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Tommie Goerz – Im Schnee

Beklagte ich mich noch vor einigen Monaten über die mangelnde Abbildung Frankens in der Literatur beziehungsweise die dürftigen Ergebnisse literarischer Repräsentation dieses Landstrichs, so kommt mit dem gebürtigen Erlanger Tommie Goerz nun ein Autor daher, der diese Worte Lügen straft. In Im Schnee setzt er dem verschwindenden Dorfleben zwischen Nürnberg und Marktredwitz ein Denkmal und erzählt angenehm ambivalent vom Leben und Sterben. Ein Buch mit Relevanz, weit über Franken hinaus.


Weißt du, wir sind hier auf einem Dorf. Und in einem Dorf hat es Regeln.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 146

Wirklich viel ist nicht mehr los im Dorf, das Tommie Goerz in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Dort das Neubaugebiet mit seinen anonymen Einfamilienhäusern und Bewohnern, die man im alten Kern des Dorfs kaum zu Gesicht bekommt. Da die alten Bauernhäuser, die teils leerstehen oder nur noch von einzelnen Alten bewohnt werden, deren festgetretene Wege nicht aus dem Dorf herausführen und allerhöchstens im letzten Gasthaus am Ort enden, wo sie auf ein Bier und die Beschau der Vergangenheit zusammensitzen.

Der Pfarrer muss mehrere Gemeinden versorgen, der Wirt sperrt nur noch an einzelnen Tagen seine Gaststube auf und die Bahn hält gerade einmal in der Stunde am Gleis des Dorfs, irgendwo im Nirgendwo zwischen Mittel- und Oberfranken. Will man hier länger bleiben?

Weit mehr als nur ein Dorfroman

Max ist einer, der geblieben ist. Goerz‘ Held hat sein ganzes Leben dort im Dorf verbracht und die unsichtbaren Regeln des Dorfs längst verinnerlicht. Wie diese Regeln aussehen sind und was das namenlose Dorf (noch) am Leben hält, das untersucht Tommie Goerz im Lauf seines Romans genau. Denn Im Schnee ist nicht nur ein Dorfroman, er ist weit mehr als das, ist das Buch mit seiner Hauptfigur Max ist auch das eindringliche Porträt eines Mannes, der ebenso wie die Welt um ihn herum langsam ihrem Ende zugeht.

Der Uhu hatte drüben am Seuberthshof gewohnt, jahrelang, hat da gebrütet unterm Dach der alten Scheine. Wenn der nachts die Hauptstraße entlangflog, dieser fast unglaublich große Vogel, noch leiser als ein Lufthauch, mit seinen riesigen Flügeln … und wie der kurven konnte! … das ergriff noch heute sein Herz, wenn er daran dachte. Aber dann hattten sie die Scheune abgerisssen und den gesamten Hof mit dazu, und seitdem war der Uhu weg. Er ist nie wiedergekommen.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 132 f.

Nicht nur der Uhu ist verschwunden, auch Max‘ Lebenswelt ist schon lange eher Vergehen denn Werden. So sterben um ihn herum langsam seine Weggefährten aus. Jüngst ist sein bester Freund Schorsch von ihm gegangen. Ein einschneidendes Erlebnis, das Goerz‘ Roman in Gang setzt.

Erinnerungen an ihre besondere Freundschaft, das tiefe gegenseitige Verständnis und gemachte Erfahrungen ziehen noch einmal an Max vorbei, während dieser Totenwache hält- auch das eine dieser verschwundenen Tradition, die Goerz hier noch einmal in Erinnerung ruft. Zunächst die Männer, dann die Frauen kommen im Haus des Verstorbenen zusammen, um ihm zu gedenken und gemeinschaftlich seine letzte Reise vorzubereiten.

Erinnerungen an Tote und eine Welt, die verschwindet

Tommie Goerz - Im Schnee (Cover)

Während das Dorf nun also im Schnee versinkt und sich eine nächtliche Stille und Ruhe über die verbliebenen alten Häuser breitet, wird der Verstorbene und das Dorfleben in den kollektiven Erinnerungen noch einmal lebendig. Tommie Goerz vermeidet in seinen Schilderung dieses Kulturguts und den Erinnerungsbögen den Fehler, hierbei zu Nostalgie oder Dorfkitsch zu neigen.

Im Schnee ist vielmehr ein angenehm vielstimmiger und ambivalenter Blick auf dieses Dorf, das Gemeinschaft bedeuten konnte, ebenso aber auch Fremden gegenüber ablehnend und feindlich sein konnte, bis hin zu einer dörflichen Variante der Omerta, als man lieber das leerstehende Pfarrhaus zerstörte, denn die Möglichkeit der Unterbringung von Geflüchteten zuzulassen.

Es sind universelle Schilderungen und Beobachtungen, die Goer‘ Erzählen ausmachen und die das Buch nicht nur im dörflichen Franken, sondern auch in vielen anderen Landstrichen der Bundesrepublik mit ähnlicher Struktur anschlussfähig machen dürften.

Menschen, die gehen, Lebensweisen und Kulturen, denen keine wirkliche Zukunft mehr beschieden ist, ländliche Räume, die neu aufgeteilt und überschrieben werden, Tradition, die verschwindet. Das ist die Welt, in der Im Schnee spielt und die jene Schwelle vom Übergang der althergebrachten Lebensweise hin zu einer neuen Orientierung der Menschen und Generationen besieht. Und das tut Tommie Goerz angenehm differenziert und klar, ohne einfache Antworten zu geben.

Fazit

Ähnlich wie Robert Seethaler in Das Feld ist auch Im Schnee die Heraufbeschwörung einer Welt, die es so schon fast nicht mehr gibt und die dem Untergang geweiht ist. Still und gerade deswegen so eindringlich nutzt Goerz den engen erzählerischen Rahmen, um eine ganze Walt dort hineinzupacken. Mit Max steht zudem ein ähnlich stiller und tiefgründiger Charakter im Mittelpunkt, dessen Geschichte stellvertretend für die sterbende Welt steht und dessen Weg man gerne ein Stück geht – auch über das Ende der Lektüre hinaus.


  • Tommie Goerz – Im Schnee
  • ISBN 978-3-492-07348-6 (Piper)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Daniela Krien – Mein drittes Leben

Wie weiterleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Daniela Krien erkundet es in ihrem Roman Mein drittes Leben einfühlsam und erzählt von Trauer und von der Schwere, einen Neuanfang zu wagen.


Den Entschluss seiner Frau zu einem Umzug kann Richard überhaupt nicht nachvollziehen. Ein ödes Dorf mitten im Nirgendwo der Leipziger Peripherie hat sie sich ausgesucht, um dort einen heruntergekommenen Hof zu bewohnen. Außer der Durchgangsstraße mit rauschendem Durchgangsverkehr gibt es dort nichts, was irgendwie von Aufbruch oder Vorankommen zeugt. Dort möchte man nicht begraben sein, wie Lindas Mann Richard bei der ersten Fahrt durch diese reizlose Ansammlung von Häusern bemerkte. Und auch Linda muss ihm beipflichten – und doch wohnt sie nun dort.

Den Grund für den Um- oder besser Rückzug erläutert Daniela Krien in kleinen Erinnerungsfetzen, die immer wieder den neuen Alltag von Linda durchschießen. Denn ihre Tochter Linda ist gestorben, als sie auf ihrem Rad von einem abbiegenden Laster im Leipziger Straßenverkehr übersehen wurde. Diese Tragödie verwinden Linda und ihr Mann auf unterschiedliche Art und Weise. Denn während für ihn das Leben irgendwie weitergeht, er als Künstler um seinen Ausdruck kämpft, lautet Lindas Antwort auf den Verlust – Rückzug.

Rückzug ins Durchgangsdorf

Daniela Krien - Mein drittes Leben (Cover)

Ihre Stelle in einer Kunststiftung gibt sie auf, sie zieht von zuhause aus, sucht im Durchgangsdorf einen Rückzug, um zu trauern und ihren restlichen Lebensmut gleich mitzubegraben. Doch damit wäre Mein drittes Leben ein reichlich kurzes Buch geworden – und auch das titelgebende Leben nach dem Verlust ihres Kindes und der Distanz zu ihrem Mann hätte nicht stattgefunden.

Doch beobachtet Daniela Krien im folgenden, durch die Ich-Perspektive erzählerisch ganz nah dran an ihrer Protagonistin, wie sie sich zunächst im Dorf einen neuen Alltag und neue Kontakte erschließt – und später auch in Leipzig wieder neu Fuß fasst und so vorsichtig ein neues Leben beginnt, das nicht nur Weiterleben ist.

Mein drittes Leben besticht durch seine genaue Auslotung der Seelenzustände und Verheerungen nach der tödlichen Nachricht des Todes eines eigenen Kindes. Ein Umstand, für den die deutsche Sprache gar kein Wort vorsieht, so wenig dieser Fall eigentlich eintreten soll. Und doch ist es für Linda und ihren Mann so. Wie wenig man darüber kommunizieren kann, wie eine solche Nachricht zum Auseinanderbrechen zwischen zwei Partnern führen kann, das beschreibt Krien eindrücklich.

Ein Neuanfang nach dem Ende

Ihre Sprache dabei ist nicht sentimental, sondern sehr präzise und fasst die Erkundungen der Seelenlandschaft in eine klare Prosa.

Ich blicke aus dem Fenster auf einen zur Hälfte gepflasterten, zur anderen Hälfte mit Rasen bewachsenen Hinterhof, der begrenzt wird von einer mit Efeu überwucherten Sichtschutzwand. Das alte Konzept meines Lebens habe ich endgültig aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht, mehr muss es auch nicht sein.

Daniela Krien – Mein drittes Leben, S. 169

Ähnlich wie in diesem Jahr auch Adriano Sack oder Franziska Gänsler hat Daniela Krien ein Buch geschrieben, das der Trauer Raum gibt und das seiner Protagonistin beim Verarbeiten des Verlusts und dem Austesten verschiedener Pfade hin zu einem neuem Stück Lebensweg zusieht. Von Trauer und Schmerz durchsetzt ist der Winter ein starkes Bild, der im Roman nicht nur in Form eines nun anders gefeierten Weihnachtsfestes oder Schuberts Winterreise auftaucht, sondern auch immer wieder ganz konkret auf die Innenwelten Lindas bezogen wird.

Die Sehnsucht nach Sommer ist mir abhandengekommen. Mein innerer Winter lässt sich nicht mit der Leichtigkeit der hellen, warmen Tage in Einklang bringen.

Daniela Krien – Mein drittes Leben. S. 118 f.

Und doch bleibt es auch bei Linda nicht bei einem ewigen Winter. Symbolhaft ist der Garten, in dessen Bewirtschaftung sie einen neuen Lebenssinn findet und der mit seinem Vergehen und Werden auch nach dem scheinbaren Tod im Winter immer wieder die Kraft für einen Wiederbeginn im Frühling findet.

Fazit

Mein drittes Leben zeigt, wie schwer dieser Weg ist – aber dass es ihn gibt, wie verzweifelt und nachtschwarz das Leben auch in Phasen sein mag. Dass das Ganze über Kalendersprüche und banale Binsen hinausgeht, das ist der Verdienst von Daniela Krien, den sie mit diesem Buch leistet. Mit einer stimmigen Dreiklang aus Inhalt, Form und Sprache reiht sich das Buch ein in die Riege bereits genannter Seelenerkundungen, dessen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 durchaus gerechtfertigt ist.


  • Daniela Krien – Mein drittes Leben
  • Artikelnummer 175851 (Buechergilde)
  • 296 Seiten. Preis: 24,00 €
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Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wirde der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße des Wolfszahn geheißenen Bergs liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer

Wieder einmal erweist sich der Dumont-Verlag als Hort von wunderbar ausgewogener Unterhaltung zwischen Herz und Hirn, Emotionen und Handlung. Neu im Portfolio ist die Irin Roisin Maguire, die sich mit ihrem Roman Mitternachtsschwimmer auf das Passendste in das Oeuvre des Verlags einfügt. In ihrem Debüt nimmt sie die Leser*innen mit in ein kleines, pittoreskes Küstendorf an der irischen Küste – und lässt einen Mann Erlebtes verarbeiten und nebenbei auch noch Corona über die Welt hereinbrechen.


Mariana Leky, J. L. Carr, Caroline Wahl oder jüngst Ronan Hession (dessen Buch Leonard und Paul zwar strenggenommen nicht von Dumont, sondern vom Dumont-Mitarbeiter Torsten Woywod und seiner Partnerin Frauke Meurer verlegt wurde, nun aber auch in der Taschenbuchlizenz bei Woywods Arbeitgeber vorliegt). Immer wieder stellt der Verlag sein Talent in Sachen Unterhaltungsliteratur unter Beweis, die Kopf und Gefühl anspricht – und viele Leser*innen erreicht.

Doch nicht nur die Leserinnen und Leser überzeugt der Verlag mit dieser Art von Feelgood-Literatur – auch ist der Dumont-Verlag Dauergast bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels. In dieser Wahl küren Buchhändler und Buchhändlerinnen ihre Lieblingsbücher des aktuellen Jahrgangs zu einer Liste, aus der dann der Siegertitel bestimmt wird. Sämtliche eingangs zitierte Autor*innen fanden sich auf der Nominierungsliste dieses Preises, einige gewannen ihn im Anschluss auch, wie beispielsweise Caroline Wahl im vergangenen Jahr.

Dieser Roman atmet Menschlichkeit

Roisin Maguire - Mitternachtsschwimmer (Cover)

Mit Mitternachtsschwimmer fügt Dumont dieser Riege an gelungener Unterhaltungsliteratur ein weiteres Werk hinzu. Es sollte dabei nicht verwundern, wenn auch Roisin Maguire mit ihrem Debüt in diesem Jahr den Sprung auf die Auswahlliste zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels schafft. Denn ihr Roman punktet mit seiner Geschichte, den ebenso kantigen wie warmherzigen Figuren und der Menschlichkeit, die ihr Debüt auf allen Seiten atmet. In Zeiten von verhärteten Fronten, dogmatisch ausgefochtenen Streits und allgemeiner Dünnhäutigkeit der Menschen ist das eine Wohltat.

Die Geschichte ist des Romans ist schnell erzählt. Evan mietet sich nach einer längeren Phase der Entfremdung von seiner Frau in einem kleinen Cottage in Ballybrady ein. Das an der irischen Küste gelegene Dorf enthält dabei eigentlich alles, was man sich so unter einem irischen Dorf vorstellt. Einen Pub, eine Steilküste mit dem dagegen anbrandenden Ozean, grüne Wiesen und jede Menge skurriler Einwohner*innen. Besonders Grace sticht unter den Originalen hervor. Sie ist die Besitzerin des Cottages, das Evan gemietet hat.

Eigenbrötler, Mitternachtsschwimmer, Whiskeytrinker

Neben dem Quilten ist vor allem das Schwimmen im eiskalten Meer ihr Hobby. Eigenwillig und unabhängig ist sie oftmals Ziel der Pub-Lästereien, bei der Evan auch einer der Einwohner von Ballybrady seine Meinung zur eigenbrötlerischen Frau mitteilt:

„Ach. Sie meinen Grace. Sie heißt Grace Kielty. Wohnt allein, da um die Ecke hinter dem Haus, außerhalb vom Dorf. Mag keine Menschen, wie gesagt. Läuft mit den seltsamsten Klamotten rum, sieht aus wie eine Bettlerin, obwohl sie wohl kaum am Hungertuch nagt. Sucht Aufmerksamkeit, würde ich sagen“.

Sowohl Grace als auch Evan haben Verletzungen erlitten und öffnen sich langsam ihrem Gegenüber. Während der Trinkerchor im Pub alles mit Argusaugen beobachtet und mit whiskeyschwerer, aber doch spitzer Zunge kommentiert, helfen sich die beiden Figuren, lernen sich kennen und es entsteht Raum für Situationskomik, der von Roisin Maguire auf den Punkt geschildert wird. Ihre Figuren haben Ecken und Kanten, mögen Hoffnungen aufgegeben haben – ihre Mitmenschlichkeit haben sie aber allesamt nicht verloren.

Auch ist Corona, deren Ausbruch auch das Sozialleben im kleinen irischen Dorf limitiert, hier nicht erdrückend oder mit schwerer Bedeutung aufgeladen. Vielmehr integriert Maguire das Weltgeschehen hier elegant, konzentriert sich aber ganz auf das Seelenleben ihrer Held*innen und fängt nebenbei die Stimmung rund um Ballybrady vortrefflich ist. Roisin Maguires Buch lesen, ist wie einen gut gemachte englische (beziehungsweise natürlich eher irische) Dramödie im Kopf zu schauen.

Fazit

Mitternachtsschwimmer ist ein Buch, das das Herz mindestens so erwärmt wie ein Schluck Whiskey nach den Bädern im eiskalten irischen Meer, wie sie Grace und später auch Evan nehmen.

Roisin Maguire ist ein Buch gelungen, dem eine möglichst große Leserschaft zu wünschen ist. Das Leichte ist ja oftmals die schwerste Kunst. Die in Nordirland lebende Autorin beherrscht in ihrem Debüt diese Kunst schon ganz vorzüglich.

Mitternachtsschwimmer dürfte nicht nur als ein Lieblingsbuch des Buchhandels Erfolge feiern, sondern auch jede Menge Leserinnen und Leser für sich einnehmen. Angesichts der Aufmachung, dem herausgebenden Verlag, der sicheren Übersetzung durch Andrea O’Brien und dem überzeugenden Inhalt voller Komik, Empathie und raubeiniger Figuren hege ich daran aber keinerlei Zweifel!


  • Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8321-6829-2 (Dumont)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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