat. Denn Spuren zum Verbrechen führen zu seiner eigenen Familie, die den VIII. Bezirk in Budapest kontrolliert. Spuren führen aber auch zum Keleti-Bahnhof, in dem tausende Geflüchtete ausharren, darunter auch die Familie des Ermodeten, der aus Syrien geflohen war. Und auch die Politik mischt kräftig in der Sache mit, allen voran die Justizministerin Réka Bardossy und der skrupellose ungarische Ministerpräsident Pal Pálkovic, der seine Finger im Spiel zu haben scheint.

Ein Krimi mit einigen Themenkomplexen

District VIII ist ein Krimi, der einige Themenkomplexe beackert. Da ist zum einen die Thematik der Flüchtlingskrise, die sich im September 2015 durch das Agieren des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban zusehends verschärfte, bis sich Deutschland zur Aufnahme der Geflüchteten entschied. Mit seinem Krimi ruft Adam LeBor die Erinnerungen an die Geschehnisse und Bilder aus dem Keleti-Bahnhof in Budapest noch einmal wach.

Adam LeBor - District VIII (Cover)

Zudem möchte der britische Auslandskorrespondent auch über die rechtspopulistische (nepotistische, autokratische und in Teilen antisemitische) Regierung Viktor Orbans erzählen, die er hier mithilfe eines fiktiven Doppelgängers des ungarischen Ministerpräsidenten bis hinein ins tiefkriminelle Milieu überdehnt. Denn sein Präsident Pal Pálkovic zieht hier die Strippen, hat mithilfe seiner Prätorianergarde, den ermächtigten und Sonderbefugnissen ausgestatteten Gendarmen, ein kraftvolles Instrument zur Umgehung des Rechts und der Gewaltenteilung bei der Hand und fungiert als Dealer für illegale Pässe und EU-Mitgliedschaften. All das muss Balthazar Kovács erkennen, wobei Adam LeBor einen multipersonalen Erzählansatz wählt, um die ganze Verkommenheit des politischen Machtapparats zu zeigen, der mit Schleusern und Kriminellen gemeinsame Sache macht.

Neben diesen beiden großen Themenkomplexen ist es auch noch die Herkunft Balthazar Kovács aus dem Romnja-Milieu, das in District VIII eine große Rolle spielt. Denn der titelgebende Bezirk ist der mit den meisten Romnja in ganz Budapest – und auch Balthazar selbst ist Teil dieser ethnischen Minderheit, wenngleich ihn sein Job zu einem Paria seiner Familie gemacht hat.

Ein Ermittler mit Romnja-Hintergrund

Das Leben der Romnja, ihr sozialer Codex und das Miteinander dort im achten Bezirk schildert LeBor in einigen Erklärpassagen, wie es überhaupt einige solcher Erklärexkurse im ganzen Buch gibt. Denn District VIII zeigt klar die Herkunft des Autors als Journalist, der mithilfe der fiktiven Politik-Doppelgänger seine Erfahrung über die aktuelle ungarische Politik unter Viktor Orban in seinen Roman einfließen lässt.

Das klappt manchmal prima, bisweilen holpert der Erzählfluss aber auch etwas und könnte ab und an eine etwas ordnende Hand gebrauchen könnte. So sind die Themenkomplexe und vielen Figuren nicht immer ganz organisch miteinander verbunden beziehungsweise bleiben auch etwas erwartbar, etwa wenn eine der Hauptfiguren, die Investigativjournalistin Eniko Szalay früher einmal mit Balthazar liiert war ehe sie für kurze Zeit nach London ging. Nun arbeitet sie aber im Zuge der verschwundenen Leiche des Flüchtlings aus Syrien wieder mit diesem zusammen und das Ergebnis dieser Zusammenarbeit sollte eine*n nicht wirklich überraschen.

Auch ist die Titelgebung des 2017 im Original erschienen Krimis etwas inkonsistent, wenn doch die Übersetzung im Buch beharrlich (und im Deutschen deutlich idiomatischer) vom VIII. Bezirk spricht, der Titel dann aber vom District VIII kündet.

All das sind so kleine Ecken und Kanten bei einem gesellschaftspolitisch spannenden Krimi, die sich mit der Routine kommender Titel in meinen Augen durchaus abschleifen könnten. Zu den gelungensten Aspekten des Buchs zählt in meinen Augen die Schilderung der Vorgänge am Keleti-Bahnhof – und auch Balthazar Kovács hat als Charakter durchaus Potenzial für die kommenden Bände.

Fazit

So liefert Adam LeBor in District VIII Einblicke in ein Ungarn zur Zeit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und zeigt ein politisches Budapest voller krimineller Energie, von Kopf bis Fuß im Morast des Unrechts steckt und das auch vor Gewalt nicht zurückschreckt und bei dem aufrechte Polizisten und Investigativjournalistinnen mit viel Kraft ihre Kämpfe fechten müssen.


  • Adam LeBor – District VIII
  • Aus dem Englischen von Jürgen Bürger
  • ISBN 978-3-948392-66-6 (Polar)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter verschwinden spurlos während der Silvesternacht von ihrem sturmumtosten Standort vor der Küste von Cornwall. Es fehlt von ihnen jede Spur, die Wanduhren sind stehengeblieben, der Turm von innen verriegelt. Was bei Ellery Queen oder John Dickson Carr ein klassischer Rätselkrimi geworden wäre, wird bei Emma Stonex zu einer Meditation um Verlust und den Umgang mit dem Ungewissen.


Es mutet wirklich wie ein Rätsel aus einem Kriminalroman aus dem Goldenen Zeitalter der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ein verschlossener Leuchtturm auf der Insel Maidens Rock, 28 Kilometer südlich von Land’s End gelegen. Seine Bewohner, drei Männer, ohne jedes Lebenszeichen verschwunden. Und so schießen nach dem Bekanntwerden der Umstände die Spekulationen ins Kraut. Handelt es sich um einen Mord? Wurden die drei Männer entführt? Oder ist es zu einer Tragödie auf Maidens Rock gekommen?

Es bleibt nicht mehr viel übrig vom Turm. Nur noch die Laterne. Acht Etagen durchsucht und acht Etagen leer. Also hinauf auf die Spitze, und da ist sie, die Laterne der Maiden, ein riesiger Glühstrumpf umschlossen von Linsen so zart wie Vogelschwingen.

»Das war’s. Sie sind weg.«

Am Horizont ziehen Federwolken heran. Die Brise frischt auf, ändert die Richtung, treibt weiße Kämme über die tanzenden Wellen. Es ist, als wären die Wärter nie hier gewesen. Entweder das, oder als wären sie ganz nach oben geklettert und einfach davongeflogen.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, S. 28 f.

Verschwunden aus dem Leuchtturm

Emma Stonex - Die Leuchtturmwärter

Um das zu herauszufinden, will sich ein Schriftsteller mit den drei hinterbliebenen Partnerinnen der Leuchtturmwärter treffen. Er möchte ein Buch über das Rätsel von Maiden Rock verfassen und sucht hierfür das Gespräch mit den Frauen. Doch nicht alle der drei Frauen wollen mit dem Autoren reden. Auch untereinander herrscht überwiegend Funkstille, da die Frauen ganz unterschiedliche weitere Lebenswege eingeschlagen haben. Eine neue Familie oder Einsamkeit, Verdrängung der Geschehnisse oder ruheloses Grübeln. In den Gesprächen, die wir aus Perspektive des Autors erleben, entstehen langsam drei ganz unterschiedliche Leben, die sich um die Leerstelle in ihrem Leben herum gebildet haben.

Dabei erzählt Emma Stonex abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, die durch die Nachforschungen des Reporters im Jahr 1992 aufgewühlt werden und ihre Sicht auf das Geschehen schildern. Aber auch die drei Leuchtturmwärter kommen zu Wort, die von ihrem Alltag auf dem Leuchtturm zwanzig Jahre zuvor erzählen. Man erhält Einblicke in eine Welt voller Einsamkeit, die ganz eigene Riten, Abläufe und Codes besitzt, die sich auch durch die Tätigkeit fernab der Zivilisation bedingen.

Drei Männer, drei Frauen – und ihre Perspektiven

Allmählich puzzelt Emma Stonex diese sechs Perspektiven aus den unterschiedlichen Jahren zusammen, um eine Variante anzubieten, was sich in der Silvesternacht auf Maidens Rock abgespielt haben könnte. Jeder der Wärter und jede der drei Frauen trägt ihr Scherflein zu der Entwicklung bei, die am Ende auch nur ein Erklärungsversuch bleibt, der aber keinen allgemeingültige Anspruch formuliert. Das macht das Buch so überzeugend, weil neben den Perspektiven der drei Paare und der Befragten auch Raum für Spekulationen und Schwebendes bleibt.

Das Ganze basiert dabei aber auf tatsächlichen Begebenheiten, wie schon die Anmerkung der Autorin zu Beginn des Buchs klarmacht.

Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hebriden. Sie hießen Thomas Marshall, James Ducal und Donald MacArthur. The Lamplighters wurde von diesem Ereignis inspiriert und in respektvoller Erinnerung daran geschrieben, aber es ist eine fiktionale Geschichte und hat keine Ähnlichkeit mit dem Leben und der Persönlichkeit dieser Männer.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, Anmerkung

Und auch an dieser Stelle geht Emma Stonex noch einmal auf die Hintergründe zu den Taten ein, die ihren Roman um das Verschwinden der drei Leuchtturmwärter inspirierte.

Fazit

So ist Die Leuchtturmwärter eine Studie über den Verlust im Leben und auch ein genaues Bild, was die Einsamkeit der Leuchtturmwärter belangt. Die Autorin lässt eventuelle Erwartungen eines Rätselkrimis ins Leere laufen und zeigt vielmehr Einsamkeit und Entfremdung in allen möglichen Schattierungen. Ein überraschendes Buch, das Erwartungen zuwiderläuft und wenig romantisierenden vom Alltag im Leuchtturm und dem Umgang mit Leerstellen im Leben zeigt.


  • Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter
  • Aus dem Englischen von Eva Kemper
  • ISBN 978-3-10-397037-1 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Heinrich Steinfest – Der betrunkene Berg

Buchhandlungen gibt es viele – und auch an besonderen Orten. Mal sind sie in ehemaligen Kirchen untergebracht, mal in Bahnhöfen, Theatern oder Banken. Aber eine Buchhandlungen, wie man ihr in Heinrich Steinfests neuem Roman Der betrunkene Berg begegnet, die hat man wohl so noch nicht gesehen. Denn bei Steinfest ist es die Buchhändlerin Katharina, die auf nicht weniger als 1765 Metern Höhe auf einem Berg ihre Buchhandlung betreibt mit – natürlich – alpinistischem Buchsortiment. Doch als sie einen Mann im Schnee in der Nähe ihrer Buchhandlung entdeckt, ist es mit der Ruhe vorbei.


Jedes Jahr ist es das gleiche. Die nebenan gelegene Schutzhütte geht in den Winterschlaf und nur Katharina hält alleine auf dem Berg die Stellung in ihrer Buchhandlung. Nach zwei Ehen und zwei Scheidungen und dem infolge der zweiten Scheidung erlangten Kapital hat sie vom Österreichischen Alpenverein eine Winterschutzhütte gepachtet, die sie zur Buchhandlung ausgebaut hat und die ihr Lebensmittelpunkt ist. Sogar Reinhold Messner hat schon einmal aus einem seiner alpinen Bücher dort gelesen, wenngleich es mit Laufkundschaft hier nicht weit her ist.

Besonders im Winter ist die Kundenfrequenz dort oben überschaubar, weswegen Schutzhütte und Buchhandlung schließen. Die Pächter der Hütte begeben sich ins Tal und Katharina sieht dafür im nebenangelegenen Steinhaus nach dem Rechten und nutzt die kalten Tage zwischen den Jahren für eine Inventur ihrer Buchhandlung. Lesen im Sessel, während draußen die Schneeflocken vorbeitreiben, Neusortierung der Bestände und ab und an ein Spaziergang aus dem Haus ins verschneite Freie, frei von Stress und Hektik.

Der Mann aus dem Eis

Eigentlich ein sehr beschaulicher Takt, der auch in diesem Winter wieder das Leben der Buchhändlerin bestimmen sollte. Doch bei einem ihrer Ausflüge ins Freie Ende November macht Katharina einen erstaunlichen Fund. Denn in einer Schneewehe entdeckt sie einen Mann, der nach dem Aufenthalt im Schnee ausgekühlt ist und kaum ansprechbar erscheint. Katharina beschließt, den Mann zu retten und gewährt ihm in ihrer kleinen Buchhandlung Obdach.

Heinrich Steinfest - Der betrunkene Berg (Cover)

Sie weist ihm den Lesesessel zu und pflegt den Mann wieder gesund. Dabei stellt sie fest, dass er sich weder an seinen Namen noch an seine Identität erinnern kann, geschweige denn, wie er auf den Berg ins Schneegestöber kam. Der kurzerhand auf den Namen Robert getaufte will einen Monat bei Katharina bleiben, um Kräfte zu fassen und sich zu erinnern, dann will er wieder ins Tal absteigen. Lesen, schlafen, den Erinnerungen nachspüren. So der Plan für die kommenden Tage. Doch natürlich kommt alles andere als vorhergesehen – wir sind ja schließlich auch bei Heinrich Steinfest.

Der Mann aus dem Eis erweist sich als begnadeter Skulpteur, der aus Schnee Gebilde wie das titelgebende Kunstwerk Der betrunkene Berg erschafft. Doch nicht nur seine bildenden Fähigkeiten, auch seine Kochkünste überraschen, insbesondere seine Zubereitung eines Fisolensalats. Ein Vogel wird ebenfalls in der alpinen Buchhandlung gesundgepflegt. Und dann erfolgt auf dem Berg natürlich das, was schon im Urvater aller Bergromane, nämlich in Thomas Manns Zauberberg, dem jungen Hans Castorp widerfährt. Ein Schneesturm, der Assoziationen wachruft und Erinnerungen bringt. Nur hier wird daraus nicht nur im übertragenen Sinn eine veritable Lawine, die noch eine weiteren Gast in die Buchhandlung am Berg spült.

Überbordende Erzähllust

Der betrunkene Berg ist einmal mehr ein Zeugnis für die überbordende Erzähllust von Heinrich Steinfest. So kreist sein Buch um die Frage von Erinnerung, Flucht vor Erinnerungen und von Schuld, vom Überleben und dem Erleben von Grenzsituationen. Er erzählt von Kidnapping (wobei Steinfests Heldin Lilli Steinbeck einen kleinen Cameo-Auftritt absolvieren darf), von untergehenden Fähren, von Lawinen, von bergsteigenden Pfarrern und noch mehr. Sein Buch ist eine wild sprühende Mischung aus kleinen Miniaturen und skurrilen Begebenheiten, wie sie typisch sind für Steinfests Schreiben.

Die manchmal doch etwas arg disparaten Erzählungen werden durch Steinfests ironische und manchmal leicht barocke Sprache zusammengehalten. Eine Sprache, die Steinfests österreichische Erzählherkunft irgendwo zwischen Wolf Haas und Heimito von Doderer gar nicht verhüllen will und zum Gelingen des Buchs beiträgt.

Dabei ist das wohl wichtigste Kennzeichen seines Buchs das Element der Überraschung. Weiß man bei Steinfest generell selten, woran man wirklich ist, so enttäuscht er auch mit seinem neuen Werk dahingehend nicht. Alles andere als langweilig ist das eigenwillige Personal und die Gegebenheiten, die er in Der betrunkene Berg aufbietet und so allem Erwartbaren zuwiderläuft. Denn auch ein Kammerspiel ist dieses Buch trotz seines Settings eigentlich nicht, immer wieder geschieht etwas Neues, geht es zurück in den Erinnerungen und im Bergsteigerbuch, das sie gemeinsam dort droben auf dem Berg lesen.

Fazit

Wer ein Faible für skurrile Erzähleinfälle hat und Prosa mag, die scharf an der Realität entlangschrammt, den dürfte auch Heinrich Steinfests neues Erzählabenteuer Der betrunkene Berg nicht enttäuschen. Hier treffen Vögel auf Schneeskulpteure auf Buchhändler auf untergehende Fähren auf Lawinen. Gewiss keine weltverändernde Prosa – aber unterhaltsam-überraschende allemal.


  • Heinrich Steinfest – Der betrunkene Berg
  • ISBN 978-3-492-07013-3 (Piper)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Dörte Hansen – Zur See

Mit ihren beiden bislang erschienen Romanen Altes Land und Mittagsstunde hat sich Dörte Hansen weit nach vorne in die Riege wichtiger deutscher Erzählerinnen katapultiert. Glänzend ihre Erzählweise zwischen Anspruch und Unterhaltung, mit der sie die Bestsellerlisten erklommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurden die beiden bislang erschienen Werke auch als Serie fürs Fernsehen (Altes Land) und als Verfilmung fürs Kino (Mittagsstunde) adaptiert. Nun liegt mit Zur See der dritte Roman der 1964 geborenen Autorin vor, der erwartungsgemäß aus dem Stand die Bestsellerlisten erklommen hat. Auch hier bleibt sie ihren Themen des norddeutschen Settings und der Beschreibung lebensnaher Charaktere treu. Und hat mich dennoch etwas enttäuscht.


Eine nicht näher benannte Nordseeinsel ist der Schauplatz von Dörte Hansens neuem Buch. Hier lebt die Familie Sander in dem wohl schönsten Haus der Insel, reetgedecktes Dach und Delfter Kacheln an den Wänden inklusive. Doch nicht nur der Knochenzaun, der das Haus umgibt, ist morsch. Auch die Familie im Inneren des Hauses leidet unter Auflösungserscheinungen.

So ist Jens Sander, der Ehemann von Hanne Sander und Vater der drei Kinder, schon vor längerem ausgezogen und lebt auf der kleinen Nordseeinsel Driftland als Vogelwart. Hanne hält derweil das Haus sauber und ist vor allem mit der Betreuung ihres Sohnes Ryckmer beschäftigt.

Dieser war einst Kapitän auf einem Nordseeschiff, doch seine Erfahrungen im Sturm haben ihn zum Alkoholiker gemacht, dem von seiner Mutter täglich sechs Flaschen Bier zugestanden werden, keine mehr und keine weniger. Nächtens erbricht er sich nach Exzessen schon einmal in die Rosen und unterhält an guten Tagen die Touristen, indem er die Rolle als Seemann gibt. Dabei hat er sein Kapitänspatent schon lange verloren.

Seine Schwester Eske pflegt im lokalen Altersheim die Senioren, Henrik ist als jünster ein arrivierter Künstler, der mit Treibgut Skulpturen formt, die sich die reichen Inseltouristen gerne in ihre luxuriösen Häuser stellen.

Während die Mitglieder der Familie Sander alle ihre Leben leben, kämpft der Inselpfarrer Matthias Lehmann derweil mit einer handfesten Glaubenskrise und seiner Beziehung zu seiner Frau und Töchter. Als dann ein Wal an den Strand der kleinen und so pittoresken Insel angespült wird, kommt einiges in Bewegung, auch bei Hanne und Jens.

Die Prägung der Heimat

Dörte Hansen - Zur See (Rezension)

Zur See ist ein Roman, der von der Prägung der Heimat erzählt, aber auch von den Gefahren, die ihr drohen. So ist Hansens nicht näher benanntes Eiland wohl auch mit einigen Parallelen zur Insel Sylt zu sehen, bei der die reichen Touristen und die dauerhafte touristische Ausbeutung längst alles Einheimische, Autochthone verdrängt hat und zur Kulisse werden hat lassen.

Dörte Hansen zeigt (ähnlich wie zuletzt auch Susanne Mathiessen) , wie die monetären Anreize durch die zahlungskräftigen Touristen langsam alles Einheimische Verdrängen, wie die Fischkutter und Kutschfahrten über die Insel längst zum Folklorekitsch geworden sind, die zwar ein einträgliches Auskommen bescheren, aber keinen Sinn. Sogar das letzte Inselwäldchen wurde hier verkauft – und beständig klopfen die Immobilienmakler an Hanne Sanders Tür und lassen ihren Briefkasten von Kaufangeboten überquellen.

Scharf auch ihre Blick auf die Rituale auf einer solchen Insel, etwa der Alkoholkonsum, der schon den jungen Konfirmanden eingeschrieben wird. Auch der Tourismus, der längst vom familiären Miteinander der Gästezimmer zu einer anonymen Beherbung anspruchsvoller Fremder geworden ist. Doch neben aller Kritik ist Zur See auch ein beobachtungsscharfes Buch, das dem Inselgeist nachspürt und dem, was im Verschwinden begriffen ist.

Die Kräfte der Insel

Es gibt auf einer Insel eigene Naturgesetze, eine andere Art der Schwerkraft und der Anziehung vielleicht. Gezeitenströme, die noch nicht verstanden werden. Einen unerforschten Sog, dem Heimweh ähnlicher, aber stärker.

Ein Mensch, der hier geboren ist, kehrt irgendwann zurück, lebendig oder tot, egal, wie weit er segelt und wie lange er verschwunden bleibt, so lautet ein Gesetz der Insel.

Und für die meisten gilt es noch. Nur wenn sie jung sind, wagen sie den Sprung aufs Festland. Manche bleiben dann und leben mit dem Heimweh wie mit einem Rheuma, das in Schüben kommt und geht.

Dörte Hansen – Zur See, S. 18 f.

Schade nur, dass Dörte Hansen allzu deutlich das Klischee der menschenscheuen und einsilbigen Norddeutschen auf die Spitze treiben muss. Jeder hier lebt für sich, stirbt für sich und lässt andere kaum in die Seele blicken. Die Nachbarin mit dem ausgestopften Dackel, die sich als ernährungstechnischer Messie entpuppt. Jens Sander auf seiner Vogelbeobachtungsstation. Eske Sander nacht allein im Altersheim. Hanne in ihrem viel zu großen Haus. Jens in seinem Atelier. Alle leben sie nebeneinander her, statt miteinander.

Dieser Roman kommt mir vor wie ein Schachbrett, auf dem Dörte Hansen filigran ihre Figuren aus einem Stück holz drechselt und die sorgsam ausgestalteten Figuren in Position stellt, aber nicht mit ihnen spielt, sondern sich in der Beobachtung des Spielbrett ergeht.

Die Figuren interargieren so rein gar nicht miteinander. Jeder lebt für sich, denkt und handelt alleine, niemand reagiert auf das Schicksal der anderen oder unternimmt einen Versuch der Gestaltung des eigenen oder fremden Schicksals. Das mag natürlich dem Klischee der Norddeutschen entsprechen, für einen gelungenen Roman war es mir aber deutlich zu wenig. Da kann selbst der angeschwemmte Wal nicht mehr für Abhilfe schaffen, der ebenso verloren am Strand liegt, wie es die übrigen Figuren in diesem Buch tun.

Fazit

Mit Zur See bleibt sich Dörte Hansen treu und erzählt abermals von einer Welt, die im Verschwinden inbegriffen ist. Statt auf dem norddeutschen Land ist es hier nun eben eine Insel, deren Rituale und Bewohner*innen sie höchst plastisch mit einem tollen Sprachzugriff schildert. Vom sich wandelnden Tourismus, der Kulisse und der Folklore, die man den Fremden vorgaukelt und von der Einsamkeit, die allen unglücklichen Familien auf ihre Art und Weise eingeschrieben ist, erzählt die Bestsellerautorin und wird damit viele Leser*innen wieder glücklich machen.

Und doch bleibt bei mir das Gefühl von verschenktem Potenzial, interagiert doch keine ihrer sorgsam entworfenen Figuren miteinander, leben alle für sich und und sind auf ihre Art und Weise unglücklich. Es ist ein Buch, das viel beschreibt und bei dem ich mir ein wenig mehr zwischenmenschliche Handlung gewünscht hätte, selbst wenn das dem Klischee der menschenscheuen und wortkargen Norddeutschen entsprechen mag.


  • Dörte Hansen – Zur See
  • ISBN 978-3-328-60222-4 (Penguin)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €

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