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Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund

Wenn der Regenwald ruft… Veronica Lando nimmt uns in ihrem Debüt Der flüsternde Abgrund mit nach Granite Creek, einem kleinen Dorf im australischen Regenwald. Hier ist ein Junge verschwunden – und das nicht zum ersten Mal. Der Regenwald habe ihn wie viele Menschen zuvor in seine Fänge gelockt, heißt es. Der Journalist Callum Haffenden mag das nicht glauben und steht bei seiner Suche nach dem Verschwundenen schon bald vor der Frage, welche Abgründe hier gefährlicher sind – die des Waldes oder die der Menschen?


Für Menschen wie ihn ist der australische Regenwald nicht gemacht. Das muss der preisgekrönte Journalist Callum Haffenden schnell feststellen, als er wieder in seine Heimat nach Granite Creek zurückkehrt. Der Anlass ist ein bestürzender. Denn wie schon einige Male zuvor ist erneut ein Junge im Regenwald verschwunden. Man munkelt von der Legende des flüsternden Waldes, der die Menschen zu sich lockt und sie dann im steinernen Abgrund seiner Felsen zerschellen zu lassen. Kinder wappnen sich mit klingelnden Armbändern, um der Versuchung des Waldes zu widerstehen. Und auch Callum spürt die Anziehung des Waldes, als er sich der Suche nach dem verschwundenen Jungen anschließt.

Dabei sind dauerbeschlagene Brillengläser noch das kleinste Hindernis. Undurchdringliche Fauna, mörderische Kasuare, giftige Pflanzen – und dann auch noch das lockende Felsenmeer, das immer wieder zu rufen scheint, wenn der Wind günstig steht. Sie alle erschweren Callum und den Freiwilligen die Suche. Die wahren Motive Callums, die ihn für die Suche die lange und sehr beschwerliche Reise aus dem tasmanischen Hobart antreten lassen, enthüllt Veronica Lando allerdings erst langsam.

Verschwunden in Granite Creek

Veronica Lando - Der flüsternde Abgrund (Cover)

Vor Ort versucht Callum Licht ins Dunkel zu bringen. Warum war der Junge im Wald campen, wo doch ein Hurrikan aufzieht und Dauerregen und die menschenfeindliche Umgebung des Regenwaldes doch eigentlich keinen Grund für einen längeren Aufenthalt im Freien liefern? Hat eventuell Callums alter Feind, der Vater des Jungen seine Hände im Spiel? Als dann auch noch in Callums Hotelzimmer eingebrochen wird, mehren sich die Zeichen, dass jemand überhaupt nicht daran gelegen ist, dass die Wahrheit über den Jungen und die Geheimnisse von Granite Creek ans Tageslicht gelangen.

Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando ist ein Krimi, der für ein Debüt einen hohen Formwillen an den Tag legt (dem die Autorin literarisch tatsächlich auch entsprechen kann). So ergänzt sie die Handlung um Callums Suche nach der Wahrheit mit Rückblenden, die aus Ich-Perspektive Geschehnisse vor dreißig Jahren erzählen. Diese Rückblenden verschmelzen langsam mit der Gegenwart, ehe alles in einem sturmumtosten Showdown kulminiert, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig überlagern.

Während sie Callums Sicht auf den verschwundenen Jungen Stück für Stück dekonstruiert, indem immer mehr dunkle Flecken auf seiner in eigentlich so reinen Weste auftauchen drängen dazu gegenläufig immer mehr familiäre Geheimnisse und Wahrheiten in Granite Creek ans Tageslicht. Das ist alles wohldosiert und aufeinander abgestimmt. Mehrere, gut eingearbeitete Wendungen halten die Spannung hoch und lassen mit Callum miträtseln.

Vermisstensuche, Nature Writing und Familiengeheimnisse

Mit der Figur des ornithologisch begeisterten Callum bringt Lando zudem eine gehörige Prise Nature Writing ins Buch, ist die Natur des australischen Regenwaldes doch neben Callum der zweite große Hauptdarsteller. Von Säulengärtnern bis zur Flecken-Rußeule gibt es jede Menge Vögel zu entdecken, mit der man auch gut in Elizabeth Hargreaves‘ Spiel Flügelschlag punkten könnte.

Diese Verschmelzung von Natur, Suche nach einem vermissten, dörflichen Legenden und familiären Geheimnissen erinnert in dieser Kombination etwas an ihren australischen Landsmann Kyle Perry. Mit dessen Debüt Die Stille des Bösen ist dieses Debüt ebenbürtig (was deutlich für beide Autor*innen aus Down Under spricht und wieder einmal kriminalliterarisch deutlich das übertrifft, was sich hierzulande so auf den Bestsellerlisten tummelt).

So gelingt Herausgeber Thomas Wörtche hier erneut eine tolle Entdeckung für das von ihm kuratierte Krimiprogramm bei Suhrkamp. Hier ist eine kriminalliterarische Stimme aus Australien zu lesen, deren reifes und souverän gestaltetes Krimidebüt auf weitere Werke diesen Kalibers hoffen lässt.

Von dem Flüstern dieses Buchs kann man sich gerne in die Seiten hineinlocken lassen – man wird es im Gegensatz zu einigen Figuren im Buch nicht bereuen!


  • Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund
  • Aus dem australischen Englisch von Karen Witthhun
  • ISBN 978-3-518-47366-5 (Suhrkamp)
  • 370 Seiten. Preis: 18,00 €
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Thilo Krause – Elbwärts

Von der Heimkehr in die ostdeutsche Provinz, von der schwierigen Vaterrolle und von einer bedrohlichen Flut: Thilo Krause in Elbwärts über die späte Aufarbeitung der eigenen Kindheit.


Der Rückzug in die ostdeutsche Provinz als Handlungsort für die Aufarbeitung der eigenen Kindheit – er hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Konjunktur. Neben ellenlangen Titeln ist diesen Büchern eine recht ähnliche thematische Gemengelage zueigen. Medial breit (und etwas am Thema vorbei) besprochen wurde zuletzt Lukas Rietzschels Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen. Auch Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß wäre in dieser Reihe zu nennen, das 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Und nun legt der in Zürich lebende Lyriker Thilo Krause einen weiteren Roman vor, der sich nahtlos in das Strickmuster der obigen Romane einpasst. Zwei Freunde, die in der ostdeutschen Provinz (hier in der Sächsischen Schweiz) aufgewachsen sind. Eine schleichende Entfremdung, ein Wegzug des erzählenden Protagonisten. Nun eine Rückkehr an den Ort der Kindheit. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte, das Offenlegen der Brüche in der eigenen Biografie und der Versuch der Ergründung, was da so alles schiefgelaufen ist. Im eigenen Leben, in dem der Freunde und vor Ort, wo meist die Themen Landflucht, der Niedergang der Wirtschaft und das Erstarken von Neonazis dominieren.

Diesen Musters bedient sich auch Elbwärts. Dabei ist Krauses Erzähler einer, der in der erzählten Gegenwart für mich merkwürdig schwammig bleibt. Er hat zusammen mit seiner Frau Christina und „Der Kleinen“ ein altes Haus in seinem Heimatort bezogen. Im Garten rauschen die Obstbäume, drunten im Dorf die Elbe. Einen Job hat er keinen, vielmehr streift er barfuß durchs Dorf und die umliegenden Wälder. Seine Frau renkt die Knochen und Wirbel der Dorfbewohner ein, er bringt die gemeinsame Tochter in den Kindergarten. Trotz des beschaulichen Aufgabenumfangs ist er dieser Aufgabe allerdings nicht gewachsen. Er vergisst die Tochter im Kindergarten, während er die Wälder und Gesteinsformationen durchstreift und beklettert. Immer wieder imaginiert er sich bei diesen weltvergessenen Ausflügen zurück in seine Kindheit.

Erinnerungen an eine Kindheit in der Sächsischen Schweiz

Von dieser erzählt Krause mithilfe von Rückblenden. Von Vito, seinem besten Freund damals, mit dem er die Berge der Sächsischen Schweiz erklomm. Mit dem er sich die Zeit bei den Pionieren vertrieb oder Kaulquappen aus dem örtlichen Teich rettete. Und davon, wie Vito sein Bein verlor. Wie dieser blieb. Und wie sich der Erzähler davonmachte, weg von diesem Ort, der mit so vielen Erinnerungen versehen ist.

Thilo Krause - Elbwärts (Cover)

Nun ist er wieder da. Entzweigerissen vom Wunsch nach Kontakt mit Vito und der Angst genau davor. Er durchwandert die Wälder, philosophiert mit dem tschechischen Busfahrer und versteckt sich vor den Neonazis, die in den Wäldern ihre Lager abhalten. Während er in der Natur wie in seinem Element scheint, entgleitet ihm sein Familienleben aber zusehends. Und dann ist da auch noch die Elbe, die anschwillt und nicht nur viel Wasser mit sich führt, sondern auch die Verhältnisse vor Ort durcheinanderwirbelt.

Elbwärts ist im Kern ein nostalgisches Buch, das noch einmal die Gefährlichkeit einer Kindheit in der Provinz heraufbeschwört. Damals, als man ganze Nachmittage nur mit seinem besten Freund Abenteuer erlebte. Als die Eltern nicht wussten, wo man sich herumtrieb und in welche Gefahren man sich begab. Und demgegenübergestellt die Frage nach Vaterschaft heute.

Dabei arbeitet Krause die ganzen Paradoxien im Wesen des Erzählers (und damit in fast aller unser Wesen heraus). Früher durchlebte man diese Abenteuer, setzte sich und anderen beim Spielen großer Gefahren aus und berauschte sich daran. Eine solche Gefahr würde man seinen eigenen Kindern heute freilich verbieten. Auch der Erzähler würde es kaum zulassen, dass sich seine Tochter jemals in eine solche Lage brächte, wie er es tat.

Im Gegenteil, er überbehütet sein Kind fast, nimmt es extra aus der Kindergartengruppe heraus, um mit ihm zu Mittag zu essen. Dann aber wieder vergisst er die Schließzeiten der Kita, schläft beim Klettern ein. Eine widersprüchliche Figur, schwankend irgendwo zwischen Nostalgie, dem Wunsch nach Versöhnung und einer Depression. Die Frage nach Vaterschaft verhandelt Elbwärts auf interessante (und manchmal anstrengend) Art und Weise.

Bildstarke Prosa von Thilo Krause

Gesellschaftlich ist Elbwärts wohl wenig relevant beziehungsweise kann außer den eingangs bereits abgesteckten Themenfelder wenig Neues erzählen. Für die Situation vor Ort interessiert sich der Erzähler nicht wirklich. Er versteht auch die Bewohner vor Ort nicht und umgekehrt. Das gesellschaftliche Setting ist hier einfach gesetzt (und schon vorher ähnlich behandelt worden). Vom Land und von der Zeit erzählt Elbwärts in meinen Augen weniger, wenngleich das der Klappentext suggeriert.

Malerisches Vorbild: Caspar David Friedrich

In der Zeichnung der widersprüchlichen Figur des Erzählers hingegen ist Krause stark, genauso wie in puncto Sprache, in die das Buch gekleidet ist. So ist sein Erzählton von lokaler Verbundenheit geprägt (häufig etwa das regionale Verb krauchen). Seine Sätze sind zumeist kurz und präzise. Die voherigen lyrischen Veröffentlichungen merkt man dieser Prosa an. Seine Schilderungen der Felslandschaft und der darin erlebten Abenteuer lesen sich (unterstützt durch das tolle Cover) bildstark. Nicht zuletzt erzeugt das Krause auch dadurch, dass er das Kopfkino dadurch anwirft, indem er selbst auf die Romantik und Maler rekurriert, die ähnliche Beschreibungen wie er selbst schufen, allen voran Caspar David Friedrich.

Sprachlich ordne ich Elbwärts klar vor den Werken Rietzschels und Präkels ein. Und auch in Belang auf Vaterschaft, Nostalgie und Sehnsucht ist Krauses Buch in meinen Augen interessant. Für mich funktioniert die (wahrscheinlich bald wieder einsetzende) mediale Überformung dieses Romans hin zu einem Erklärbuch der ostdeutschen Zustände nicht. Was aber die sonstigen Aspekte des Werks angeht, ist das hier wirklich gut gemacht und hat mich überzeugt.


  • Thilo Krause – Elbwärts
  • ISBN 978-3-446-26755-8 (Hanser)
  • 208 Seiten, Preis: 22,00 €
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