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Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

In einem eigenwilligen Hybrid aus Bekenntnisroman, Werkschau, Bildungsroman und Werkstattbericht erzählt der Vorarlberger Arno Geiger von seinem Glücklichen Geheimnis und davon, wie dieses Geheimnis sein eigenes literarisches Schaffen beeinflusste. Dabei wird der Medienwandel und Werteverfall von Gedrucktem ebenso eindrücklich vor Augen geführt, wie auch so manches hartnäckige Schriftstellerklischee dekonstruiert wird.


Ein oder zwei Bücher genügen, man debütiert auf dem Literaturmarkt, bekommt am besten etwas Aufmerksamkeit und fortan hat man sich aller materieller Sorgen entledigt. Die Tantiemen sprudeln und man kann gut vom Erreichten leben. Noch immer halten sich solche Klischees vom Schriftsteller*innendasein, obwohl es wohl kaum eine Zeit gab, in der diese Vorstellungen vom glamourösen Schriftstellerdasein so wirklich zutraf, heute noch weniger als früher.

Nicht einmal die oberste Liga der Autor*innen, deren Werke breit rezipiert und vor allem in breiter Masse gekauft werden, kann sich so wirklich auf reine Buchverkäufe stützen. Lesetouren und Co sind heute ein fast unerlässliches weiteres Einkommmensfeld, möchte man vom Schreiben leben können. Mit ein oder zwei Büchern alleine ist man noch längst kein gemachter Mann oder keine gemachte Frau.

Der Werdegang von Arno Geiger

Das ist auch die Erfahrung von Arno Geiger, den man wirklich zu schriftstellerischen Oberschicht zählen kann, hat er doch zuletzt mit seinen Romanen Unter der Drachenwand oder Der alte König in seinem Exil, dem Demenzbericht über seinen Vater, für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Arno Geiger war es auch, der als erster im Jahr 2005 den neu eingerichteten Deutschen Buchpreis mit seinem Roman Es geht uns gut gewann. Doch selbst ein Autor mit solchen Erfolgen war oder ist nicht vor materiellen Nöten und Existenzkrisen gefeit. Das zeigt Das glückliche Geheimnis eindrücklich.

Dabei zeichnet Arno Geiger in seinem Buch seinen Werdegang und die ökonomischen Realitäten ungeschönt nach. So lebt er Anfang der 90er Jahre in Wien in reichlich beengten Verhältnissen:

Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftsteller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem heruntergekommenen Haus bewohnte ich eine heruntergekommen Wohnung, dreißig Quadratmeter, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließenden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgabe von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 12

Das glückliche Geheimnis und das Altpapier

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis (Cover)

Hier beginnt das, was Arno Geiger als „Glückliches Geheimnis“ bezeichnet und das sich fortan durch sein Leben ziehen wird. Denn inmitten seiner kärglichen Existenz stolpert er eines Tages über fünf vor dem Altpapiercontainer abgestellte Kartons, die Romane und Ausstellungsbände enthalten. Diese Entdeckung wird zum initialen Auslöser für seine Beschäftigung mit Altpapier. Fortan durchsucht er Container, schleppt Briefkonvolute, ausgesonderte Romane und Bildbände mit nachhause und veräußert diese teilweise gewinnbringend zusammen mit seiner Freundin bei Flohmärkten oder Antiquariaten.

Während er und sein Lektor für die Platzierung seiner ersten Romane im Programm des Hanser-Verlags kämpfen, bedeutet ihm die Suche nach neuen Geschichten und Entdeckungen Inspiration für sein eigenes Schreiben, in das er in diesem Buch an mehreren Stellen Einblick gibt.

Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann. Ich erfand zwei Dutzend Hasenfelle (Orte, Charaktere, Handlung), benutzte mein künstlerisches Talent als Nadel und nähte mit den gesponnenen Fäden und erfundenen Fellen einen Mantel: das Kunstwerk.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 128

Werkstattbericht, Literaturbetriebsprosa und Medienwandel

Neben diesem Einblick in die Schreibwerkstatt und die Ideenfundgrube für seine Romane ist Das glückliche Geheimnis auch ein Stück weit Literaturbetriebsprosa. So dürften Geiger und der ehemalige Hanser-Verleger Michael Krüger nicht unbedingt beste Freunde sein, seinen Schilderungen über die mühseligen Platzierungen seiner Romane im Programm nach. Die Hintergründe seines Gewinns des Deutschen Buchpreises, erschöpfende Lesetouren und Einblicke in den wenig glamourösen Schriftstelleralltag sind Bestandteil dieses Buchs. Vor allem aber ist das Buch eine eindrückliche Illustration über den Medienwandel und den Werteverfall des Gedruckten.

Erlöst Geiger zu Beginn seiner Karriere noch Geld mit dem Verkauf der Altpapierfunde, so wirkt dies heute nur ebenso anachronistisch wie das Bild einer sorgenfreien Schriftstellerexistenz.

Wohl jeder, der schon einmal ein nur wenige Monate altes Buch auf Momox oder einer anderen Plattform wie Ebay und oder modernen Antiquariate monetarisieren wollte, wird erfahren haben, dass sich die Ankaufspreise selbst für neu erschienene Gebrauchsliteratur nur noch im Centbereich bewegen. Längst einen florierenden Markt für die Wegwerfware Buch entstanden, was Geiger beim Rückblick auf seine Touren selbst anekdotisch beobachtet, als er festhält, dass die Liebesromane weniger und die Kriminalromane mehr wurden, Noten im Altpapier verschwanden und dafür die Weinkartons zunahmen.

Wie rasch das Buch vom gutverkäuflichen Objekt zur Dutzendware geworden, die Öffentliche Bücherschränke und Wühlkisten verstopft, das führt Das glückliche Geheimnis eindringlich vor Augen.

Das Buch als Wegwerfware

Schon längst ist das Buch zu einer Wegwerfware geworden, deren Wiederverkauf zumindest finanziell schon lange nicht mehr lohnt. Das führt bei Geiger dann auch zu einer besonders pikanten Szene, als er, der Träger des Deutschen Buchpreises, bei einer seiner Altpapiersuchen schließlich seinen eigenen ausgezeichneten Roman Es geht uns gut aus dem Müll fischt.

Einzig und allein die Überhöhung seines Wühlens im Altpapier irritiert in diesem Buch etwas. So schreibt sich Geiger aufgrund seines Tuns zum gesellschaftlichen Bodensatz der Gesellschaft herab und sieht sich sozial markiert in der Gosse. Seine Touren zu den Altpapiercontainer schildert er als eine Art Wiedergänger von Doktor Jekyll & Mr Hyde. Ich bin mir bei solchen Bezeichnungen nicht wirklich sicher, ob hier nicht etwas Banales nur einfach dramatisch überhöht wurde. Heute würde man Arno Geiger doch wohl eher zu seinem nachhaltigen und ressourchenschonenden Umgang mit dem gedruckten Wort gratulieren und ihn als Paten eines Öffentlichen Bücherschranks verpflichten, denn ihn gleich festzunehmen, wie er es in diesem Buch für sich fast nahelegt.

Fazit

Von solchen Überdramatisierungen abgesehen ist Das glückliche Geheimnis ein Buch, das den Mythos des sorgenfreien und glamourösen Schriftstelleralltags dekonstruiert und das wie eine Dreingabe zum bisherigen literarischen Schaffen des Vorarlberger Autors. Das Buch beleuchtet die Entstehungshintergründe seiner Romane, erzählt von seinem Werden und seinen familiären Wurzeln und legt nun eben auch mit viel Geraune und Bombast die Inspirationsquellen seines Schreibens offen. Eine Mischung, die trotz der disparaten Elemente aufgeht und vor allem für Geiger-Fans doppelt interessant sein dürfte.


  • Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis
  • ISBN 978-3-446-27617-8 (Hanser Verlag)
  • 240 Seiten. 25,00 €
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Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus

Verträgt sich der Kapitalismus mit Umweltschutz und den Anforderungen an eine grüne Zukunft? Ulrike Herrmann meint nein und spricht sich in ihrem neuen Sachbuch für Das Ende des Kapitalismus aus und setzt statt auf neue Technologien auf Grünes Schrumpfen und die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.


Es könnte doch so einfach sein, wenn man einigen Debatten gerade nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland verfolgte. Wir müssen rasch die erneuerbaren Energien ausbauen, ein paar Leitungen aus dem windstarken Norden in den Süden ziehen, den Umstieg der Verbrenner auf E-Autos vorantreiben, ein paar CO²-Emissionen einsparen, Wärmepumpen hinters Haus – und dann wird das schon etwas werden mit der Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens und einer grünen Zukunft. So einfach kann es sein, schenkt man einigen Stimmen dieser Tage Glauben.

Kann es eben nicht, wie Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus behauptet. Denn um unseren Kindern eine wirklich ein einigermaßen lebenswerte Erde zu hinterlassen, braucht es weitaus radikalere Ansätze als ein Windrad vor der Haustür oder einen Solarpanel auf dem Dach. Denn eine ökologisch verträgliche Zukunft und Kapitalismus, das geht nicht zusammen. Vielmehr braucht es ein Ende des Kapitalismus und sogenanntes Grünes Schrumpfen, um auf dieser Erde den Ansatz einer Chance zu haben, unsere Umwelt und damit uns zu retten. Ein Vorbild für einen solchen Ansatz findet sie in der britischen Kriegswirtschaft

Eine Geschichte des Kapitalismus

Doch zunächst beginnt Ulrike Herrmann ihr Buch mit einer Geschichte des Kapitalismus. Warum entstand dieser im Globalen Norden und warum waren es erst die vergleichsweise hohen Löhne in Großbritannien, die ausgehend von der britischen Insel zu einem Erstarken des Kapitalismus und dessen späterer Entfesselung führten? Das erzählt die taz-Journalistin einführend, ehe sie sich der aktuellen ökonomisch-ökologischen Lage unseres Landes und der Erde widmet.

Sie blickt auf die Zerstörung, die unser menschliches Handeln angerichtet hat und beleuchtet das krasse Ungleichgewicht zwischen Globalem Süden auf der einen und dem Globalen Norden auf der anderen Seite, dessen momentaner Ressourcenverbrauch momentan eigentlich zwei bis drei Erden bräuchte, um so in der Zukunft in irgendeiner Form Bestand haben zu können. Ein Zustand, der eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist, der beständiges Wachstum braucht, um irgendwie fortexistieren zu können, oder wie es Ulrike Herrmann formuliert:

Der Kapitalismus ist faszinierend, weil er Wachstum und Wohlstand erzeugen kann. Aber leider benötigt er diese Expansion auch, um stabil zu sein und nicht in Krisen zu schlittern. Dieser Wachstumszwang kollidiert jedoch mit dem begrenzten Planeten Erde: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich.

Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus, S. 84

Schon jetzt sind entscheidende Kipppunkte überschritten, die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens so gut wie unmöglich und die wahren Gefahren wie das die Freisetzung von in Mooren gebundenem Methan, der unwiederbringliche Verlust und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlage so gut wie unumkehrbar. Um auch nur einen halbwegs realistischen Ansatz der Rettung unseres Planeten zu haben, braucht es radikale Ansätze.

Grüne Technologie als Irrweg

Das Hoffen auf neue Technologien, vollständigen grünen Strom und den Fortbestand der Industrie und Arbeitsplätze in der aktuellen Form sind dabei nur Schimären, die wir verzweifelt zu haschen versuchen, um unsere Augen vor der unbequemen Wahrheit noch etwas weiter verschließen zu können und an Illusionen festzuhalten, die eben nicht mehr als das sind.

Ulrike Herrmann - Das Ende des Kapitalismus (Cover)

Denn in Das Ende des Kapitalismus zerstört Ulrike Herrmann gnadenlos und mit Verve sicher geglaubte Wahrheiten und angenehme Scheinsicherheiten. Wind und Sonne? Keine verlässlichen Energielieferanten. Atomenergie? Scheidet ebenfalls aus. Die Probleme von Speicherkapazitäten und Leitungsstrukturen nicht gelöst und technisch wohl auch in Zukunft kaum praktikabel umsetzbar. Generell die Vorstellung von vollumfänglicher grüner Energie eben eine Schimäre und nicht mehr als das (auch wenn beispielsweise ihr ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt Zweifel an dieser Hypothese äußert).

Das bisher praktizierte ökologisch-ökonomische Lebensmodell ist nicht zu halten und muss nicht nur reformiert, sondern gleich abgeschafft werden, so die mit vielen Quellen untermauerter Befund der Journalistin (die dabei auch historische Mythenbildung zu Fall bringt, wie etwa die der Kolonien, deren wirtschaftliche Bedeutung man völlig überschätzt und die abgesehen von den Verbrechen und Genoziden vor Ort wirtschaftlich immer ein reines Zuschussgeschäft waren, überstieg ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt sowohl in Sachen Import als auch Export nicht einmal ein Prozent)

Digitalisierung und technische Innovationen werden uns nicht retten können, auch Wärmepumpen und neue Wohnmodelle sind nur minimale Pflaster auf einer Wunde, die im übertragenen Sinne nach einer anderen Heilung verlangt als nur kleinteiliger Kurpfuscherei.

Ein Ausweg durch Grünes Schrumpfen

Einen Ausweg sieht Herrmann nur im sogenannten Grünen Schrumpfen, einer Verabschiedung von bisher praktizierten ökonomischen Leitlinien und dem generellen Ende des Kapitalismus, dessen Bedürfnis nach Wachstum nicht mit einer Welt kompatibel ist, die dieses Wachstum nicht mehr hergibt.

Dass das nicht schmerzhaft sein kann, sondern durchaus funktioniert, dafür zieht die Journalistin das Beispiel Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heran. Denn dort hatten sich die Eliten noch zu lange in Sicherheit gewiegt, gar mit dem Hitler-Regime sympathisiert, ehe sie sie von heute auf morgen in einem Krieg wiederfanden, auf den das Land trotz moderner Truppen nicht wirklich vorbereitet war.

So musste plötzlich die ganze Wirtschaft des Landes auf Kriegsproduktion umgestellt werden, Lebensmittel rationiert und von vielen Briten und Britinnen neue Jobs in der Rüstungsindustrie ergriffen werden, um gegen das kriegshungrige Hitler-Deutschland eine Chance zu haben.

Dabei erkennt Herrmann gerade in der egalitären Natur dieser Kriegswirtschaft den großen Vorteil, der auch dem krassen Ungleichgewicht unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen hätte. Denn so standen allen Bürger*innen dieses Landes die gleiche Zahl an Kalorien und übrigen Zuteilungen zu, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrer Klasse. Die ganze Bevölkerung wurde in dieser staatlichen Planwirtschaft gleichbehandelt, was auch mit Verzicht und der Streichung von Privilegien einherging. In unserer Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer mehr werden, in der oftmals das finanzielle Vermögen und die Herkunft über Chancen in der Bildung und Gesellschaft entscheiden, tatsächlich ein radikaler, aber bedenkenswerter Ansatz.

Eine solche egalitäre Einbeziehung der ganzen Gesellschaft könnte laut Ulrike Herrmann dazu angetan sein, die immer größer werdende Kluft zwischen einem kleinen Prozentsatz der Gesellschaft und dem vom Kapitalismus nicht profitierenden Rest zu verkleinern und durch neue Arbeits- und Lebensmodelle Sinn zu stiften und die von David Graeber einst als Bullshit-Jobs getauften gut bezahlten, aber sinnlosen Tätigkeiten zu überwinden. Die Vorteile fächert Ulrike Herrmann in ihrer ganzen Breite auf, wenngleich die Journalistin auch nicht verschweigt, dass unser momentaner Lebensstandard so oder so nicht zu halten sein wird und etwa Flugreisen oder Früchte außerhalb ihrer Saison ein Auslaufmodell sein dürften.

Ein radikaler Denkansatz

Man kann Ulrike Herrmann wahrlich nicht vorwerfen, dass ihr radikaler Denkansatz zu wenig ambitioniert sei. Vielmehr legt sie einen großen Strategieentwurf für eine halbwegs lebenswerte Zukunft vor, der in vielen Punkten neben der starken Illusionszertrümmerung aber auch durchaus Bereitschaft zu einer Neubewertung der Lage erkennen lässt. Oft betont die Journalistin, dass das Buch gerade in Sachen Innovationen und technischer Neuerungen den gegenwärtige Stand und die absehbare Zukunft abbildet. Sie selbst führt in einigen Passagen auch Gegenbeispiele an, die ihrer eigenen Hypothese widersprechen oder bei denen sich sicher geglaubte Annahmen als Irrtümer herausstellt.

Das mag zwar in einigen Punkten auch zutreffen, aber an der gesamtpessimistischen und alarmistischen Grundhypothese des Buchs dürfte das auch wenig ändern (obgleich man sich natürlich anderes wünscht, Herrmann aber bei ihrer stringent durchargumentierten Schrift leider auch häufiger rechtgegeben muss, als man das eigentlich möchte. Aber tief in sich ahnt doch wohl aber jeder und jede vernunftbegabte Leser*in, dass sich unser Leben in Zukunft nicht mehr so annehmlich gestaltet wird, wie wir es aktuell gewohnt sind).

Fazit

Auch wenn die Verzahnung von Kapitalismusgeschichte und illusionszertrümmernder Streitschrift in manchen Passagen nicht ganz aufzugehen vermag und man an manchen Behauptungen zweifeln darf, so ist Das Ende des Kapitalismus doch ein eindringliches Buch, das uns die Webfehler des kapitalistischen Systems und die beschränkten Potentiale der grünen Energien und der damit verbundenen Technologien vor Augen führt.

Die Stärke von Ulrike Herrmanns Buch ist die Zugänglichkeit, mit der sie von ihrem Thema schreibt. Kurze Kapitel, die die jeweilige These schon im Titel tragen, werden allgemeinverständlich von ihr ausgeführt und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat belegt. Dabei findet sie immer wieder plausible Bilder wie das des Radfahrers, der als Sinnbild für den Kapitalismus steht. Tritt er nicht mehr in die Pedale um voranzukommen, so droht er umzukippen, denn der Stillstand ohne Bodenkontakt ist für ihn so gefährlich wie der Stillstand für den globalen Kapitalismus.

Stellte Frederic Jameson einst fest, dass man sich leichter das Ende der Welt denn das des Kapitalismus vorstellen könne, so zeigt Ulrike Herrmann hier, dass das durchaus geht.

So ist Das Ende des Kapitalismus ein massenkompatibles Buch, das unbequeme Wahrheiten ausspricht und das energisch für eine kapitalismusfreie Welt eintritt, die weit mehr Chancen als Risiken bereithält, wenn man der Zukunftsvision der Journalistin Glauben schenken darf.


  • Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus
  • Artikelnummer 174324 (Büchergilde Gutenberg)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

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Eberhard Seidel – Döner

Ist ein Deutschland ohne den Döner denkbar? Wer Eberhard Seidels türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners liest, könnte da so seine Zweifel bekommen. Denn Migration, ökonomische Teilhabe, Rassismus, die Gewalt der Wendejahre, all diese Themen lassen sich fast mustergültig an der Geschichte des Döners in Deutschland ablesen, wie Seidel beweist. Und endlich wird auch die Frage geklärt, ob es jetzt Döner Kebap, Dönerkebab, Döner-Kebap oder Döner kebab heißt.


Mit Soße oder ohne, das Fleisch mit der Maschine geschnitten oder per Hand, die Zusammensetzung des Fleischspießes mit Lamm, Kalb oder Schwein – oder doch eine pflanzliche Alternative im Brötchen? Überhaupt das Brötchen – soll es ein Fladenbrot sein oder eine andere Art von Gebäck?

Die Frage nach dem „richtigen“ Döner ist eine Philosophie, über die es sich genauso vortrefflich streiten lässt wie die Frage, woher der Döner überhaupt stammt und wer ihn erfunden hat. War es ein türkischer Meister aus Bursa? Oder ist nicht eigentlich der griechische Bruder des Döners, das Gyros, das lange vor dem eigentlichen Döner populär wurde? Und warum hat sich der Döner ausgerechnet in Deutschland zum Massenphänomen entwickelt?

All diesen Fragen geht Eberhard Seidel in seinem Sachbuch nach und entwirft dabei eine wirkliche Kulturgeschichte des Döners, wie es der Untertitel des Buchs verspricht. Dabei zeichnet er ein Bild von den Ursprüngen des Gerichts über die Entwicklung des Döners als populäre Speise durch türkischstämmige Einwander*innen bis hin zu dem Produkt, das heute in den schier unfasslichen Stückzahlen von einer Milliarde Dönerprodukte pro Jahr in Deutschland verzehrt wird (wenngleich man hier Schawarma, Köfte und Co. neben den reinen Dönern hinzuzählen muss)

Die Entwicklung des Döners

Eberhard Seidel - Döner (Cover)

Seidel präsentiert Rezepte aus den Anfangstagen des Döners und blickt auf die Entwicklung dieses Gerichts, das in der Fremde dank seines unvergleichlichen Preis-Leistungsverhältnisses zum Erfolgsprodukt wurde. Er beschreibt die Kunst der Schichtung der Dönerkegel, geht aber auch auf die Probleme ein, die durch einen unregulierten Markt von Berlin ausgehend entstanden, ehe die Berliner Verkehrsauffassung dem kulinarischen Wildwuchs und geschmacklichen Schindluder einen Riegel vorschob. Denn die Geschichte des Döners ist auch eine Entwicklungsgeschichte, die die zunächst kaum Regeln kannte und deren kulinarische Revolution durch Innovationen und erst spät durch einheitliche Standards zu dem Massenphänomen wurde, das heute aus weder Fußgängerzonen, noch aus Industriegebieten oder Bahnhofsvierteln wegzudenken ist.

Dabei zeigt Seidel, wie erstaunlich es war, dass innerhalb kurzer Zeit die Gemeinschaft der Dönerproduzent*innen zu einheitlichen Spielregeln wie der Berliner Verkehrsauffassung kam, gleichzeitig aber bislang jeder Versuch einer Dönerfranchise á la MacDonalds oder Nordsee gescheitert ist. Und Seidel zeigt, welchen Muts und welcher Kreativität es bedurfte, um den Döner in Deutschland zu etablieren.

Denn zuvorderst ist Döner in meinen Augen auch eines, nämlich eine Geschichte der Migration und des Rassismus, wie Eberhard Seidel deutlich zeigt.

Eine Geschichte der Migration

Er beschreibt, wie die Entwicklung mit der schwierigen Akzeptanz der türkischen Mitbürger*innen einherging, die man eigentlich nur als „Gastarbeiter“ akzeptieren wollte, ehe diese durch harte Arbeit und Selbstausbeutung in der deutschen Gesellschaft Fuß fassten und somit die Kulinarik der Deutschen langsam aber entscheidend prägten.

Vor allem auf die gewaltsame Ausgrenzung, Bedrohung und Ermordung von türkischen Bürger*innen in Ostdeutschland während der Wendezeit geht Seidel dabei ein. Er erzählt von antitürkischer Stimmung, die in den 70er und 80er Jahren durch Medien, NPD und anderen Parteien als sogenanntes „Türkenproblem“ geschürt wurde, und das sich vor allem in der Wendezeit im Osten fortsetzte.

Erschreckend die Geschichte des türkischen Unternehmers, Izzet Aydogdu, der zusammen mit seiner deutschen Partnerin Ursula Bielack für den Döner den Osten kulinarisch erschließen wollte und dafür die „Dönerix“-Kette ins Leben rief. Die Gewalt der Neonazis gegen Aydogdus Lebenswerk, die in Gewaltexzessen während dieser Baseballschläger-Jahre mündete, schockiert.

Diese Geschichte verstört dadurch so sehr, da diese Gewalterfahrung und Ausgrenzung des Hoyerswerdaer Unternehmerpaares eben kein Einzelschicksal ist, wie Seidel zeigt. In seiner Kulturgeschichte des Döners macht er auf das Kontinuum der Gewalt und des Rassismus aufmerksam, dem sich die türkische Community seit ihren Anfangstagen in Deutschland ausgesetzt sieht. Er schlägt einen einen weiten Bogen der mit dem Döner assoziierten Gewalt – und landet damit schlussendlich wieder in unserer Gegenwart.

Das Kontinuum der Gewalt

Unvollständig nur die seitenlange Liste, die Übergriffe und Anschläge gegen nicht-deutsche Restaurantbetriebe dokumentiert, bei der Seidel für die Aufzählung alleine der Jahre von 2000 bis 2004 ganze elf Seiten benötigt.

Trauriger Höhepunkt – und sicherlich nicht Schlusspunkt in dieser Darstellung der kontinuierlichen Gewalt gegen Migranten ist dabei die Mordserie an türkischstämmigen Kleinunternehmern, die von den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit schnell und respektlos als „Döner-Morde“ tituliert wurden und bei der jahrelang der Mörder innerhalb der türkischen Community gesucht wurde, ehe sich der wahre Charakter der rechtsextremen Mordserie offenbarte.

Auch der Gammelfleisch-Skandal, der einige Jahre vor dem Terror des NSU die Republik in Atem hielt, waren dabei ganz ähnliche Mechaniken in der öffentlichen Debatte zu beobachten, wie Seidel in Döner zeigt.

Denn jener Skandal, der eigentlich einer der deutschen Fleischproduzenten war, wurde durch die einschlägigen Bekannten wie etwa die Bild-Zeitung schnell zum „Döner-Skandal“ umetikettiert und damit der türkischen Community beziehungsweise einer ominösen „Döner-Mafia“ in die Schuhe geschoben, obwohl er dieser Skandal doch eigentlich auf den kriminellen Machenschaften skrupelloser deutscher Geschäftsmänner beruhte, bei denen die Türk*innen auch Opfer der kriminellen Machenschaften waren.

Aber lieber schob man den Skandal den vermeintlich immer noch Fremden zu, statt sich mit den wahren Ursachen des Skandals zu befassen, wie dies schon unzählige Male der Fall war – und immer wieder sein wird. Denn die deutsche Bevölkerung tut sich noch immer schwer mit der Akzeptanz jener, die zwar für preiswerte Nahrung sorgen, denen man aber trotzdem noch immer bisweilen mit Klischees, Verachtung und Rassismus gegenübertritt.

Fazit

Dieses schizophrene Verhältnis arbeitet Eberhard Seidel in Döner eindrucksvoll heraus und schafft damit eben weitaus mehr, als nur eine Geschichte des Döners zu erzählen, wie er es bereits im Vorgängerbuch Aufgespießt – Wie der Döner über die Deutschen kam, tat. Vielmehr vereint das Buch Kulinarik-Historie und Gesellschaftsanalyse, Migrationsgeschichte und Genuss.

Es ist dabei gerade auch die gesellschaftliche Komponente, die das Buch so lesenswert und eindringlich macht. Sie ist es, die mich auch für Vegetarier*innen und Veganer*innen eine unbedingte Leseempfehlung für Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte aussprechen lässt.

Und um hier abschließend die Eingangsfrage aufzulösen, sei auf die dudengerechte Lösung der Benennungsfrage in Sachen Drehspieß hingewiesen. Diese lautet korrekt geschrieben Döner Kebap, wie Eberhard Seidel im ersten Kapitel des Buchs erklärt. Damit wäre das nun auch geklärt.


  • Eberhard Seidel – Döner: eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
  • Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
  • Bestellnummer: 174030 Preis: 22,00 €

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Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz

Das Geheimnis großer Literatur

Was macht ihn aus, den guten Stil? Worauf kommt es an, was unterscheidet den Könner vom mittelmäßigen Autor beziehungsweise die Könnerin? Michael Maar wählt in seinem umfangreichen Stilführer die einzig erfolgsversprechende Herangehensweise: die der Subjektivität. Schon zu Beginn macht Maar klar, dass guter Stil genauso wie die Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dennoch versucht er sich an einer Unterscheidung von gutem und schlechtem Stil und rückt dabei sowohl die Makro- als auch die Mikroebene des Stils in den Blick

Herzstück des Romans ist das Porträt von 50 prägenden Stilist*innen der deutschen Sprache. Bewusst konzentriert sich Maar nur auf deutschsprachige Autor*innen (die Tücke der Übersetzung von Stil in eine andere Sprache streift er zu Beginn kurz). Einsetzend in der Weimarer Klassik beginnt die Reise durch die fiktive Bibliothek, macht einen Abstecher zu den österreichischen Autor*innen und endet dann in der Gegenwart bei Wolfgang Herrndorf und Clemens J. Setz.

Was macht guten Stil aus?

Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz (Cover)

Um diese Bibliothek herum gruppiert Maar einige Kapitel in dem er sich mit dem Handwerkszeug für guten Stil auseinandersetzt. Was ist Stil und was versteht der Autor darunter? Von der Interpunktion bis hin zum gelungenen Nebeneinander von Hypo- und Parataxen reichen die Betrachtungen des Germanisten, die immer nachvollziehbar und klar argumentierend sind. Was macht eine Metapher zu einer gelungenen? Warum klingen manche Dialoge so furchtbar hölzern, andere wieder geistreich und mitreißend? Und was hat es mit der titelgebenden Schlange im Wolfspelz auf sich?

Auch einen Kürzestausflug zur Lyrik erlaubt sich Maar und stellt fest, dass diese ja fast die Essenz von Stil beinhaltet. Durs Grünbein, Ann Cotten, Jan Wagner und Monika Rinck werden in den Blick genommen und ihre lyrischen Produktionen genau untersucht. Ein vergnüglicher Ausflug in die Welt der Erotik und des Todes schließt sich an, ehe die Auflösung der beiden Literaturquiz und ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit bibliographischen Angaben dieses monumentale Buch abschließen

Mit Leidenschaft und Humor

Um gleich einmal die von Michael Maar so klug genutzte subjektive Herangehensweise auch für diese Besprechung in Anspruch zu nehmen: die Lektüre von Die Schlange im Wolfspelz macht einfach große Freude. Michael Maar argumentiert klar und nachvollziehbar. Auch ist er professionell genug, manche Entscheidungen über den jeweiligen Stil auch dem Leser selbst zu überlassen oder eigene ambivalente Urteile zuzulassen (so etwas bei Hans Henny Jahnn).

Auch ist er so frei, die jeweilige Handschrift der gerade besprochenen Stilistin oder des Stilisten sanft zu imitieren, zu umspielen und so die jeweiligen Merkmale in den eigenen Text zu überführen. Das ist manchmal ironisch, mal kalauernd, mal schmunzelnd, aber immer respektvoll. Ein Beispiel für alle diese Merkmale zugleich findet sich in folgendem Paragraph, der sich mit der Prosa Arno Schmidts auseinandersetzt:

Wir behalten uns vor, die Prosa des späten Schmidt bei aller genialischen oder genitalischen Interessantheit letztlich partiell entsetzlich zu finden. Sein Mädchen- und Frauenbild ist es in jedem Fall. Räusper: Phall

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 521

Mit einer Faszination für das Entlegene

Schön auch neben dem Humor, der in jeder dieser über 650 Seiten steckt, ist die Leidenschaft Michael Maars für das Entlegene, das Apokryphe. Neben allem Erwartbaren (Thomas Mann, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach) überrascht er immer wieder. So lobpreist er etwa die Prosa Hildegard Knefs:

Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 394

Auch andere schon wieder fast vergessene Autor*innen wie Wilhelm Raabe, Unica Zürn, Alexander Lernet-Holenia oder Ulrich Becher lässt er seine Aufmerksamkeit zuteilwerden und macht Lust auf ihre (Wieder)Entdeckung. Wie ein guter Lehrer macht er neugierig, reist manche Erzählungen an, ergeht sich aber nicht in ausufernden Inhaltsreferaten oder ähnlich Unarten. Vielmehr sind seine Porträts der Autor*innen wirkliche Kurzporträts, pointiert und konzise. Sie machen Lust auf eine weitere Beschäftigung mit den jeweiligen Schreibenden.

Immer wieder illustriert er seine Geschmacksurteile mit passenden Zitaten aus entsprechenden Werken und nutzt auch das Stilmittel des Vergleichs, um die jeweiligen Besonderheiten seiner Autor*innen herauszuarbeiten. So stellt er beispielsweise eine Wasserfallszene aus dem Zauberberg von Thomas Mann der aus dem Oeuvre Heimito von Doderers – jenem „austriakischen Kaktus“, so Maar – gegenüber.

Evident gelingt es ihm, Übereinstimmungen oder Unterschiede im Stil so herauszuarbeiten. Auch zeigt er, warum man Felix Salten zugleich als Verfasser des Bambis und der Josefine Mutzenbacher zuordnen darf (an den Satzzeichen sollt ihr ihn erkennen!). Hätte man Michael Maar als Deutschlehrer in der Schule gehabt, die Literaturbegeisterung hätte um sich gegriffen. Viele Lektüretrauma hätten vermieden und unzählige Schüler*innen über das Schulende hinaus zu Leser*innen gemacht werden können. Ein Jammer!

Mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit

Auch macht Maar keinen Hehl aus der Tatsache, dass sein Buch keinen umfassenden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. So formuliert er am Ende seines Buchs:

Als der Pfiff der Trillerpfeife ertönte, die letzten Türen geschlossen wurden und die Lokomotive langsam in Richtung Verlagshaus losdampfte, verblieb noch ein Grüppchen Passagiere im Wartesaal Daß es Droste-Hülshoff, Horváth, Hebbel, Mörike, Nestroy, von Keyserling, Jonson, Kempowski, Dürrenmatt, Rühmkorf, Serner und ein paar andere nicht mehr auf den Zug geschafft haben, ist zu bedauern und keineswegs ihre Schuld.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 545

Dieser Zustand ist natürlich bedauerlich. Aber einerseits lässt er sich mit der passenden Lektüre leicht beheben. Und andererseits gibt er Hoffnung auf einen Nachschlag, von dem man gerne noch hätte.

Fazit

Dieses Buch ist ein Sachbuch auf höchstem Niveau. Kenntnisreich, anregend, humorvoll. Michael Maar gelingt es hier unnachahmlich, Lust auf Literatur zu machen. Diese Reise durch die Welt der deutschen Literatur ist ein Erlebnis. Was man alles mit Sprache anfangen kann, hier wird es einem beim Lesen offenbar. In die Hände dieses kundigen Reiseleiters kann man sich ohne Sorgen begeben. Überraschungen, Kurzweil, Begeisterung. All das erwartet einen auf den vielen hundert Seiten dieses Buchs. Es ist anregend, geistessprühend, kurzweilig, bestechend klar im Urteil. Und es zeigt, wie beglückend das Leben als Leser*in sein kann.

Dass Die Schlange im Wolfspelz für den ersten Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde, begrüße ich sehr. Maars Buch verdient alle Ehre und viele weitere begeisterte Leser*innen. Denn wer hier keine Lust auf Literatur bekommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen!

  • Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz
  • ISBN 978-3-498-00140-7 (Rowohlt)
  • 656 Seiten. Preis: 34,00 €
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Casey Cep – Grimme Stunden

Sechs Morde, ein Prediger und Harper Lees letzter Roman

Zeit Verbrechen, Stern Crime, zahlreiche Dokumentationen echter Verbrechen in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: das Genre des True Crime boomt. Die Nacherzählungen und Aufbereitungen von Morden und anderen Gräueltaten erfreuen sich größter Beliebtheit. Die Medien haben diesen Trend schon lang erkannt und bedienen die Nachfrage fleißig. Man irrt jedoch, reduziert man die Faszination am Genre True Crime auf ein Merkmal unserer Zeit.

Denn schon vor Jahrzehnten gab es diese sensationslüsterne Betrachtung solcher Verbrechen. Man denke etwa nur an Truman Capotes Roman Kaltblütig aus dem Jahr 1965, der den Mehrfachmord an einer Farmerfamilie in Kansas beschreibt. Eine enge Freundin Truman Capotes, die ebenfalls nach einem literarischen Ausdruck für die Darstellung eines Verbrechens suchte, war Harper Lee. Die Journalistin Casey Cep schildert in ihrem erzählenden Sachbuch Grimme Stunden den Versuch Harper Lees, einen Tatsachenroman über einen todbringenden Reverend im Alabama der 70er Jahre zu schreiben. Gewissermaßen der Fall eines True Crime-Buchs im True Crime-Buch.


Für ihre Erzählung wählt Casey Cep eine Dreigliederung. Im ersten Teil erzählt sie die Geschichte des Reverend William Maxwells. Dieser wirbt in Alabama für seinen Glauben, ist selbst aber alles andere als fromm. Immer wieder kommt es zu mysteriösen Morden im Umfeld des Predigers. Man findet mehrmals Partnerinnen oder Verwandte von Maxwell ermordet in Autos, die am Rande von Straßen achtlos abgestellt wurden. Ein Nachweis der Tötung durch den Prediger fällt allerdings schwer. Eine Mordanklage muss niedergeschlagen werden.

Auffallend aber: immer wenn ein Verwandter oder Partner stirbt, profitiert William Maxwell von zahlreichen zuvor abgeschlossenen Lebensversicherungen. Nicht nur bei den Versicherern lässt die Totenquote im Umfeld des Predigers die Alarmglocken schrillen.

Nach insgesamt sechs Morden in seinem Umfeld, steht William Maxwell dann wieder vor Gericht, wo er während des Prozesses erschossen wird. Damit endet der erste Part von Grimme Stunden.

Ein mörderischer Prediger, ein Verteidiger, Harper Lee

Casey Cep - Grimme Stunden (Cover)

Der zweite Teil behandelt dann die Geschichte von Tom Radney, der als Anwalt für den Mörder William Maxwells vertritt. Sie erzählt von seiner Prozessführung, der Gewinnung von Geschworenen, den taktischen Manövern vor Gericht. Ebenso erzählt Cep auch von Radneys Geschichte, die bestürzend aktuell wirkt. Als demokratischer Bewerber wollte er sich für einen Sitz im Senat bewerben und eine Stimme für die benachteiligte schwarze Bevölkerung im Süden sein. Aufgrund einer Kampagne sah er sich allerdings von Verleumdung und Bedrohung ausgesetzt, sodass er sich letztendlich von seinen politischen Ambitionen verabschiedete. Stattdessen erfand er sich gut vernetzter Strippenzieher und Ansprechpartner für sämtliche Belange neu. Und so ist er es, der den Todesschützen verteidigt.

Eine genaue Beobachterin des Prozesses ist Harper Lee, deren Geschichte den letzten und größten Teil des Sachbuchs einnimmt. Sie war nach dem Welterfolg ihres Romans Wer die Nachtigall stört auf der Suche nach neuem Material. Ihr enger Freund Truman Capote hatte eine neue Möglichkeit aufgezeigt, um Realität in Literatur zu verwandeln. Und auch wenn sie mit Capotes Umsetzung haderte, so war das Genre des True Crime doch eine reizvolle Möglichkeit für Harper Lee, um neuen literarischen Grund zu betreten.

Von ihrer Karriere, ihrer Freundschaft mit Capote, ihrem Versuch den Stoff in den Roman „The Reverend“ umzuwandeln (der schlussendlich nie erschien und verloren ist), davon erzählt sie in diesem letzten Teil.

Ein erzählendes Sachbuch mit leichten Mängeln

Und bei aller Begeisterung für das mitreißende Material: als erzählendes Sachbuch und True-Crime-Schilderung in der Schilderung konnte mich Grimme Stunden doch nicht rechtlos überzeugen.

Das beginnt bei der Übersetzung (Claudia Wenner), in der so einiges ruckelt und knirscht (was soll eine „Akkuratheit“ sein, ist es nicht viel mehr Akuratesse? Hätte man den „Saupfad“ nicht viel besser mit dem geläufigeren „Viehwechsel“ übersetzt?). Und auch im Erzählen von Casey Cep entdeckte ich ein paar Punkte, die mich störten.

So besitzt Grimme Stunden immer wieder Passagen, die ausufern und zahlreiche Hintergrundinfos liefern, die in ihrer Fülle und Genauigkeit nicht wirklich zum Vorankommen der Handlung beitragen. Die Flutungen und der Dammbau in Alabama werden zur Einleitung über mehrere Seiten hinweg geschildert. Die Entstehung und Auswüchse von Lebensversicherungen werden lang und breit erörtert. Die Lebensgeschichte von Tom Radney wird ausführlich geschildert (und ist in ihren Parallelen zur heutigen Zeit durchaus frappierend) – zum Ablauf des Prozesses trägt sie allerdings nicht sonderlich viel bei. Und auch in Sachen Harper Lee startet Casey Cep bei Adam und Eva. Ein wenig mehr Fokussierung und erzählerische Stringenz hätte dem Buch gut getan. Denn mit über 400 Seiten plus einem fünfzig Seiten langen Anmerkungsapparat fordert Grimme Stunden viel Aufmerksamkeit und Disziplin vom Leser ein. Ein paar Straffungen und ein konzentrierter Fokus hätten zumindest mir die Lektüre erleichtert

Fazit

Der Kern, der in Grimme Stunden steckt, ist wirklich spannend. Auch bietet das Buch immer wieder Anknüpfungspunkte in unsere Gegenwart hinein. Als Schilderung eines True Crime-Verbrechens und als Biographie überzeugt Casey Ceps Debüt leider nicht vollumfänglich. Für das nächste Buch wäre eine klarer erzählerische Ausrichtung und eine bessere Übersetzung wünschenswert.

Eine weitere Meinung zu Casey Ceps Buch gibt es von Sonja Hartl auf Dlf Kultur.


  • Casey Cep – Grimme Stunden
  • Aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner
  • ISBN 978-3-550-08162-0 (Ullstein)
  • 480 Seiten. Preis: 24,00 €
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