Category Archives: Sachbuch

Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Wenn es um die literarische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit geht, dann kommt man an ihr nicht vorbei: die Gruppe 47. Prominente Autoren wie Günter Grass, Martin Walser, Johannes Bobrowski, Peter Handke, Heinrich Böll, Günter Kunert oder Wolfdietrich Schnurre waren Teil der einflussreichen und stilprägenden Gemeinschaft, die von Hans Werner Richter nach ganz eigenen Regeln geführt wurde. Nur eines fehlt, blickt man näher auf das Bild der Gruppe – nämlich die Frauen.

Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert hat sich darangemacht, das Bild um diesen entscheidenden Faktor zu korrigieren und zeigt dabei auf, was der deutschen Literaturgeschichte entgangen ist, indem man Autorinnen wie Gisela Elsner, Ilse Schneider-Lengyel oder Griseldis L. Flemming dem Vergessen preisgegeben hat. Denn die weibliche Geschichte der Gruppe 47 ist weit mehr als „nur“ Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu eine wirkliche Entdeckungsreise, die zur Beschäftigung mit hochinteressanten Autorinnen einlädt.


Wie schon in ihrem ersten bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch FrauenLiteratur nimmt auch Einige Herren sagten etwas dazu von Nicole Seifert wieder die weibliche Literaturgeschichte in den Blick. Diesmal konzentriert sie sich auf die Gruppe 47, bei der sie die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen findet, wie sie sie schon in ihrem ersten Sachbuch in Sachen Buchmarkt und männlich-hegemonialer Kanonbildung benannt hat. Auch macht ihre alternative Geschichtsschreibung über die Gruppe 47 klar, was diesem Land entgangen ist, da man – durchgehend bis heute – die Frauen an den Rand drängte und sich lieber in Fantasien über ihr Aussehen und ihren Charakter erging, statt sich ernsthaft mit ihrem Werk zu beschäftigen.

Die Autorinnen der Gruppe 47

Gegliedert in elf Hauptkapitel zeichnet Seifert in ihrem Buch chronologisch die Geschichte der Gruppe 47 seit einem der ersten Treffen im Allgäuer Großholzleute bis zum Zerfall der Gruppe nach der Tagung im oberfränkischen Waischenfeld 1967 nach.

Nicole Seifert - Einige Herren sagten etwas dazu (Cover)

In jedem der Kapitel stehen Frauen im Mittelpunkt, die auf den jeweiligen Tagungen lasen und die sich über die Jahrzehnte hinweig immer wieder den gleichen männlicher Verhaltensmuster ausgesetzt sahen. Abwertung und Unverständnis für das weibliche Schreiben, dafür umso mehr Interesse an den Frauen selbst. Interesse, das sich von übergriffigen Avancen bis zu abschätzigen Urteilen über ihr Erscheinungsbild äußerte. Dazu die immergleichen Unterstellungen, dass es ganz andere Gründe denn ihr literarisches Wirken waren, die für die Einladungen zu den Tagungen gesorgt hatten.

All das erlebten Frauen ab Beginn der Zusammenkünfte der Gruppe, wie etwa Ruth Rehmann, der bescheinigt wurde, sie sei auf der Tagung eine Frau fürs Feuer, bis hin zu Ilse Aichinger, in deren Bett sich auf einer Tagung der Gruppe 47 ein nackter Poet fand.

Frauen fürs Feuer und nackte Lyriker im Bett

Was als anstößige Übergriffigkeit eigentlich eine klare Verurteilung bräuchte, nimmt sich für die Männer vor Ort damals als nonchalante Schnurre aus, so zumindest in den Erinnerungen des Spiritus Rector der Gruppe 47, Hans Werner Richter.

„Bevor ich sie kennenlernte, sagte mir jemand, sie [Ilse Aichinger] sei ein „Pummelchen““, beginnt Richter seine Beschreibung Ilse Aichingers. Tatsächlich habe er dann „eine schöne Frau“ vor sich gehabt, „die einige meiner Tagungsteilnehmer so stark anzog, daß sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren“. (…)

Richter geht dann dazu über zu schildern, wie Ilse Aichinger während des Festes der Herbsttagung 1951 zu späterer Stunde zu ihm in den Saal kam und ihn bat, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, in ihrem Bett liege ein nackter Mann. Er beschreibt, wie er in Aichingers Zimmer den inzwischen wieder bekleideten Mann vorfand, „einen hoffnungsvollen jungen Lyriker“, dessen Namen er für sich behält. Auf der Couch in der Ecke fand er außerdem den sich schlafend stellenden Heinrich Böll vor. Richter kommentiert, solche „Scherze“ seien üblich gewesen in den ersten Nachkriegsjahren, niemand habe sie übel genommen, bat Aichinger aber im Gehen, nun abzuschließen.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 65

Wenn Frauen bei den Tagungen anwesend waren, dann waren sie meist in Begleitung ihrer Männer vor Ort. Lesende Frauen waren (auch in der Dokumentation der folgenden Jahrzehnte) stets in der Minderheit und sahen sich einer Vielzahl von Männern gegenüber, die sich dann herabließen, auch etwas zu den Texten zu sagen, wie es Ingeborg Bachmann in ihren Erinnerungen formuliert.

Unverständnis und Abwertung bis zum Tod

Oftmals trafen die vorgetragenen Texte aber auf Unverständnis und wurden von den Männern in ihrer Hermeneutik und Bildwelt nicht wirklich erschlossen. Ein Faktor, den die öffentliche Berichterstattung fortführte und potenzierte, in dem man sich in prominenten Publikationsorganen wie dem Spiegel zumeist lieber über das Äußere von Schriftstellerinnen erging, wie im Falle der Titelstory über Ingeborg Bachmann. Selbst im Falle des Todes scheute man sich nicht, in Nachrufen die Leistungen der Frauen zu schmälern, indem man ihr Werk in Frage stellte oder ihre Erfolgslosigkeit herausstellte.

In ihrer Verschmelzung aus Biografie, Werkschau und Werkinterpretation zeigt Nicole Seifert die lesenden Frauen als Autorinnen im Spiegel der Kritik und im Spiegel der damaligen Zeit, weist aber auch darauf hin, was die Werke über das einst artikulierte Unverständnis der Rezipienten hinaus heute noch so lesenswert und aktuell macht. Einige Herren sagten etwas dazu lädt ein, sich selbst auf jene Spuren der Autorinnen zu begeben, die Nicole Seifert mit viel Engagement und Akribie freigelegt hat.

Faszinierend die rätselhafte Sprachwelt Christine Koschels, die spielerische Lyrik Elisabeth Borchers oder das frühe autofiktionale Erzählen Elisabeth Plessens. Spannend die Wahl der Mittel der Groteske im Werk Gisela Elsners, mit denen sie die Nachkriegsgesellschaft und die Institution Ehe seziert und durch ihre weibliche Perspektive erkenntnisreiche Einblicke verschafft.

Genaue Blicke auf patriarchale Funktionsweisen, auf die Negierung und Abwertung der Erfahrungswelt der Frau – im Werk vieler Autorinnen der Gruppe 47 lässt sich das ausmachen, genauso wie im Umgang mit diesen Frauen, was Nicole Seifert eindrücklich belegt.

Nicole Seiferts Korrektur der literarischen Geschichtsschreibung

So löst Seifert vollumfänglich das ein, was sie zu Beginn des Buchs als Vorhaben von Einige Frauen sagten etwas dazu wie folgt umreißt:

Ilse Schneider-Lengyel ist die erste in einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn Frauen nicht aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, ähnliches geschah bei Ilse Aichinger.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 56 f.

Diese Befreiung und Freistellung des Blicks gelingt Nicole Seifert bravourös, sodass man zwar einerseits den teilweise schon fast misogynen Umgang mit dem Werk und den Personen der Autorinnen der Gruppe 47 bedauert (ein Ende der beschriebenen Wirkmechanismen erscheint nicht nur aufgrund von Seiferts vorhergehendem FrauenLiteratur höchst fraglich).

Andererseits gibt das Werk aber auch so viel Orientierungspunkte und Einstiegspunkte in diese Welt weiblichen Schreibens, das man am liebsten gleich loslegen möchte mit dem Lesen und Entdecken – wo es die bedauerlich spärliche Verfügbarkeit der Werke der Autorinnen überhaupt erlaubt. Aber vielleicht findet ja der ein oder andere Text bald auch den Weg in die von Magda Birkmann und Nicole Seifert herausgegebene Reihe der vergessenen Autorinnen – ich würde es sehr begrüßen!

Fazit

Nicole Seiferts Buch führt eindringlich vor, um was wir uns sehenden Auges und ganz freiwillig in Sachen Nachkriegsliteratur beraubt haben. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu ein Buch, das sowohl die Geschichtsschreibung der Gruppe 47 um einen entscheidenden Faktor korrigiert, als auch Autorinnen wieder ans Tageslicht holt und nicht zuletzt auch eine Geschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft aus weiblicher Sicht erzählt.

All das macht aus diesem Buch eine notwendige und augenöffnende Lektüre, die künftig fortan die männerzentrierte Geschichtsschreibung der Gruppe 47 von Hans Werner Richter bis Jörg Magenau korrigieren und ergänzen sollte.


  • Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu: die Autorinnen der Gruppe 47
  • ISBN 978-3-462-00353-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Timothy Garton Ash – Europa

Eine persönliche Geschichte

Wie soll man von Europa reden, wie seine Geschichte und seine Entwicklungen zusammenfassen? Der Brite und stolze Europäer Timothy Garton Ash entscheidet sich in seinem Buch Europa für eine persönliche Herangehensweise, indem er die mannigfaltigen Berührungspunkte seines Lebens mit der europäischen Idee in den Mittelpunkt stellt.


Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Brite, Professor für Europäische Studien an der University Oxford, ein Buch schreibt, das Europa lobpreist. Timothy Garton Ash weist selbst in seinem Buch auf die Umstände hin, die Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden ließen – und lässt keine Zweifel an seinem Schmerz über diesen Zustand. Denn Europa ist trotz aller Krisen und Probleme eine ebenso richtige wie wichtige Idee, an der auch der Brexit nichts ändert, wie Garton Ash meint.

Die Geschichte Europas seit 1945

Dieser Idee, ihrer Entstehung und Entwicklung geht er im Lauf der folgenden gut 430 Seiten ausführlich nach. Da die Geschichte Europas aber ebenso heterogen wie ihre Mitgliedsstaaten ist, wählt Timothy Garton Ash einen klugen Erzählansatz, den auch schon der Untertitel des Buchs verrät. Anstelle einer Analyse der Gleichzeitigkeit und Verschiedenheiten in der Historie der EU geht der Brite radikal subjektiv an sein Erzählprojekt heran. So nimmt er seine eigene Geschichte in den Blick, die auf das engste mit den entscheidenden Entwicklungen und Weichenstellungen der Europäischen Union verknüpft ist, wie die folgenden Seiten eindrücklich unter Beweis stellen.

Timothy Garton Ash - Europa (Cover)

Angefangen vom Jahr 1945 in der Stunde Null (die es so einheitlich in Europa niemals gab, wie Garton Ash zeigt) blickt der Historiker auf den Neubeginn der europäischen Idee und Gemeinschaft. Dafür begibt er sich nach Deutschland, das schon sein eigener Vater nach dem D-Day als englischer Soldat befreite, und das nun zu seinem Ausgangspunkt für seine Geistesgeschichte Europas wird. Ausgehend von der Idee nach der Erfahrung der Kriegsgräuel, einen besseren Ort zu schaffen, der solchen Schrecken wie dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, geht es dann zurück in Timothy Garton Ashs eigene Jugend.

In dieser lernte der 1955 geborene Brite erstmals die 68er-Bewegungen kennen, erfuhr die Aufbruchsstimmung rund um die Solidarnosc-Bewegung in Polen mit ihrem Führer Lech Walesa, war in Deutschland Zeuge eines geteilten Landes und erlebte dieses Europa als einen Ort der Vielfalt und Ungleichzeitigkeit, was er in seinem Buch mit dem Begriff eines Kaleidoteppichs umreißt, der für ihn Europa ausmacht:

Der Kaleidoteppich als Symbol Europas

Welche Metapher kann diese Vielfalt auch nur annähernd erfassen? Palimpsest? Millefeuille? Patchwork-Quilt? Das Beste, was mir einfällt, ist eine Kombination aus Kaleidoskop und Wandteppich: ein Kaleidoteppich. Europa ist ein Wandteppich in dem Sinne, dass er von vielen Händen bearbeitet wurde, um ein einziges, einzigartiges Bild zu schaffen – eine Straßenszene vielleicht oder eine Landschaft oder ein Ereignis wie den Palio, das Pferderennen zwischen benachbarten Gemeinden auf dem Hauptplatz von Siena, das erstmals für das Jahr 1239 dokumentiert ist und immer noch alljährlich stattfindet.

Aber es ist auch ein Kaleidoskop, denn immer wieder tauchen dieselben bunten Elemente in neuen Kombinationen auf: die immer wiederkehrende visuelle Grammatik von Kirche, Schloss, Marktplatz und Rathaus, Anspielungen auf Rom, Elemente der Gotik, des Barock, des Jugendstils oder des Brutalismus der 1960er Jahre; Leitmotive wie der Minotaurus, die Sirenen oder die Madonna mit dem Kind, Cafés in allen möglichen Formen und Arten; der griechische Kaffee, der dem türkischen so merkwürdig ähnelt, Kohl in unendlichen gastronomischen Variationen. Überall findet man Feinheiten, die einzigartig sind, oder das, was in vielen europäischen Sprachen als „typisch“ bezeichnet wird, neben anderen, die verblüffend vertraut sind. Wenn man die Nationalhymne Liechtensteins anstimmt, hört man die Melodie von „God save the queen“. Das Gleiche, und doch anders, anders und doch gleich.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 72

Doch eine einzige Erfolgsgeschichte ist dieses Europa natürlich nicht, was immer deutlicher wird, je näher sich das Buch an die Gegenwart heranarbeitet. So gelang es im Laufe der 68-Bewegung und durch den langsamen Zerfall der Sowjetunion, viele Länder aus ihren Diktaturen zu befreien. Von Portugal über Spanien bis hin nach Osteuropa – viele langjährige Machthaber und ihre Staatsparteien verschwanden und die Demokratie trat ihren Siegeszug an.

Europa in Gefahr

Ebenso wie aber beispielsweise Länder wie Ungarn oder Polen das Joch der Diktatur abstreiften, ebenso zerbrechlich war aber die neue Freiheit, was sich aktuell in Ungarn unter Premier Viktor Orban am deutlichsten zeigt. Aber auch Polen mit der regierenden PiS-Partei war ein Negativbeispiel eines solchen Rückfalls in autokratische Zeiten, obgleich man dem Land nun nach der Abwahl der Partei unter ihrem Strippenzieher Jaroslaw Kaczynski einen raschen Weg zurück zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wünscht.

Die Demokratie, sie ist ein bedrohtes Gut, das zeigt Timothy Garton Ash in seinen Ausführungen sehr deutlich. Nicht nur der aktuell grassierende Rechtsruck in fast allen Ländern Europas, der durch Probleme mit der Migration verstärkt wird – auch sein eigenes Heimatland entschied sich lieber, populistischen Lügen und Unwahrheiten zu folgen, statt sich auf die Stärken der Europäischen Gemeinschaft zu besinnen, was Garton Ash lesbar schmerzt:

Ich verspürte einen beinahe körperlichen Schmerz, als nach dem Brexit die europäischen Flaggen an offiziellen Gebäuden in Großbritannien abgenommen wurden und wir stattdessen mit dem Schauspiel der Churchill-Parodie Boris Johnson konfrontiert waren, der jetzt allein von zwei Union Jacks flankiert wurde. Etwas Größeres war verloren gegangen, so wichtig wie die Freizügigkeit oder die Mitgliedschaft im Binnenmarkt: das Bestreben, gleichzeitig unser nationales Selbst und mehr als nur unser nationales Selbst zu sein.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 177

Gut lesbar, unterhaltsam, minimal elitär prunkend

Hier wird auch die Erzählweise dieses sehr gut lesbaren Buchs offenbar. Denn anstelle von Fußnoten und Zitaten entscheidet sich Garton Ash, seine Quellen nur auf der Verlagshomepage nachzuweisen und auf lange Zitate und Zeugnisse seiner eigenen Bildung zu verzichten. Stattdessen ist sein Buch ganz in der angelsächsischen Tradition der Geschichtsschreibung verhaftet. Das bedeutet einen flüssigen, barrierefreien Stil, der sich auch subjektive Wertungen und Einordnungen erlaubt. Seine Ausführungen sind nachvollziehbar, gut lesbar und wirklich unterhaltsam (übersetzt durch Andreas Wirthenson).

Manchmal gerät das Ganze dabei doch etwas arg elitär prunkend, etwa wenn Garton Ash immer wieder auf seine Kontakte und Zugänge zu den Schaltzentralen der Macht verweist. Von Gesprächen im Kanzlerbungalow mit Helmut Kohl über Hintergrundgespräche mit Tony Blair bis hin zu Konsultationen mit Ang Suu Kim oder Viktor Orban stellt sein Buch die Weltläufigkeit seines Verfassers sehr gerne aus.

Weil das aber mit erkenntnisreichen Passagen und neben allem Sinn für die großen Momente auch durchaus mit einem Sinn für Selbstkritik und dem Benennen von Fehleinschätzung einhergeht, sehe ich das diesem ebenso gut vernetzten wie gut erzählenden Professor und Träger des Aachener Karlspreises sehr gerne nach.

Fazit

Europa ist eine unterhaltsame Reise durch fast 80 Jahre europäischer Geschichte. Volten. Erfolge und Niederlagen, all das betrachtet Timothy Garton Ash in diesem persönlich Buch, das als Einführung in die EU hervorragend funktioniert. Neben allem Enthusiasmus für die europäische Idee lässt das Buch durch seinen Rückblick auf Vergangenes auch die Gegenwart besser verstehen. Nicht zuletzt macht Europa zudem klar, was nicht nur in diesem Jahr in Form der Europawahlen auf dem Spiel steht.

Denn einmal mehr gilt, was auch Garton Ashs Kaleidoteppich zeigt: Europa ist mehr, als die Summe seiner Einzelteile. Und wir sollten gut achtgeben darauf, damit dieser Teppich ebenso bunt und faszinierend bleibt, wie er es in den letzten achtzig Jahren war.


  • Timothy Garton Ash – Europa. Eine persönliche Geschichte
  • Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
  • Produktnummer 175045 (Buechergilde Gutenberg)
  • 448 Seiten. Preis: 32,00 €
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Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €
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