Category Archives: Sachbuch

Menachem Kaiser – Kajzer

Grabungen in der eigenen Familiengeschichte, polnische Schatzsucher, ein unbekannter Verwandter, der die Konzentrationslager überlebt hat, ein mythenumrankter Goldzug – und die Geschichte eines Prozesses, der in seinem Anrennen gegen juristische Gegebenheiten etwas an Kleists Kohlhaas erinnert. Das alles bietet der US-amerikanische Autor Menachem Kaiser in seinem facettenreichen erzählenden Sachbuch Kajzer, dem für mein Empfinden ein etwas klarerer Fokus und mehr Kontur gutgetan hätten.


Menachem Kaiser dürfte es wie vielen von uns gehen. Man hat zwar eine grobe Ahnung der Familiengeschichte, aber die genauen Umstände der biographischen Herkunft liegen trotzdem im historischen Dunkel. Zwar wusste er als Sohn jüdischer Eltern von seinem Großvater, der im KZ überlebt hatte, recht viel mehr Erkenntniswert und Interesse war bei den nachfolgenden Generationen aber nicht, sodass er konstatiert:

Wir wussten, dass mein Großvater aus seiner Familie der Einzige gewesen war, der den Krieg überlebt hatte, dass seine Eltern und seine Geschwister ermordet worden waren, ebenso wie beinahe alle in seiner weiteren Verwandtschaft. Aber als Wissen war dies dunkle Materie.

Wir wussten nichts über sein Leben vor dem Krieg oder in der Zwischenkriegszeit. Wir wussten nicht, in welchen Konzentrationslagern er gewesen war oder wie sein Vater seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Wir wussten nichts über seine Eltern, Tanten, Onkel, Cousin und Cousinen; mein Vater und seine beiden Geschwister – ganz zu schweigen von meiner Generation – hätten Mühe gehabt, die Namen der Geschwister meines Großvaters zu nennen; nicht einmal, wie viele es waren, hätten sie genau sagen können. Wir wussten, dass sie gestorben, hatten aber keine Ahnung, wer sie gewesen waren.

Menachem Kaiser – Kajzer, S. 13

Dieses Desinteresse änderte sich allerdings, als sich Menachem Kaiser im Zuge eines Forschungsstipendiums in Krakau aufhielt. Er, der eigentlich als Journalist und Autor arbeitet, wollte, wenn schon einmal vor Ort, dort dem persönlichen Erbe näherkommen, schließlich stammte sein Großvater aus Schlesien. Der Weg zum Ort des Aufwachsens seines Großvaters war somit nicht mehr weit, weswegen er sich daran machte, nach den familiären Wurzeln zu graben.

Ein enteignetes Haus in Sosnowiec

Für seine Suche erhielt Kaiser von seinem Vater eine Mappe mit ungeordneten Dokumenten. Aus diesen ging hervor, dass sein Großvater einst im Besitz eines Hauses im Ort Sosnowiec war, einem kleinen polnischen Ort. Als Jude war ihm dies während der Naziherrschaft allerdings enteignet worden.

Menachem Kaiser - Kajzer (Cover)

Zwanzig Jahre lang, so dokumentiert es das Konvolut, hatte sich der Großvater nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs angestrengt, seinen enteigneten Besitz wiederzuerlangen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das von keinem Erfolg gekrönt war.

Diese Nachricht rüttelt Menachem Kaiser auf, sodass er sich als Nachfahre daranmacht, dieser historischen Ungerechtigkeit im Nachhinein Recht zu verschaffen. Wieder zurück in den USA strengt er mithilfe einer „Killerin“ geheißenen Rechtsanwältin einen juristischen Kampf an, um das einst verlorene Haus wiederzuerlangen. In Polen recherchiert er zu Geschichte des Hauses – wird dann aber auch noch auf einer anderen Front mit einer Entdeckung überrascht.

Schatzsucher und Familienforschung

Denn während Kaiser zu einem Schatzsucher in Sachen eigener Historie wird, stößt er auf einen anderen legendären Schatzsucher namens Abraham Kajzer, der einst den Holocaust überlebte und der zur inspirierenden Figur für polnische Schatzsucher wurde, die sich auf die Suche nach dem legendären Goldzug der Nazis begaben. Die Namensgleichheit mit diesem Abraham Kajzer macht Kaiser stutzig, und so entdeckt er eine faszinierende biographische Volte. Bei Abraham Kajzer handelt es sich um niemand anderen als den Cousin seines eigenen Großvaters.

Ein Umstand, der ihn bei anderen Schatzsuchern in geradezu legendäre Höhen hebt, die ihm von ihren Grabungen in der Historie und im polnischen Boden berichten wollen, während er vor Ort den Spuren des eigenen Großvaters und denen Abraham Kajzers nachspürt, der nicht nur die Konzentrationslager überlebte, sondern auch nach Israel auswanderte und ein Buch mit seinen Aufzeichnungen an die Zeit in den Lagern veröffentlichte.

Das alles ist natürlich – um im Bild zu bleiben – eine wahre erzählerische Goldgrube. Die unbekannte Verwandschaft, die Suche in Polen nach dem eigenen Erbe, das Graben in metaphorischer und tatsächlicher Hinsicht. Und dann ist da auch noch der Prozess um das Haus, den nun der Enkel als Erbe an des Großvaters statt führt und der dabei eine Ahnung vom massiven Umbau des polnischen Staats bekommt, als die autoritär regierende PiS-Partei eine Justizreform anstrengt, die Sand in das juristische Getriebe streut, das für Kaisers Geschmack eh schon zu umständlich und langsam läuft.

Eine erzählerische Goldgrube – nicht ganz ausgeschöpft

Leider holt Kaiser aus dieser Goldgrube nicht das Optimum heraus. Denn das, was die New York Times auf der Rückseite des Buchs eine „verschlungene“ Geschichte nennt, ist für meinen Geschmack deutlich zu verschlungen. Oder anders gesagt: mir fehlt es hier an klarer Fokussierung auf sein erzählerisches Anliegen.

Beständig mäandert das Erzählen zwischen der eigenen Familiengeschichte, Abraham Kajzers packendem Schicksal, dem Prozess rund um das Haus und die Spurensuche vor Ort sowie die Porträts polnischer Schatzsucher, ihre Mythen und die Faszination für den Zweiten Weltkrieg, Goldzug und Projekt Riese inklusive, hin und her.

All das sind zweifelsohne spannende Themen und für sich genommen auch schon einzelne Sachbücher wert. Im Zusammenwirken all dieser erzählerischen Motive wird daraus aber leider ein doch recht unkonturiertes und unentschlossenes Durcheinander, bei der immer wieder einzelne Erzählstränge abbrechen, die Gedanken Kaisers abschweifen oder wieder zu angefangenen Themen zurückkehren.

Statt sich auf die Wiederentdeckung seines familiären Erbes zu besinnen und dies einfach mit dem schon fast Kolhhaas’schen Prozess um die Wiederelangen des enteigneten Hauses und die dafür notwendige Dokumentation zu kombinieren, eröffnet Menachem für meinen Geschmack deutlich zu viele Baustellen und Nebenkriegsschauplätze, die die eigentlich so kraftvollen und beeindruckenden Themen etwas von ihrer Wirkung nehmen. Hier wäre erzählerisch weniger gewesen, um mehr in Form eines wirklich stringenten und überzeugenden Buch zu sein.

Fazit

Kajzer ist fraglos ein relevantes erzählendes Sachbuch, das gerade in diesen Tagen mit dem Thema der Erkundung der eigenen jüdischen Biografie einen wichtigen Punkt macht. Allerdings verliert sich dieses wichtige und interessante Thema im zu unfokussierten Allerlei zwischen Schatzsuchern und Mythenbildung, um in letzter Konsequenz zu überzeugen. Hier wäre ein stärkeres Lektorat und ein klar erkennbarer erzählerischer roter Faden Trumpf gewesen.


  • Menachem Kaiser – Kajzer
  • Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
  • ISBN 978-3-552-07339-5 (Zsolnay)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Wenn es um die literarische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit geht, dann kommt man an ihr nicht vorbei: die Gruppe 47. Prominente Autoren wie Günter Grass, Martin Walser, Johannes Bobrowski, Peter Handke, Heinrich Böll, Günter Kunert oder Wolfdietrich Schnurre waren Teil der einflussreichen und stilprägenden Gemeinschaft, die von Hans Werner Richter nach ganz eigenen Regeln geführt wurde. Nur eines fehlt, blickt man näher auf das Bild der Gruppe – nämlich die Frauen.

Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert hat sich darangemacht, das Bild um diesen entscheidenden Faktor zu korrigieren und zeigt dabei auf, was der deutschen Literaturgeschichte entgangen ist, indem man Autorinnen wie Gisela Elsner, Ilse Schneider-Lengyel oder Griseldis L. Flemming dem Vergessen preisgegeben hat. Denn die weibliche Geschichte der Gruppe 47 ist weit mehr als „nur“ Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu eine wirkliche Entdeckungsreise, die zur Beschäftigung mit hochinteressanten Autorinnen einlädt.


Wie schon in ihrem ersten bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch FrauenLiteratur nimmt auch Einige Herren sagten etwas dazu von Nicole Seifert wieder die weibliche Literaturgeschichte in den Blick. Diesmal konzentriert sie sich auf die Gruppe 47, bei der sie die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen findet, wie sie sie schon in ihrem ersten Sachbuch in Sachen Buchmarkt und männlich-hegemonialer Kanonbildung benannt hat. Auch macht ihre alternative Geschichtsschreibung über die Gruppe 47 klar, was diesem Land entgangen ist, da man – durchgehend bis heute – die Frauen an den Rand drängte und sich lieber in Fantasien über ihr Aussehen und ihren Charakter erging, statt sich ernsthaft mit ihrem Werk zu beschäftigen.

Die Autorinnen der Gruppe 47

Gegliedert in elf Hauptkapitel zeichnet Seifert in ihrem Buch chronologisch die Geschichte der Gruppe 47 seit einem der ersten Treffen im Allgäuer Großholzleute bis zum Zerfall der Gruppe nach der Tagung im oberfränkischen Waischenfeld 1967 nach.

Nicole Seifert - Einige Herren sagten etwas dazu (Cover)

In jedem der Kapitel stehen Frauen im Mittelpunkt, die auf den jeweiligen Tagungen lasen und die sich über die Jahrzehnte hinweig immer wieder den gleichen männlicher Verhaltensmuster ausgesetzt sahen. Abwertung und Unverständnis für das weibliche Schreiben, dafür umso mehr Interesse an den Frauen selbst. Interesse, das sich von übergriffigen Avancen bis zu abschätzigen Urteilen über ihr Erscheinungsbild äußerte. Dazu die immergleichen Unterstellungen, dass es ganz andere Gründe denn ihr literarisches Wirken waren, die für die Einladungen zu den Tagungen gesorgt hatten.

All das erlebten Frauen ab Beginn der Zusammenkünfte der Gruppe, wie etwa Ruth Rehmann, der bescheinigt wurde, sie sei auf der Tagung eine Frau fürs Feuer, bis hin zu Ilse Aichinger, in deren Bett sich auf einer Tagung der Gruppe 47 ein nackter Poet fand.

Frauen fürs Feuer und nackte Lyriker im Bett

Was als anstößige Übergriffigkeit eigentlich eine klare Verurteilung bräuchte, nimmt sich für die Männer vor Ort damals als nonchalante Schnurre aus, so zumindest in den Erinnerungen des Spiritus Rector der Gruppe 47, Hans Werner Richter.

„Bevor ich sie kennenlernte, sagte mir jemand, sie [Ilse Aichinger] sei ein „Pummelchen““, beginnt Richter seine Beschreibung Ilse Aichingers. Tatsächlich habe er dann „eine schöne Frau“ vor sich gehabt, „die einige meiner Tagungsteilnehmer so stark anzog, daß sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren“. (…)

Richter geht dann dazu über zu schildern, wie Ilse Aichinger während des Festes der Herbsttagung 1951 zu späterer Stunde zu ihm in den Saal kam und ihn bat, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, in ihrem Bett liege ein nackter Mann. Er beschreibt, wie er in Aichingers Zimmer den inzwischen wieder bekleideten Mann vorfand, „einen hoffnungsvollen jungen Lyriker“, dessen Namen er für sich behält. Auf der Couch in der Ecke fand er außerdem den sich schlafend stellenden Heinrich Böll vor. Richter kommentiert, solche „Scherze“ seien üblich gewesen in den ersten Nachkriegsjahren, niemand habe sie übel genommen, bat Aichinger aber im Gehen, nun abzuschließen.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 65

Wenn Frauen bei den Tagungen anwesend waren, dann waren sie meist in Begleitung ihrer Männer vor Ort. Lesende Frauen waren (auch in der Dokumentation der folgenden Jahrzehnte) stets in der Minderheit und sahen sich einer Vielzahl von Männern gegenüber, die sich dann herabließen, auch etwas zu den Texten zu sagen, wie es Ingeborg Bachmann in ihren Erinnerungen formuliert.

Unverständnis und Abwertung bis zum Tod

Oftmals trafen die vorgetragenen Texte aber auf Unverständnis und wurden von den Männern in ihrer Hermeneutik und Bildwelt nicht wirklich erschlossen. Ein Faktor, den die öffentliche Berichterstattung fortführte und potenzierte, in dem man sich in prominenten Publikationsorganen wie dem Spiegel zumeist lieber über das Äußere von Schriftstellerinnen erging, wie im Falle der Titelstory über Ingeborg Bachmann. Selbst im Falle des Todes scheute man sich nicht, in Nachrufen die Leistungen der Frauen zu schmälern, indem man ihr Werk in Frage stellte oder ihre Erfolgslosigkeit herausstellte.

In ihrer Verschmelzung aus Biografie, Werkschau und Werkinterpretation zeigt Nicole Seifert die lesenden Frauen als Autorinnen im Spiegel der Kritik und im Spiegel der damaligen Zeit, weist aber auch darauf hin, was die Werke über das einst artikulierte Unverständnis der Rezipienten hinaus heute noch so lesenswert und aktuell macht. Einige Herren sagten etwas dazu lädt ein, sich selbst auf jene Spuren der Autorinnen zu begeben, die Nicole Seifert mit viel Engagement und Akribie freigelegt hat.

Faszinierend die rätselhafte Sprachwelt Christine Koschels, die spielerische Lyrik Elisabeth Borchers oder das frühe autofiktionale Erzählen Elisabeth Plessens. Spannend die Wahl der Mittel der Groteske im Werk Gisela Elsners, mit denen sie die Nachkriegsgesellschaft und die Institution Ehe seziert und durch ihre weibliche Perspektive erkenntnisreiche Einblicke verschafft.

Genaue Blicke auf patriarchale Funktionsweisen, auf die Negierung und Abwertung der Erfahrungswelt der Frau – im Werk vieler Autorinnen der Gruppe 47 lässt sich das ausmachen, genauso wie im Umgang mit diesen Frauen, was Nicole Seifert eindrücklich belegt.

Nicole Seiferts Korrektur der literarischen Geschichtsschreibung

So löst Seifert vollumfänglich das ein, was sie zu Beginn des Buchs als Vorhaben von Einige Frauen sagten etwas dazu wie folgt umreißt:

Ilse Schneider-Lengyel ist die erste in einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn Frauen nicht aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, ähnliches geschah bei Ilse Aichinger.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 56 f.

Diese Befreiung und Freistellung des Blicks gelingt Nicole Seifert bravourös, sodass man zwar einerseits den teilweise schon fast misogynen Umgang mit dem Werk und den Personen der Autorinnen der Gruppe 47 bedauert (ein Ende der beschriebenen Wirkmechanismen erscheint nicht nur aufgrund von Seiferts vorhergehendem FrauenLiteratur höchst fraglich).

Andererseits gibt das Werk aber auch so viel Orientierungspunkte und Einstiegspunkte in diese Welt weiblichen Schreibens, das man am liebsten gleich loslegen möchte mit dem Lesen und Entdecken – wo es die bedauerlich spärliche Verfügbarkeit der Werke der Autorinnen überhaupt erlaubt. Aber vielleicht findet ja der ein oder andere Text bald auch den Weg in die von Magda Birkmann und Nicole Seifert herausgegebene Reihe der vergessenen Autorinnen – ich würde es sehr begrüßen!

Fazit

Nicole Seiferts Buch führt eindringlich vor, um was wir uns sehenden Auges und ganz freiwillig in Sachen Nachkriegsliteratur beraubt haben. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu ein Buch, das sowohl die Geschichtsschreibung der Gruppe 47 um einen entscheidenden Faktor korrigiert, als auch Autorinnen wieder ans Tageslicht holt und nicht zuletzt auch eine Geschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft aus weiblicher Sicht erzählt.

All das macht aus diesem Buch eine notwendige und augenöffnende Lektüre, die künftig fortan die männerzentrierte Geschichtsschreibung der Gruppe 47 von Hans Werner Richter bis Jörg Magenau korrigieren und ergänzen sollte.


  • Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu: die Autorinnen der Gruppe 47
  • ISBN 978-3-462-00353-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Timothy Garton Ash – Europa

Eine persönliche Geschichte

Wie soll man von Europa reden, wie seine Geschichte und seine Entwicklungen zusammenfassen? Der Brite und stolze Europäer Timothy Garton Ash entscheidet sich in seinem Buch Europa für eine persönliche Herangehensweise, indem er die mannigfaltigen Berührungspunkte seines Lebens mit der europäischen Idee in den Mittelpunkt stellt.


Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Brite, Professor für Europäische Studien an der University Oxford, ein Buch schreibt, das Europa lobpreist. Timothy Garton Ash weist selbst in seinem Buch auf die Umstände hin, die Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden ließen – und lässt keine Zweifel an seinem Schmerz über diesen Zustand. Denn Europa ist trotz aller Krisen und Probleme eine ebenso richtige wie wichtige Idee, an der auch der Brexit nichts ändert, wie Garton Ash meint.

Die Geschichte Europas seit 1945

Dieser Idee, ihrer Entstehung und Entwicklung geht er im Lauf der folgenden gut 430 Seiten ausführlich nach. Da die Geschichte Europas aber ebenso heterogen wie ihre Mitgliedsstaaten ist, wählt Timothy Garton Ash einen klugen Erzählansatz, den auch schon der Untertitel des Buchs verrät. Anstelle einer Analyse der Gleichzeitigkeit und Verschiedenheiten in der Historie der EU geht der Brite radikal subjektiv an sein Erzählprojekt heran. So nimmt er seine eigene Geschichte in den Blick, die auf das engste mit den entscheidenden Entwicklungen und Weichenstellungen der Europäischen Union verknüpft ist, wie die folgenden Seiten eindrücklich unter Beweis stellen.

Timothy Garton Ash - Europa (Cover)

Angefangen vom Jahr 1945 in der Stunde Null (die es so einheitlich in Europa niemals gab, wie Garton Ash zeigt) blickt der Historiker auf den Neubeginn der europäischen Idee und Gemeinschaft. Dafür begibt er sich nach Deutschland, das schon sein eigener Vater nach dem D-Day als englischer Soldat befreite, und das nun zu seinem Ausgangspunkt für seine Geistesgeschichte Europas wird. Ausgehend von der Idee nach der Erfahrung der Kriegsgräuel, einen besseren Ort zu schaffen, der solchen Schrecken wie dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, geht es dann zurück in Timothy Garton Ashs eigene Jugend.

In dieser lernte der 1955 geborene Brite erstmals die 68er-Bewegungen kennen, erfuhr die Aufbruchsstimmung rund um die Solidarnosc-Bewegung in Polen mit ihrem Führer Lech Walesa, war in Deutschland Zeuge eines geteilten Landes und erlebte dieses Europa als einen Ort der Vielfalt und Ungleichzeitigkeit, was er in seinem Buch mit dem Begriff eines Kaleidoteppichs umreißt, der für ihn Europa ausmacht:

Der Kaleidoteppich als Symbol Europas

Welche Metapher kann diese Vielfalt auch nur annähernd erfassen? Palimpsest? Millefeuille? Patchwork-Quilt? Das Beste, was mir einfällt, ist eine Kombination aus Kaleidoskop und Wandteppich: ein Kaleidoteppich. Europa ist ein Wandteppich in dem Sinne, dass er von vielen Händen bearbeitet wurde, um ein einziges, einzigartiges Bild zu schaffen – eine Straßenszene vielleicht oder eine Landschaft oder ein Ereignis wie den Palio, das Pferderennen zwischen benachbarten Gemeinden auf dem Hauptplatz von Siena, das erstmals für das Jahr 1239 dokumentiert ist und immer noch alljährlich stattfindet.

Aber es ist auch ein Kaleidoskop, denn immer wieder tauchen dieselben bunten Elemente in neuen Kombinationen auf: die immer wiederkehrende visuelle Grammatik von Kirche, Schloss, Marktplatz und Rathaus, Anspielungen auf Rom, Elemente der Gotik, des Barock, des Jugendstils oder des Brutalismus der 1960er Jahre; Leitmotive wie der Minotaurus, die Sirenen oder die Madonna mit dem Kind, Cafés in allen möglichen Formen und Arten; der griechische Kaffee, der dem türkischen so merkwürdig ähnelt, Kohl in unendlichen gastronomischen Variationen. Überall findet man Feinheiten, die einzigartig sind, oder das, was in vielen europäischen Sprachen als „typisch“ bezeichnet wird, neben anderen, die verblüffend vertraut sind. Wenn man die Nationalhymne Liechtensteins anstimmt, hört man die Melodie von „God save the queen“. Das Gleiche, und doch anders, anders und doch gleich.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 72

Doch eine einzige Erfolgsgeschichte ist dieses Europa natürlich nicht, was immer deutlicher wird, je näher sich das Buch an die Gegenwart heranarbeitet. So gelang es im Laufe der 68-Bewegung und durch den langsamen Zerfall der Sowjetunion, viele Länder aus ihren Diktaturen zu befreien. Von Portugal über Spanien bis hin nach Osteuropa – viele langjährige Machthaber und ihre Staatsparteien verschwanden und die Demokratie trat ihren Siegeszug an.

Europa in Gefahr

Ebenso wie aber beispielsweise Länder wie Ungarn oder Polen das Joch der Diktatur abstreiften, ebenso zerbrechlich war aber die neue Freiheit, was sich aktuell in Ungarn unter Premier Viktor Orban am deutlichsten zeigt. Aber auch Polen mit der regierenden PiS-Partei war ein Negativbeispiel eines solchen Rückfalls in autokratische Zeiten, obgleich man dem Land nun nach der Abwahl der Partei unter ihrem Strippenzieher Jaroslaw Kaczynski einen raschen Weg zurück zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wünscht.

Die Demokratie, sie ist ein bedrohtes Gut, das zeigt Timothy Garton Ash in seinen Ausführungen sehr deutlich. Nicht nur der aktuell grassierende Rechtsruck in fast allen Ländern Europas, der durch Probleme mit der Migration verstärkt wird – auch sein eigenes Heimatland entschied sich lieber, populistischen Lügen und Unwahrheiten zu folgen, statt sich auf die Stärken der Europäischen Gemeinschaft zu besinnen, was Garton Ash lesbar schmerzt:

Ich verspürte einen beinahe körperlichen Schmerz, als nach dem Brexit die europäischen Flaggen an offiziellen Gebäuden in Großbritannien abgenommen wurden und wir stattdessen mit dem Schauspiel der Churchill-Parodie Boris Johnson konfrontiert waren, der jetzt allein von zwei Union Jacks flankiert wurde. Etwas Größeres war verloren gegangen, so wichtig wie die Freizügigkeit oder die Mitgliedschaft im Binnenmarkt: das Bestreben, gleichzeitig unser nationales Selbst und mehr als nur unser nationales Selbst zu sein.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 177

Gut lesbar, unterhaltsam, minimal elitär prunkend

Hier wird auch die Erzählweise dieses sehr gut lesbaren Buchs offenbar. Denn anstelle von Fußnoten und Zitaten entscheidet sich Garton Ash, seine Quellen nur auf der Verlagshomepage nachzuweisen und auf lange Zitate und Zeugnisse seiner eigenen Bildung zu verzichten. Stattdessen ist sein Buch ganz in der angelsächsischen Tradition der Geschichtsschreibung verhaftet. Das bedeutet einen flüssigen, barrierefreien Stil, der sich auch subjektive Wertungen und Einordnungen erlaubt. Seine Ausführungen sind nachvollziehbar, gut lesbar und wirklich unterhaltsam (übersetzt durch Andreas Wirthenson).

Manchmal gerät das Ganze dabei doch etwas arg elitär prunkend, etwa wenn Garton Ash immer wieder auf seine Kontakte und Zugänge zu den Schaltzentralen der Macht verweist. Von Gesprächen im Kanzlerbungalow mit Helmut Kohl über Hintergrundgespräche mit Tony Blair bis hin zu Konsultationen mit Ang Suu Kim oder Viktor Orban stellt sein Buch die Weltläufigkeit seines Verfassers sehr gerne aus.

Weil das aber mit erkenntnisreichen Passagen und neben allem Sinn für die großen Momente auch durchaus mit einem Sinn für Selbstkritik und dem Benennen von Fehleinschätzung einhergeht, sehe ich das diesem ebenso gut vernetzten wie gut erzählenden Professor und Träger des Aachener Karlspreises sehr gerne nach.

Fazit

Europa ist eine unterhaltsame Reise durch fast 80 Jahre europäischer Geschichte. Volten. Erfolge und Niederlagen, all das betrachtet Timothy Garton Ash in diesem persönlich Buch, das als Einführung in die EU hervorragend funktioniert. Neben allem Enthusiasmus für die europäische Idee lässt das Buch durch seinen Rückblick auf Vergangenes auch die Gegenwart besser verstehen. Nicht zuletzt macht Europa zudem klar, was nicht nur in diesem Jahr in Form der Europawahlen auf dem Spiel steht.

Denn einmal mehr gilt, was auch Garton Ashs Kaleidoteppich zeigt: Europa ist mehr, als die Summe seiner Einzelteile. Und wir sollten gut achtgeben darauf, damit dieser Teppich ebenso bunt und faszinierend bleibt, wie er es in den letzten achtzig Jahren war.


  • Timothy Garton Ash – Europa. Eine persönliche Geschichte
  • Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
  • Produktnummer 175045 (Buechergilde Gutenberg)
  • 448 Seiten. Preis: 32,00 €
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Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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