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Neige Sinno – Trauriger Tiger

Radikale Umdenkung und Beschreibung der Konsequenzen von jahrelangem Missbrauch und Vergewaltigung: in ihrem Memoir Trauriger Tiger taucht Neige Sinno ganz tief ein in die Erfahrungen und Gedanken, die sie nach sexuellem Missbrauch im Kindesalter begleiten. Das ist alles andere als leichte Lektüre – dafür aber kompromisslos und bestechend detailscharf.


Es ist schwer zu verdauende Kost, die uns Neige Sinno in der Übersetzung von Michaela Meßner präsentiert. Denn der von der Erzählerin Neige Sinno selbst als Memoir bezeichnete Text geht an die Nieren, kreist er doch um das Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs, den die Erzählerin erleiden musste.

Im Alter von sechs Jahren trat der damals vierundzwanzigjährige Mann ins Leben der Erzählerin, der sie über Jahre hinweg missbrauchen sollte. Als neuer Partner an der Seite ihrer Mutter verging sich Sinnos Peiniger immer wieder an ihr, teils sogar während ihre Geschwister nebenan schliefen. Als sie sich ihrer Mutter anvertraute, hatte dies allerdings noch keine sofortigen Konsequenzen. Ein Jahr brauchte diese, um sich von ihrem Partner zu trennen.

Mit dem Abstand vieler Jahre und nun selbst Mutter betrachtet Neige Sinno ihre Erfahrungen während und nach dem Missbrauch, den sie nach ihrem Martyrium zur Anklage brachte. Weniger ein konsistenter Text denn ein schriftlicher Verarbeitungsprozess ist das, was uns da auf 300 Seiten erwartet

Radikaler Blick auf erlebten sexuellen Missbrauch

Radikal blickt Sinno auf die Erfahrungen und die Umstände, die es ermöglichten, dass sich der Missbrauch über Jahre hinzog und welchen Preis die Verarbeitung dieser Erfahrungen ihr abverlangte. Von ihrer eigenen Mutter, der sie sich nicht unmittelbar anvertrauen kann bis hin zum Dorf, das sie nach den Enthüllungen und dem Prozess meidet. Der Stiefvater, der in einem Prozess schuldig gesprochen wird, später aber wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird, rasch eine neue Partnerin findet und mit dieser wieder eine neue Familie gründet. Die ganze Unglaublichkeit ihrer Geschichte, die seelischen Naben und Erfahrungen werden vor uns ausgebreitet, wobei Sinnos Text Gedanken und Reflektionen, Lyrik und Prosa sowie Zeitungstexte miteinander zu einem Textgewebe verdichtet.

Die Folgen der Vergewaltigungen gehen also weit über den klar umrissenen Bereich der Sexualität hinaus, sie wirken sich auf alles aus, von der Fähigkeit zu atmen bis hin zu der, andere Menschen anzusprechen, zu essen, sich zu waschen, sich Bilder anzuschauen, zu zeichnen, zu reden oder zu schweigen, in seinem Körper und seinem Leben zu Hause zu sein, sich imstande zu fühlen, einfach da zu sein.

Neige Sinno – Trauriger Tiger, S. 180

Sinno hinterfragt Allgemeinplätze wie etwa die Binse des seelischen Schadens, von dem sich Vergewaltigungsopfer nie wieder erholen. In ihren Gedanken spürt sie all dem nach und blickt mit ihren Erfahrungen auf den Umgang mit Missbrauch und den Konsequenzen, die das Erlebte für sie hatte. Besonders macht diesen Text die Radikalität, mit der sie den Missbrauch ebenso wie ihre eigenen Gedanken und Eindrücke schildert. Wie mit dem eigenen Kind umgehen, wenn im Kopf immer noch die Erfahrungen des erlebten Missbrauchs vorhanden sind – und wie kann man überhaupt Nabokovs Lolita lesen, wenn stets das Erlebten in einem arbeitet?

Ein dichtes Gedanken- und Referenzgewebe

Neige Sinno - Trauriger Tiger (Cover)

All das umkreist Trauriger Tiger, der dabei mit zitierter Lyrik, Chansons, Studien und anderen Romanen ein dichtes Netz an intertextuellen Bezügen webt. Das reicht vom schon erwähnten Werk Vladimir Nabokovs bis hin zu Annie Ernaux oder Virginia Woolf, die ebenfalls von ihren eigenen Brüdern vergewaltigt wurde. Auch eher in Frankreich bekannte Namen wie Johnny Halliday, Philosophen wie Gilles Deleuze oder die Autorin Margaux Fragoso liefern Denkansätze und Gedanken für Sinno, die sie umkreist.

Vor allem die letztgenannte Autorin ist ein starker Bezugspunkt für Sinno, da diese in ihrem Roman Tiger, Tiger ebenfalls den sexuellen Missbrauch verarbeitete, den sie über zehn Jahre als Kind erleiden musste. Ihr Buchtitel war eine Referenz an William Blakes Gedicht über den Tiger und dessen Ambiguität – und liefert nun auch Sinno Inspiration für den Titel ihres Werks. All diese Quellen und Referenzen finden Eingang in Trauriger Tiger und werden im umfangreichen Quellenverzeichnis akribisch auflistet.

Liest man Sinnos Text in diesen Tagen, dann gewinnt Trauriger Tiger über seine ihm innewohnenden Qualitäten hinaus noch einmal eine ganz besondere Dringlichkeit. Denn Sinnos Schilderungen ihrer Erfahrung und der juristischen Aufarbeitung des Erlebten im Prozess kann man eigentlich gar nicht lesen, ohne an den aktuell in Avignon stattfindenden Prozess um Gisèle Pelicot zu denken.

Eine ganz eigene Dringlichkeit in diesen Tagen

Diese setzt sich vor Gericht gegen ihren Ex-Mann zur Wehr, der sie regelmäßig mit Medikamenten betäubte, sich an ihr verging und seine wehrlose Frau auch einer ganzen Gruppe anderer Männer zur Verfügung stellt, die sich an ihr vergingen.

Der Fall hat einen öffentlichen Aufschrei und viel Aufmerksamkeit für das Schicksal Pelicots erzeugt, das aber beileibe kein Einzelschicksal ist. Denn im europäischen Vergleich liegt Frankreich nach Schweden auf Platz zwei, was sexuellen Missbrauch von Frauen anbelangt. Auf 100.000 Einwohner*innen kommen fast hundert zur Anzeige gebrachte Vergewaltigungen. Und das sind nur die erfassten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein.

Denn solcher Missbrauch wird selten zur Anzeige gebracht, da er sich am häufigsten unter einander bekannten, wenn nicht gar unter Familienmitgliedern abspielt, wie auch Pelicots Martyrium oder Sinnos Beschreibungen in ihrem Buch zeigen.

Der Mut zum Gang an die Öffentlichkeit und das Bekenntnis des erfahrenen Leids coram publico kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es sind Frauen wie Gisèle Pelicot oder im vorliegenden Fall Neige Sinno, die mit ihrem Umgang mit erfahrenem Martyrium für die Öffentlichkeit sorgen, die die Grundlagen für Debatten und hoffentlich auch Veränderungen bildet. Es sind kraftvolle Schläge gegen eine Mauer aus Schweigen, gesellschaftliche Ignoranz, Verständnis für Täter und Schuldzuweisungen an die Opfer, die sie mit ihrem Tun ausführen.

Ein literarischer Überraschungserfolg

Dass diese Schläge Erfolge zeitigen, das beweist nicht nur der Sturm der Entrüstung, der sich nach dem Beginn des Prozesses in Avignon weltweit regte. Auch Neige Sinno ist der Beweis, dass der Mut Einzelner große Wirkungen erzielen kann.

So wurde ihr eindringliches Buch zunächst von fünfzehn Verlagen in Frankreich abgelehnt, ehe sich ein Verleger fand, der es publizierte. Dabei war allerdings noch nicht abzusehen, welcher absatzstarke und literaturkritische Erfolg Trauriger Tiger beschieden sein würde. So verkaufte sich das Buch in Frankreich über 300.000 Mal und wurde vielfach besprochen. Ganze fünf Literaturpreise konnte das Buch einheimsen, darunter der Prix Femina und der Prix Goncourt des lycéens. Zudem war das Buch 2023 neben der Auszeichnung des „jungen“ Prix Goncourt auch für die erwachsene Variante des Preises nominiert.

Man kann es verstehen, denn es ist gewiss kein einfacher oder bequemer Text, der Ablenkung und Entspannung bietet und den Wunsch nach Wohlfühlliteratur befriedigt. Aber ist ein ungemein wichtiger, der mit seiner kantigen Form und den ihm innewohnende Gedanken ein literarische Ausrufezeichens bildet und der das kraftvolle Dokument eines Überlebens ist.


  • Neige Sinno – Trauriger Tiger
  • Aus dem Französischen von Michaela Meßner
  • ISBN 978-3-423-28422-6 (dtv)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht

Trauerarbeit an der Côte d’Argent. Franziska Gänsler schickt in ihrem zweiten Roman Wie Inseln im Licht eine junge Frau in ein Hotel an der Atlantikküste in Nordfrankreich, wo sie sich ihren Erinnerungen und der Verarbeitung des Todes ihrer Mutter stellt.


Im Westen Frankreichs gelegen ist die Cóte d’Argent ist ein Strandabschnitt, der sich von Soulac-sur-mer bis nach Biarritz an der französisch-spanischen Grenze zieht. Reiseführer apostrophieren diese Küste gerne mit den Schlagworten von ausgedehnten Sandstrände, duftenden Pinienwälder und spannenden Ausflugszielen.

Was sich so reichlich malerisch und nach einem Sehnsuchtsort anhört, ist bei Franziska Gänsler alles andere als idyllisch und pittoresk. Vielmehr hat sich die junge Zoey hier in ein Hotel zurückgezogen, um sich zu erinnern und den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.

Vier Tage ist der Tod her und nun wartet sie auf die Leiche der Mutter, die dorthin nach Südfrankreich überführt werden soll, um anschließen eingeäschert zu werden. Denn Zoey will die Asche ihrer Mutter dort verstreuen, wo sie zusammen mit ihrer Schwester Oda und der Mutter vor zwanzig Jahren einst Urlaub machten.

Zwischen Tod und Neubeginn

Franziska Gänsler - Wie Inseln im Licht (Cover)

Schwebend zwischen dem Wissen um den Tod ihrer Mutter, die Realisierung ihrer neuen Situation und der Ungewissheit alles Kommenden wartet sie nun dort an der Côte d’Argent auf das Eintreffen der Leiche. Passend zur Düsternis der inneren Verfasstheit Zoeys nimmt sich auch das ganze Setting dort in Südfrankreich außerhalb der Hochsaison aus.

Zwischen Möwenattacken, Regenschauern am Strand und der trostlosen Atmosphäre im Hotel beschäftigt sich Zoey viel mit den eigenen Gedanken und Erinnerungen. Eine enge Verknüpfung sind Dabei auch die Arbeiten und das Leben der US-amerikanischen Künstlerin Tracey Emin für die junge Frau.

Denn diese teilt nicht nur den Geburtstag mit ihrer Mutter, auch in ihrer Kunst und deren Schmerzen fand und findet sich Zoey immer wieder. Ursprünglich wollte sie sogar ihre Masterarbeit in Kunstgeschichte über die britische Künstlerin schreiben, dieses Projekt wich über die letzten drei Jahre der Pflege ihrer Mutter.

Trost mit Tracey Emin

Auch wenn sie sich in der Zwischenzeit von ihren akademischen Ambitionen verabschiedet hat, so lässt die Künstlerin und ihre Radikalität Zoey nicht los. Den Titel von Tracey Emins Arbeit aus dem Jahr 1994 Exploration of the Soul könnte man auch als programmatische Arbeit über diese Zwischenzeit stellen, in der sich Zoey nun befindet.

Ich war Teil eines bizarren Duos, jetzt bin ich eine bizarre Einzelheit. Allein, in diesem Zimmer am Atlantik, im bläulichen Licht, während draußen der Regen auf den Sand fällt. Ich warte auf den Transport der Mutter, und in mir liegen die Gedanken an sie wie ein Pool, in den ich eintauche, sobald es keine Ablenkung gibt.

Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht, S. 18

Während sie sich der Trauerarbeit dort im Hotel hingibt, drängen auch immer mehr verschüttete Erinnerungen ans Tageslicht. Das Zusammenleben mit ihrer Mutter, vor allem aber das Verschwinden ihrer kleinen Schwester Oda, die sie zuletzt dort an der Côte d’Argent auf dem Campingplatz vor zwanzig Jahren gesehen hat. Wohin ist ihre Schwester einst verschwunden und warum gibt es keine Spuren von ihr? Warum kann sie sich nicht mehr wirklich an das erinnern, was einst vor zwanzig Jahren an diesem Ort geschah, an den sie nun zurückkehrt

Während sie sich in schnellem Tempo durch die Trauerphasen arbeitet, beginnt Zoey auch vor Ort nachzuforschen. Recherchen im Zeitungsarchiv und Gespräche mit Menschen dort auf dem Campingplatz, wo auch Zoeys Mutter einst mit ihren Kindern den Urlaub verbrachte

Abschied von einem komplizierten Verhältnis

Wie Inseln im Licht beschreibt Trauerarbeit und den Abschied von einem komplizierten Verhältnis zweier Frauen. Parallel zum Verblassen der Mutter in Zoeys Leben schälen sich nun die Erinnerungen an die eigene Schwester und deren ungeklärtes Schicksal heraus. Diese Gegenläufigen Entwicklungen kombiniert Franziska Gänsler mit einer Liebesgeschichte, die sich dort im Hotel langsam entspinnt und die die Autorin gelungen einfängt.

Im Gespräch über ihr Schreiben und die erzählerische Idee hinter dem Roman gab Franziska Gänsler zu Protokoll, dass es ihr ein Anliegen war, dass dieser Roman aus dem Dunkel der Trauer ins Helle führt. Es ist ein Konzept, das aufgeht und das der Autorin in der Ausführung gelungen ist.

Beeinflusst auch von Kunstarbeiten wie Anne Imhof und ihrer Arbeit Untitled (Wave) oder der schon erwähnten Tracey Emin gelingt es diesem Roman, stimmige Bilder für die Trauer und deren Verarbeitung zu finden. Neben aller Schwere der erlebten und erinnerten Verluste findet auch Humor ins Buch, etwa von der eigenen Mme. Future, die als Wahrsagerin aus dem Campingwagen heraus auf Social Media reüssiert und trotzdem vom Wunsch nach mehr Reichweite getrieben ist

Die Sprache ist zurückgenommen und präzise gesetzt. Mit diesem gekonnten Einsatz ihrer erzählerischen Mittel benötigt Franziska Gänsler dann tatsächlich auch nur 200 Seiten, um ihre Geschichte eindrucksvoll zu gestalten und zu präsentieren.

Fazit

So ist Wie Inseln im Licht ein Trauerbuch, das neben aller Schwere aber auch Platz für Neues im Leben von Zoey findet. Eine stimmungsvolle Schilderung einer tristen Côte d’Argent, ein tiefes Eintauchen in die Psyche ihrer Figur und nicht zuletzt einfach ein gut gemachtes Stück deutsche Gegenwartsliteratur.

Mit ihrem Roman schafft Franziska Gänsler die Anschlussfähigkeit an eine jugendliche Leserschaft bis hin zu einem erwachsenen Publikum. Sie erschafft, wenn man so will, vom Ton und Thema her eine Brücke von adoleszenter zu erwachsener Literatur. Es ist eine Brücke, die von Trauer zu Trost, von Ernst zu einem versöhnlichen Blick, von Sterben zu Neubeginn führt. Was kann einem Buch mehr gelingen?


  • Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht
  • ISBN 978-3-0369-5034-1 (Kein & Aber)
  • 208 Seitne. Preis: 23,00 €
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Maria Borrély – Das letzte Feuer

Die (Wieder-)Entdeckung von Maria Borrély geht weiter. Nachdem der Kanon-Verlag im letzten Jahr erstmalig den Roman Mistral der deutschen Leserschaft zugänglich machte, gibt es nun mit Das letzte Feuer ein weiteres Werk aus dem Schaffen der vergessenen französischen Autorin zu bestaunen – abermals übersetzt von der Borrély-Entdeckerin Amelie Thoma.


Dass in öffentlichen Bücherschränken veritable Überraschungen bereithalten können, das bewies die Geschichte hinter der deutschen Übersetzung von Maria Borrély Roman Mistral im vergangenen Jahr eindrücklich. Die Übersetzerin Amelie Thoma hatte das Werk der hierzulande völlig und in ihrer Heimat zumindest weitgehend unbekannten Autorin in einem offenen Bücherschrank in einer Kneipe in der Provence entdeckt, wo Thoma regelmäßig ihren Urlaub verbrachte.

Ihre Übersetzung des ebenso sinnlichen wie kraftvollen Buchs aus der Haute-Provence erwies sich als Erfolg, weshalb der Kanon-Verlag nun mit Das letzte Feuer einen weiteren Roman aus der Feder Maria Borrélys in deutscher Übersetzung von Amelie Thoma veröffentlich. Und ähnlich wie in Mistral finden auch hier wieder alle Zutaten zusammen, die Borrélys Schreiben auszeichnen: die Kraft der Natur und deren Lauf, dazu menschliche Schicksale, die in die geradezu archaische Natur eingebettet werden.

Ein typischer Roman von Maria Borrély

So vereint schon der erste Satz ihres 1931 erschienen Romans all das, was das Buch im Folgenden kennzeichnen wird:

Im wilden Duft des Buchsbaums, unterhalb des Dorfes und von weiter oben kommend, liegt gewunden wie eine Schlange dieses Schreckenstal der Terre-Rompues mit dem Riou-Sec, der alles Land der Bewohner von Orpierre-d’Asse gefressen hat.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 8

Wie schon in Mistral ist auch hier die Natur einmal mehr der eigentliche Hauptdarsteller, der bei Maria Borrély seinen großen Auftritt bekommt. Bislang hat es die Natur mit den Bewohner*innen des Dorfes Orpierre-d’Asse alles andere als gut gemeint.

Gemeinsam versuchen die Bergbewohner*innen dem steinigen Boden dort oben so gut es geht etwas abzutrotzen. Aber dennoch bleibt die Ausbeute der Felder und der Tierzucht mehr als mager. Schmalhälse werden die Bewohner*innen von Orpierre-d’Asse in den umliegenden Dörfer geheißen. Hunger und Mangel sitzen bei allen Mahlzeiten stets mit am Tisch.

Karges Leben am Berg, fruchtbares Leben im Tal

Doch mit dem kargen Leben am Berg ist es schon bald vorbei und das Leben in Armut nur noch eine ferne Erinnerung für die meisten der Schmalhälse. Denn diese haben fast alle nacheinander den Abstieg ins Tal gewagt, wo die Asse in ihrem Bett ruht.

Das Leben dort unten scheint deutlich leichter und erträglicher zu sein. Der Fluss sorgt für fruchtbare Böden, das Getreide gedeiht ebenso wie die Tierzucht. Man hat sich dort Häuser gebaut und genießt den Reichtum des neuen Lebens, was Maria Borrély mit ihrer kraftvollen Prosa anschaulich zu schildern vermag.

Durch die Fenster mit den halb geschlossenen Läden hört man Kaninchenpfeffer und Ragouts brutzeln und die Kutteln auf großem Feuer brodeln. Der Schmorbraten riecht nach Pfifferlingen. Man ruft einander von einem Fenster und einer Tür zur anderen. Mädchen im Rock, ein Tuch über den bloßen Schultern, spülen am Brunnen die Karaffen, die sie mit Sand geschmirgelt haben, waschen die Winterendivien. Man öffnet Trüffelkonserven aus Montagnac und Puimoisson.

Maria Borrély – Das letzte Feuer, S. 44

Schönheit und Zerstörung

Lebensklug stellt Pélagie, eine von Borrélys Hauptfiguren, am Ende des Buch fest, dass es sich mit der Zeit wie mit der Asse verhält. Beide hinterlassen Zerstörung auf ihrem Weg. Und von beidem versteht es Maria Borrély, klug zu erzählen.

Maria Borrély - Das letzte Feuer (Cover)

Sowohl den Gang der Natur auch den Gang des Lebens fängt Das letzte Feuer hervorragend ein. So altern ihre Figuren innerhalb der wenigen Seiten (knapp 130 an der Zahl) deutlich. Sterben und Leben, Umzug und Neubeginn sind Themen, die den Roman durchziehen.

Alles drängt hin zur Erneuerung, zum besseren Leben und einer Abkehr von den Entbehrungen des Lebens, die man dort oben am Berg zurückgelassen hat. Dies führt mitunter zu kuriosen Szenen, etwa als in der Euphorie des Neubeginns sogar die Kirche von ihrem angestammten Ort oben auf dem Berg ins Tal versetzt wird.

Nur Pélagie Arnaud und ihre Ziehtochter Berthe nehmen nicht Anteil an diesem neuen Leben. Pélagie harrt dort oben im Dorf aus, ihr ist die Nähe des umgezogenen Dorfs zur nahen Asse nicht wirklich geheuer. Und selbst als Berthe auszieht und selbst eine Familie gründet, bleibt Pélagie im Dorf zurück.

Die Zähmung der Natur als Ausgangspunkt für die Katastrophe

Es spricht aus ihrem Verhalten die Verbundenheit zum alten Dorf genauso wie ein Misstrauen gegen den neuen Komfort und die trügerische Idylle, den die Tallandschaft mitsamt der Asse bietet. Ein Misstrauen, das sich im Verlauf des Buches noch bestätigen wird…

Hier kommt dann der zweite Aspekt der Feststellung der erfahrenen Pélagie zum Tragen, denn Das letzte Feuer erzählt auch von der Katastrophe, den der Eingriff in die Ökologie bedeutet. Die Besiedelung von flussnahem Gebiet und einer Unterschätzung der Kräfte der Natur führt hier zur Katastrophe, die auch in die Gegenwart verweist.

Man kann Das letzte Feuer nicht lesen, ohne an Flutkatastrophen wie etwa die Ahrtal-Überflutung vor wenigen Jahren zu denken. Der Versuch der Menschen, sich mit den Gegebenheiten der Natur zu arrangieren und diese für eigene Zwecke zu zähmen, er findet nicht nur in Maria Borrélys Roman keinen guten Ausgang und ist damit nicht nur in unserer Gegenwart aktuell, sondern wird auch in einer Zukunft mitsamt der möglichen Klimakatastrophe an Brisanz gewinnen.

Fazit

Zwar vermisst man ein einordnendes Nachwort in Das letzte Feuer ebenso wie das damalige Vorwort ihres Schriftstellerkollegen Jean Giono, von dem nur noch ein Zitat auf dem Cover dieser Ausgabe zeugt. Dieser kleine Makel wird aber von der Freude über die Entdeckung dieser so kraftvollen Autorin, die nach wie vor gültige Brisanz ihrer Prosa und die nuancenreiche Übersetzung durch Amelie Thoma bei Weitem überwogen. Es bestätigt sich eindrücklich: die (Wieder-)Entdeckung dieser Autorin ist ein großer Glücksfall!


  • Maria Borrély – Das letzte Feuer
  • Aus dem Französischen von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-113-6 (Kanon-Verlag)
  • 128 Seiten. Preis: 20,00 €
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Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns

Mona Lisa, du musst wandern. Tom Hillenbrand schildert in Die Erfindung des Lächelns den Raub der Mona Lisa als voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich, das für viel Chaos und Verwicklungen sorgt. Polizei, Okkultisten, eine Tänzerin, eine Bande Gesetzloser und sogar Pablo Picasso, sie alle jagen hinter „La Joconde“ her, die erst ihr Diebstahl zum Mythos werden lässt, wie Hillenbrand in seinem zweiten historischen Roman zeigt.


Am späten Abend des 31. Dezember überquerte die Mona Lisa die französische Grenze. Sie hatte den Louvre als Gemälde verlassen, nun kehrte sie als Mysterium zurück.“

Florian Illies – 1913, S. 296

So ist es in Florian Illies‚ 2012 erschienenem Bestseller 1913 zu lesen, in dem der Raub der Mona Lisa fast schon zum Running Gag wird. In seinem erzählenden Sachbuch schaltet er wie der Reporter einer Fußballkonferenz immer wieder nach Paris in den Louvre, wo Monat für Monat das Ausbleiben von Leonardo da Vincis berühmtesten Gemälde zu beklagen ist, ehe es nach seinem Diebstahl 1911 erst über zwei Jahre später nach Hause findet.

Tom Hillenbrand verwandelt nach seinen Ausflügen in die kriminelle Welt der Kulinarik (seine Xavier Kieffer-Krimis), die der Science Fiction (QUBE) und der Kryptowährung (Monte Crypto) nun nach Der Kaffeedieb nun in seinem zweiten historischen Roman die Leerstelle, die durch den Raub der Mona Lisa entstand, in einen turbulenten Reigen, der von Anarchisten, Künstlern und Ermittlern bis hin zu Okkultisten reicht.

Zwischen Anarchisten und Okkultisten

Es ist eine verhängnisvolle Leerstelle, die sich im Salon Carré des Paris Louvre offenbart, als dieser am 22. August des Jahres 1911 seine Pforten öffnet. Inmitten der erschlagenden Fülle von Meisterwerken ist es das kleinformatige, auf Holz gemalte Bild der Mona Lisa alias „La Joconde“, das nicht mehr an der Stelle hängt, an der es sich eigentlich befinden sollte.

Tom Hillenbrand - Die Erfindung des Lächelns (Cover)

Der Aushilfsmaler und Handwerker Vincenzo Peruggia hat das Gemälde Leonardo da Vincis an sich genommen, was eingedenk der laxen Sicherheitsmaßnahmen im Louvre ein Kinderspiel war. Während der Diebstahl zunächst noch unbemerkt bleibt, entspinnt sich bald schon ein Hype um das fehlende Gemälde, der sich in Kinofilmen, wild titelnden Zeitungen und der Entlassung des bisherigen Galeriedirektors äußert. Ganz Paris scheint elektrisiert – und Hauptkommissar Juhel Lenoir von der Sûreté Générale macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Schönheit.

Dies ist allerdings nur einer von zahlreichen anderen Erzählstränge, die Tom Hillenbrand umeinander webt und deren Gemeinsamkeit das Kunstwerk der Mona Lisa ist, der alle Figuren in diesem Roman begegnen werden. Da ist zum Beispiel der Okkultist Aleister Crowley, der in einem heruntergekommenen Paris Hotel die Anrufung dunkler Mächte versucht, die skandalumwitterte Tänzerin Isidora Duncan, die wie einst Anita Berber mit ihrer freizügigen Tanzdarbietungen ganz Paris in Ekstase versetzt. Die Anarchistin Jelena, die unter ihrem Pseudonym Voltairine für einen Umsturz bestehender Verhältnisse eintritt oder eben Vincenzo Peruggia, der irgendwo zwischen Pechvogel, umnachteten Süchtigen und tumben Patrioten changiert.

Pablo Picasso als Retter der Mona Lisa

Sogar Pablo Picasso ist eine der Figuren, die den Plot des Romans erheblich trägt und der einer der Fixpunkte des künstlerischen Lebens ist, der am Montmartre und dem Atelier Picassos seine größte Ausprägung findet. Tom Hillenbrand zeigt ihn in seiner kubistischen Phase im Clinche mit Henri Matisse – und als entscheidender Faktor in Sachen Wiederauftauchen der Joconde (eine teilweise sogar historisch verbürgte Episode, wurde Picasso mitsamt dem Kunstkritiker Guillaume Apollinaire doch tatsächlich des Diebstahls der Mona Lisa verdächtig, da er sich im illegalen Besitz von Kunstschätzen aus dem Louvre befand).

Es ist ein munteres und höchst voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, das sich um die Mona Lisa entfaltet und das Hillenbrand durchaus auch mit Sinn für Komik zu gestalten weiß. So wird das Gemälde immer wieder geklaut und fällt auf teils abstrusen Wegen in die Hände seiner verschiedenen Protagonisten. Daneben zeichnet Hillenbrand auch ein Bild des immensen kulturellen Lebens, welches Paris zu einem wahrhaften Kreativquartier kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte. Braque, Duchamp, Picasso, Matisse, sind nur einige der Figuren, die den Leser*innen hier begegnen. Tanz, Malerei, Kunstkritik – alles strebt nach neuem Ausdruck und künstlerischer Entfaltung.

Mona Lisa – vom Gemälde zum Mythos

Nicht zuletzt blickt Die Erfindung des Lächelns ähnlich wie Florian Illies in 1913 auch hier auf den entscheidenden Wendepunkt, der aus der der Mona Lisa den Mythos machte, der sie heute zu einem der wohl bekanntesten Kunstwerke überhaupt machte.

Ein Ehepaar mittleren Alters nähert sich. Es handelt sich um Briten. Pablo versteht nicht, was sie sagen. Aber er erhascht das Wort „Gioconda“. Vermutlich erklärt der Mann seiner Frau unnötigerweise, was inzwischen jeder auf der Welt weiß: dass hier einst das berühmteste Gemälde der Welt hing.

Wobei das nicht ganz korrekt ist. Solange es hier hing, war das Gemälde bestenfalls mittel berühmt. Einer wie Pablo kannte es, natürlich. Aber der Großteil der Menschheit hatte noch nie von dem Bild gehört. Erst als die Joconde verschwand, wurde sie zu dem, was sie jetzt ist.

Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns, S. 221

War Leonardo da Vincis Porträt zuvor nur eines unter vielen Werken, das in der erschlagenden Fülle der Hängung im Louvre so kaum auffiel und selbst vielen Pariser*innnen unbekannt gewesen sein dürfte, so machte der Diebstahl aus der Joconde ein Gemälde, das die Massen faszinierte und nach seinem kurzzeitigen Ausflug in die florentinischen Uffizien dann in Paris zu einem Phänomen wurde, das sie bis heute darstellt.

Fazit

Diese Verschmelzung von Malereigeschichte, Heist-Coup mit einer Hommage an Arsène Lupin, Fantômas und Co, Parisroman, Kulturgeschichte und Kunstkrimi macht aus Die Erfindung des Lächelns einen historischen Roman, der gut zu unterhalten weiß und der das brodelnde Paris um 1911 hervorragend zum Leben erweckt.


  • Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns
  • ISBN 978-3-462-00328-4 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 512 Seiten. Preis: 25,00 €
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