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Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension

Käthe Beauchamp-Bowden, Schriftstellerin. Unter diesem Namen trug sich im Mai 1909 ein Gast ins Gästebuch einer Unterkunft in Bad Wörishofen ein, der später unter ihrem eigentlichen Namen Katherine Mansfield zu großer Bekanntheit gelangen sollte. Von jenem Ruhm war Mansfield zu jener Zeit allerdings weit entfernt. Nach einer überstürzten Heirat sollte sie schwanger eigentlich in einem bayerischen Kloster untergebracht werden. Doch die Neuseeländerin reiste weiter und bezog im Kurort Bad Wörishofen ein Zimmer, wo sie sich den Anwendungen von Pfarrer Kneipp unterzog und sich als genaue Beobachterin ihrer Umwelt erwies, wie die Kurzgeschichten zeigen, die nun unter dem Titel In einer deutschen Pension noch einmal in der Büchergilde Gutenberg aufgelegt wurden.


Dabei durchweht die Kurzgeschichten von Katherine Mansfield gerade in den ersten Geschichten ein starker Anklang an den Zauberberg von Thomas Mann. Sieche Kurgäste versammeln sich da zum Verspeisen von Kartoffeln und Sauerkraut, parlieren über deutsche und englische Gepflogenheiten, pflegen Vorurteile und prahlen oder bemitleiden sich wahlweise für die Anzahl ihrer Kinder. Ein Baron perfektioniert das asketische Knabbern an Salatblättern und die Schwester einer Adeligen tritt auf. Die Erzählerin ist dabei mitten im Geschehen und blickt mit Ironie und Distanz einer Engländerin auf das Treiben dort im Kurort, wo man auch schon einmal einen Professor beobachten kann, der auf der Posaune vor seinem Publikum brillieren möchte, was wirklich komisch dargeboten wird. Überhaupt der Humor, er verbindet Mansfield auch deutlich mit Thomas Mann, dessen Zauberberg in vielen Passagen ebenso witzig ist wie das Treiben in der deutschen Pension.

In diesem Augenblick kam der Briefträger, der wie ein deutscher Offizier aussah, und brachte die Post. Meine Briefe warf er in meinen Milchpudding, und dann wandte er sich an die Kellnerin und flüsterte. Sie verzog sich eilfertig. Der Geschäftsführer der Pension erschien mit einem kleinen Tablett, auf dem eine Ansichtskarte lag. Er trug sie zum Baron und verbeugte sich dabei ehrerbietig.

Was mich betrifft, war ich enttäuscht, dass nicht aus fünfundzwanzig Kanon Salut geschossen wurde.

Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension, S. 20 f.

Studien ganz unterschiedlicher Menschen

Katherine Mansfield - In einer deutschen Pension (Cover)

Unter die komischen Beschreibungen des Treibens dort im Kurort sind aber auch einzelne Studien von ganz unterschiedlichen Menschen gemischt. Da ist Frau Brechenmacher, die an einer Hochzeit teilnimmt, welche wirklich nicht als fröhliches Fest bezeichnet werden kann (was die Illustrationen von Joe Villion gekonnt verdeutlicht). Da ist Andreas Binzer, der der Geburt seines Kindes entgegensieht (hoffentlich ein Junge, wie er sich erhofft) und dabei zwischen seiner Verachtung für Frauen und der eigenen Unruhe sowie jeder Menge Selbstmitleid munter changiert.

Vom Humor bleibt dann nichts mehr zurück, wenn man die Geschichte Das KIND-DAS-MÜDE-WAR liest, in dem von Überforderung, dem Nicht-Genügen der Mutterrolle und einer potentiellen Kindstötung liest. Hier zeigen sich auch nur wenig kaschiert die Themen, die Katherine Mansfield während jenes Aufenthaltes als Käthe Beauchamp-Bowden in Bad Wörishofen 1909 umgetrieben haben müssen.

Das macht aus den im Buch beschriebenen Themen eine Lektüre, die auch über 110 Jahre später noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Die Last der Mutterschaft, die ungleich verteilten Rollen in der Gesellschaft, die Überforderung und mangelnde Anerkennung, das alles schwingt in Mansfields Geschichten mit und zeigt die Entwicklungen der Autorin weg von den Humoresken und spöttischen Betrachtungen hin zu einem fast schmerzlichen Realismus.

Kurzgeschichten und eine biographische Skizze

Illustration aus "In einer deutschen Pension" von Katherine Mansfield
Illustration von Joe Villion aus dem Inneren des Buchs

Das Ganze wird von einer biographischen Skizze von Elisabeth Schnack ergänzt, die auch die Übersetzung aus dem Englischen besorgte. Darin erzählt sie vom Leben Katherine Mansfields, ihren Themen und Konflikten und bettet so die zuvor gelesenen Kurzgeschichten in einen größeren Kontext ein.

Dabei merkt man sowohl in der Übersetzung in einigen Formulierungen (beispielsweise jemanden an die Kandare nehmen) als auch in der biographischen Skizze selbst, dass diese Ausgabe der Deutschen Pension nicht mehr ganz taufrisch ist und sich seit dem erstmaligen Erscheinen dieser Ausgabe im Jahr 2013 und der jetzigen Auflage hinsichtlich der Sensibilisierung für weibliches Schreiben und der Nicht-Kanonisierung einiges passiert ist, etwa durch Nicole Seiferts Buch Frauen Literatur oder Prosaische Passionen, dem Kanonisierungsversuch weiblicher Short-Story-Autorinnen aus diesem Jahr, in dem sich auch Katherine Mansfield wiederfindet.

So oder so leistet der Band aber gute Arbeit, um eine der prägenden weiblichen Stimmen aus den Anfangstagen des 20. Jahrhundert erneut literarisch und auch künstlicher zu entdecken. Schön, dass das Buch noch einmal neu aufgelegt wurde und gerade in dieser Zeit, in der das öffentliche Interesse auch verstärkt dem (vergessenen) weiblichen Schreiben gilt, hoffentlich für Aufmerksamkeit sorgt.

Fazit

All die Themen, die die feministisch geprägte Literatur in diesen Tagen verhandelt, sie finden sich auch schon in Katherine Mansfields Kurzgeschichten angelegt. So bieten die Erzählungen einen großen Bogen von ironischen Kurbeschreibungen und einem heiteren Blick auf das schrullige Kurpersonal bis hin zu abgründigen Erzählungen von Mutterschaft und Überforderung in der Gesellschaft. Das alles macht in Verbindung mit den künstlerisch gelungenen Illustrationen Joe Villions aus In einer deutschen Pension eine spannende Lektüreerfahrung, die Mansfields künstlerisches Schaffen noch einmal neu oder wiederentdecken lässt.


  • Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension
  • Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Elisabeth Schnack
  • Büchergilde Gutenberg. Artikelnummer 174162
  • 280 Seiten, 21 Illustrationen. Preis: 26,00 €

Titelbild: Via Openverse von Kaïopai°, lizenziert unter CC BY-NC 2.0

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Jörg Maurer – Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt

Es ist der Fluch der Serie. Was einmal Erfolg hatte, muss weitergeführt werden, bis es sich selbst irgendwann totgelaufen hat. Das sah man etwa bei der britischen BBC-Serie Sherlock, die Benedict Cumberbatch und Martin Freeman endgültig zu Stars machte. Was als spannend und stringent inszenierte 90-Minüter begann, wurde zusehends zu einem abstrusen Spektakel der Marke Schneller, Höher, Weiter, das sich in Selbstzitaten und immer wirrer werdenden Drehbüchern erschöpfte, bis das Team selbst keine Lust mehr zu haben schien.

Ähnliches lässt sich auch bei Jörg Maurer beobachten. Seine Reihe um Kommissar Hubertus Jennerwein begann der Musikkabarettist im Jahr 2009 mit dem Alpenkrimi Föhnlage. Inmitten all der bräsigen Regionalkrimis voller tumber Figuren, Kochrezepte und abgepauster Ortsschilderungen nahm mich (nicht nur als Bayer) diese Reihe ein. Toll geschrieben, mit schwarzem Humor und einem ironischen Blick auf das Voralpenland war Maurer damit eine Ausnahme, der sowohl das Krimigenre als auch den Witz hoch achtete und so einen Gegenentwurf zu Kluftinger und Co erschuf.

Krimis im Jahrestakt

Fortan folgte im Jahrestakt neue Krimis, die von sadistischen Klettern, im Häcksler verschwundenen Nobelpreisträgern oder alpenländischen Bestattern mit besten Kontakten zur italienischen Mafia handelten. Immer ein wenig durchgeknallt, drüber – aber genau das machte den Reiz der Serie auch aus. Hier schrieb einer, der überzeichnete, aber eben auch Spannung und Humor miteinander verband und so unterhaltsame Regionalkrimis erschuf.

Mit zunehmender Laufzeit wurden die Titel länger, das Format wandelte sich vom Taschenbuch zum Hardcover zum Paperback – doch die Qualität nahm ab. 2010 erschienen dann sogar zwei Jennerweinkrimis in einem Jahr. In seinem zehnten Fall Am Abgrund lässt man anderen gern den Vortritt war es dann der eingangs schon erwähnte Kommissar Kluftinger aus dem Allgäu, dem Jennerwein im Roman begegnete. Was andere als kultige Hommage verstanden, war für mich der Beweis, dass die Jennerwein-Reihe nun auf dem blödeligen und kriminallitarisch wenig überzeugenden Niveau von Klüpfel, Kobr und Co angekommen war.

Verlag (und Autor?) hielten es dann für eine gute Idee, im gleichen Jahr noch einen weiteren Krimi nachzuschießen, von dem (und allen weiteren) ich dann aber nach der Enttäuschung von Band Zehn der Reihe fortan die Finger ließ. Nun begegnete mir Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt in einer schwachen Minute auf dem Wühltisch des lokalen Buchhändlers. Ein günstiger Preis, eine winterliche Verfasstheit meinerseits und die Lust auf ein Guilty Pleasure nach einigen seriösen literarischen Backsteinen hatten die Entscheidung leicht gemacht. Hätte ich doch bloß die Hände davon gelassen!

Geiselnehmer mit gedankengesteuerten Bomben

Jörg Maurer - Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt (Cover)

Die Grundzutaten sind dabei altbekannt. Kommissar Jennerwein, der sich überraschenderweise als Hüttenbesitzer entpuppt, lädt sein Team und Weggefährten in ebenjene verschneite Hütte über dem Kurort ein, um die Weihnachtstage zu feiern. Doch in der Hütte kommt es dann zu einer Geiselnahme.

Was eigentlich eine gute Ausgangslage ist, wird in diesem Buch leider vollends zum Desaster (Obacht, nun wirds spoilerisch!). Das kriminaltechnisch hochbegabte Team merkt erst nach Stunden, dass einer der Gäste eine Bombe in die Hütte geschmuggelt hat und ein falsches Spiel spielt.

Der Geiselnehmer erpresst das Team mit dieser Bombe, die er per Gedankenströmen kontrolliert. Ein weiterer Gast mit unklarer Provenienz scheint auch ein doppeltes Spiel zu spielen, Snowboarder mit unklarer Provenienz schießen über nächtliche Pisten, eine Informantin unklarer Provenienz hat sich vor der Hütte in den Schnee eingegraben und dann hat der Geiselnehmer unklarer Provenienz auch noch den Ehemann der Gerichtsmedizinerin gekidnappt und in einen Gärtank eingeschlossen, der vollzulaufen droht. Drohnen werden unter Schneewehen gefunden und liefern Plätzchen vor die Hütte – und dann gibt es auch noch außerirdische Lebensformen, die eine Rolle spielen. Klingt völlig gaga? Ist es auch. Nichts ergibt wirklich Sinn oder löst sich befriedigend auf. Zudem überzeugt auch das Setting in der Hütte nicht.

Bomber allerorten

Dass so eine eigentlich hochspannende Situation einer Geiselnahme auch schnell bleiern langweilig werden kann, das scheint auch Jörg Maurer gedämmert zu haben. Deshalb verschneidet er die Rahmenerzählung mit einem Schwank aus Jennerweins Schulzeit. In dieser machte auch ein Bomber die Schule unsicher, indem er immer wieder Stinkbomben platzierte und die Schulfamilie zur Weißglut und Jennerwein zu ersten kriminalistischen Ermittlungen trieb. Doch auch diese Erzählung läuft sich irgendwann tot, sodass man die Explosion auf der Almhütte herbeisehnt.

Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt könnte ein origineller Krimi sein, ist dann aber leider ganz vieles andere: schlecht geschrieben, kaum durchdacht, wenig überzeugend ausgeführt. Nichts wird stringent zu Ende geführt, alles wirkt lieblos zusammengeschustert. Man hat hier das Gefühl, dass Maurer selbst nicht richtig wusste, was er wollte. Ein einziges Desaster, über das man besser eine ganz dicke Decke aus titelgebenden Schnee decken sollte.

Viele weitere Krimi-Möglichkeiten

Man würde sich wünschen, Maurer hätte den Mut, eine derartig Reihe zu beenden und seine kreativen Ideen in ein neues Projekt zu stecken. Aber auch das scheint ein Fluch der Regionalkrimis zu sein, egal ob Jennerwein, Kluftinger oder andere Figuren: die Reihen werden totgeritten, bis sich nicht nur das Pferd, sondern auch der ganze Sattel in Luft aufgelöst haben.

Aber die Absatzzahlen scheinen zu stimmen, das Publikum kauft und liest treu – und von daher ist zu befürchten, dass die nächsten zwanzig Bände der Reihe schon in Planung sind. Warum nicht mal ein Osterfest mit einem bombenlegenden Eier-Verstecker, Silvester mit einem Bowle-Giftmischer oder Fronleichnamsumzug, der von einem Sniper aufs Korn genommen wird? Der (bayerische) Festkalender hält noch einige potentielle Ideen für weitere Gaga-Jennerweinkrimis bereit. Ich weiß allerdings nur eines: ich werde sie nicht mehr lesen.


  • Jörg Maurer – Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt
  • ISBN 978-3-596-70369-2 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 12,00 €
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Regensburg, München, Eisenstein

Christoph Nußbaumeder – Die Unverhofften

120 Jahre. So viel Jahre umfasst die Geschichte, die Christoph Nußbaumeder in seinem Debütroman Die Unverhofften präsentiert. Der bayerische Autor erzählt in seinem Roman von Glasbläsern, Immobilienspekulanten und Kriegsgewinnlern. Ein Buch, das in Form eines Wirtschafts- und Politikromans die Entwicklungen Bayerns im 21. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachzeichnet. Groß angelegte Lektüre, leider zu brav und mutlos erzählt.


Christoph Nußbaumeder hat sich etwas vorgenommen für sein Debüt im Suhrkampverlag. Schon 2010 kam das Stück Eisenstein des im bayerischen Eggenfelden geborenen Dramatiker in Bochum auf die Bühne. 2014 folgte eine weitere Inszenerierung in der Württembergischen Landesbühne. Manuel Soubeyrand inszenierte damals das rund dreistündige Stück, das im bayerischen Grenzort Eisenstein angesiedelt war. Darin verhandelte Nußbaumeder das Schicksal der Eisenstein’schen Dorfbewohner*innen, ihre Wünsche nach Entgrenzung und die Versuche, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Zehn Jahre nach der Premiere des Stücks liegt das Stück nun in Romanform vor. Die Handlungsfäden sind die gleichen geblieben – und auch die Probleme, die Kritiker damals in Inszenierungen des Stücks ausmachten. Aber der Reihe nach.

Eisenstein ist ein kleines Dorf im Bayerischen Wald. Die tschechische Grenze verläuft gleich hinter dem Dorf, der Große Arber ist in Sichtweite. Dort, im niederbayerischen Hinterland, gehen 1900 die Uhren noch anders. Glasbläserhütten finden sich dort im Böhmischen und Bayerischen Wald zuhauf, die Patrone der Hütten bestimmen das Leben. Hier arbeitet man nicht, um zu leben, sondern lebt, um zu arbeiten. Tödliche Unfälle in den Glasbläserhütten sind an der Tagesordnung, Not und Elend herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung.

Hier setzt Nußbaumeders Roman ein, der als erste zentrale Figur des Romans Maria einführt. Diese will der Enge und dem Elend dort in Eisenstein entfliehen. Ihr Sehnsuchtsort heißt Amerika. Dort erhofft sie sich ein besseres Leben und hegt Auswanderungspläne. Nach einer Vergewaltigung durch den Dorfmagnaten und Besitzer der Glashütten beschließt sie, Eisenstein den Rück zu kehren. Das Schweigen der Dorfbewohner*innen und die Doppelmoral tun ihr Übriges zu Marias Entschluss. In einem letzten Akt der Rebellion setzt sie die Glasfabrik in Brand und flieht aus Eisenstein.

Aus Eisenstein nach München

In der Folge erzählt Nußbaumeder von der Entwicklung der Familie des Glasfabrikanten und dem Fortschreiten des zunächst noch jungen Jahrhunderts. Besonders der Zweite Weltkrieg wirkt sich auf die Bewohner Eisensteins aus. So werden die Söhne des einstigen Glashüttenmagnaten zu Nazis, die Kriegsverbrechen begehen. Aber besonders Josef, der talentierte der beiden Brüder wird zum Kriegsgewinnler. Nahtlos setzt er nach dem Einmarsch der Amerikaner seine Karriere fort. Er wird zum Dorfbürgermeister und schließlich sogar Abgeordneter der Christsozialen Union im Maximilianeum in München.

Christoph Nußbaumeder - Die Unverhofften (Cover)

Aus Eisenstein nach München führt auch der Weg einer der anderen zentralen Figuren des Buchs. Georg Schatzschneider erfährt ebenfalls am eigenen Leib die raschen Wandel, die das 20. Jahrhundert so mit sich bringt. Vor allem die wirtschaftlichen Veränderungen durchlebt er wie wohl kein anderer in Die Unverhofften.

Mussten die Eisensteiner 1900 noch gegen viele Widerstände und den teuflischen Ruch des „Sozialismus“ kämpfen, um mit einer Gewerkschaft ihre Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen, so wird Georg im Lauf des Buchs zum Selfmademillionär. Nach seinem Weggang aus Eisenstein baut er sich in Regensburg ein eigenes Bauunternehmen auf und wird dann zum Investor für Wohnungen und dann gar zum Immobilienspekulanten. Eine solch große Entwicklung ist nicht allen Figuren im Buch vergönnt.

Manche der Figuren bleiben ihrer Heimat treu, andere zieht es weit nach Bayern hinaus. Nach Eisenstein kehren sie allerdings alle irgendwann zurück, und wenn auch nur für ihre eigene Beerdigung.

Ein Füllhorn an Themen und Figuren

Christoph Nußbaumeder gießt in seinem Roman ein ganzes Füllhorn von Figuren, Themen und Verbindungen aus. Die 120 erzählten Jahre stecken voller Zeitgeist, Entwicklungen und Schicksale. Die dominierenden Themen sind die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die Nußbaumeder ausgiebig behandelt. Von der Gründung von Gewerkschaften über das Wirtschaftswunder bis hin zur New Economy, Bauspekulation und Hartz IV reicht der Bogen, den der Autor in Die Unverhofften schlägt. Dieser Aspekt, einen Generationenroman mit jenen Themen zusammengebunden zu erzählen, zählt zu den interessantesten Aspekte dieses mit knapp 670 Seiten voluminösen Buchs.

Leider lässt das Buch einen eigenen Sound oder einen eigenen Zugriff auf die erzählten Themen vermissen. Brav montiert Nußbaumeder seine chronologisch erzählten Jahressprünge hintereinander. Diese reichlich konventionelle Erzählweise wäre zu verzeihen, wenn Nußbaumeder einen eigenen Sound hätte, um daraus eine genuine literarische Erzählweise zu entwickeln. Der aber fehlt dem Buch in weiten Teilen. Sprachlich ist Die Unverhofften nicht schlecht, aber eben auch nichts besonderes.

Wenngleich er seinen Roman im tiefsten Niederbayern, der Oberpfalz und Oberbayern ansiedelt, fehlt dem Buch der Mut zu einem bayerischen Idiom. Alle Figuren sprechen gleich, Mundart oder eine gewisse bajuwarische G’schertheit fehlen. Auch vertrüge dieses Buch mehr schwarzen Humor, mehr Deftigkeit und einen böseren Blick auf die Realität, wie er viel zu selten im Buch aufblitzt. Dieses Buch ist entschieden zu vorsichtig mit all diesen Zutaten gewürzt und entwickelt so eher den faden Geschmack eines monotonen literarischen Eintopfs denn einer wirklichen Kraftbrühe, um hier mal mit einem kulinarischen Bild zu sprechen.

Fehlender Mut

Was hätte dieses Buch mitsamt seiner Themen und Figuren hergegeben, hätte Nußbaumeder nur den Mut gehabt, Die Unverhofften gegen den Strich zu bürsten. Hatte ich nach der Lektüre des Klappentext und den ersten Seiten des Romans noch die Hoffnung auf moderne bayerische Prosa im Geiste von Oskar Maria Graf oder Georg Queri, so zerschlug sich diese Hoffnung zusehends. Ein bisschen mehr der schwarze Humor eines Gerhard Polt (der ja durchaus etwa in einer Hochzeits-Szene aufblitzt) oder der Mut zur Nestbeschmutzung eines Georg Ringsgwandl, und dieses Buch wäre sicher ein Ereignis geworden, so bin ich mir sicher. In der vorliegenden Form ist Die Unverhofften zu bieder und auch zu überladen, um wirklich zu überzeugen.

Auch die zahlreichen Figuren, die im Buch so auftauchen, mögen dargestellt auf einer Bühne funktionieren. Im Buch hingegen hätte es noch mehr Tiefe und Ausgestaltung gebraucht, um ihnen unverwechselbares Profil und eigene Charaktere zu verleihen. Viel Tiefe habe ich in den meisten Eistensteiner*innen nicht ausgemacht. Hier manifestiert sich wieder das Problem, das die Kritiker*innen schon bei der theatralen Version von Nußbaumeder Werk feststellten. Zu viel Figuren und Themen, bei denen eine Reduktion hin auf das Wesentlich Not getan hätte.

Aber abgesehen von diesen Punkten und Ausrutschern wie den wirklich kitschigen Sterbeszenen sowie dem Volkstheaterhaften, das dem Buch und seinen Figuren manchmal anhaftet: als brav erzähltes Stück bayerische Geschichte und Hommage an Eisenstein und die Bewohner des Bayerischen Waldes ist das Buch nicht schlecht. Ein Spitzentitel im Suhrkamp-Programm ist Die Unverhofften in meinen Augen allerdings auch nicht.

Eine weitere Meinung zum Buch gibt es bei Stefan vom Blog Bookster HRO.

  • Christoph Nußbaumeder – Die Unverhofften
  • ISBN 978-3-518-42962-4 (Suhrkamp)
  • 671 Seiten. Preis: 25,00 €
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Herbert Kapfer – 1919 | Fiktion

Zeitgeschichte im Remix

Wie soll und kann man von Geschichte erzählen? Herbert Kapfer versucht sich in seinem Buch 1919 – Fiktion als eine Art literarischer DJ. Er sampelt verschiedenste Quellen und Augenzeugenberichte, um den Leser*innen die ganze Fülle an Ereignissen aus jenen Revolutionsjahren 1918/19 zugänglich zu machen. Eine sinnvolle Herangehensweise, denn anders ist diesem epochalen Wendepunkt in der deutschen Geschichte kaum beizukommen.

Zwar kennt man durch den Schulunterricht so manche Gedenktage und historische Personen. Auch das im letzten Jahr verstärkt einsetzende mediale Erinnern an die Ereignisse vor hundert Jahren hat einige historische Landmarken wachgerufen. Doch wie geballt Revolutionen, Räterepubliken, Kriegsnachwehen, Morde und politische Grabenkämpfe in dieser so kurzen Zeitspanne auftraten, das wird bei der Lektüre von 1919 eindrücklich erfahrbar.

Revolution, Anarchie, Räterepublik, Freikorps

Plakat zur Räterepublik in Bayern von Siegmund von Suchodolski: Raus mit euch! Bei ons gibt’s koa Anarchie!

Kapfer erzählt in fünf Teile aufgesplittet von den Ereignissen, die ausgehend vom Kriegsende 1918 zu jenen Revolutionsereignissen 1919 führten. Der Matrosenaufstand 1918 in Kiel steht am Anfang jener Ereigniskette, dem schon bald die Herrschaft von Arbeiter- und Soldatenräten im Deutschen Reich folgten. So ist die Räterepublik in Bayern und die Ermordung Kurt Eisners ein Thema im Buch, das einen großen Platz einnimmt. Auch andere spektakuläre Morde finden in Augenzeugenberichten Niederschlag – so etwa die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch eine militärische Truppe . Von Weimar bis Berlin, von München bis ins Baltikum reichen die Schauplätze, die Kapfer durch die Augenzeugenberichte und Tagebücher einfängt..

Dabei ist jedoch der Begriff der Autorenschaft im Fall von 1919 ein kniffliger Fall. Denn Kapfer selbst stellt im Nachwort seines Buchs klar

1919 setzt sich aus Texten zusammen, die zwischen 1918 und 1938 veröffentlich worden sind – ausgenommen die Zeilen von Heiner Müller. Alles ist Zitat, bis auf etwa fünfzig Wörter, die in der Titelei von mir eingefügt wurden. Orthographie, Interpunktion und Grammatik wurden unverändert beibehalten. Auslassungen, Umstellungen, auch innerhalb einzelner Sätze, nicht gekennzeichnet.

Kapfer, Herbert: 1919, S. 411

So ist 1919 eigentlich eine Collage voller Fremdtexte, bei denen die Kunst darin besteht, diese so miteinander zu verfugen und zu verzahnen, wie es Kapfer in seinem Werk tut. Dass er hierbei einige Kunstfertigkeit erlangt hat, das erklärt auch ein Blick in seinen beruflichen Werdegang. So leitete Kapfer bis 2017 die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im Bayerischen Rundfunk. Und auch als Buchautor sammelte er mit dieser Art von Erinnern und Erzählen schon Erfahrung. So verarbeitete er zusammen mit Lisbeth Exner bereits die Jahre 1914 und 1915-1918. Hierbei erzählten die Autor*innen, indem sie aus über 240 verschiedenen Tagebüchern zitierten und so durch Primärquellen einen unmittelbaren Eindruck des Ersten Weltkriegs und dessen Auswirkungen erschufen. 1919 ist da nur die konsequente Fortschreibung dieser Art von Erinnungsarbeit (wenngleich Lisbeth Exner hier nur als Mitarbeiterin im Nachwort Dank erfährt und nicht als Co-Autorin fungiert. Zudem erscheint das Werk nun bei Kunstmann statt bei Galiani).

Wie bei den anderen Büchern Kapfers drängt sich auch hier der Vergleich mit Walter Kemposwkis Echolot auf. Ganz ähnlich zu dem Mammutwerk Kempowskis fängt der Autor hier polyphon die Stimmen von ganz unterschiedlichen Zeitgenossen ein. Von Dada (Hugo Ball und Richard Huelsenbeck) über militärische Berichte (Ludwig von Reuter) bis hin zu den Romanen und Erinnerungen großer Literaten (Oskar Maria Graf, Ernst Toller, Erich Mühsam) reicht die Bandbreite in Kapfers Collage. So fließen auch Zeitungsmeldungen, Militärmeldungen und zeitgenössische Fotografien in das Werk ein. Den Mittelteil des Buchs bildet dann ein Theaterstück Karl Polenskes, der darin seinen Mitrat Silvio Gesell porträtiert und karikiert. Jener wollte nämlich in seiner Funktion als Finanzminister in der Münchner Räterepublik die Freiwirtschaftslehre einführen – ein Vorhaben, das Gesell eine Amtszeit von ganzen sieben Tagen bescherte.

Viele Quellen – viele Stimmen

Das alles verschafft einen umfassenden Eindruck jenes Revolutionsjahrs – und ist doch so Manches auch mühsam zu lesen. Einige Texte wirken frisch und manchmal gar von großer Komik (großartig beispielsweise Tollers Schilderung eines geplanten Flug nach Leipzig), andere sind durchaus anstrengend, besitzen einen antiquierten Stil, wirken manchmal zu nüchtern, dann wieder zu überladen. Ein einheitliches Lesegefühl stellt sich kaum ein, zu heterogen sind die Quellen, sowohl in thematischer als auch in inhaltlicher Hinsicht. Hier sprechen viele Quellen und somit auch viele Stimmen – die einen angenehmer, die anderen etwas gewöhnungsbedürtiger.

Kapfer verzichtet dabei auf eine Nennung seiner Quellen im Text. Erst im Anhang offenbart sich, von welchem Autor welche Zeilen stammen. Das ist manchmal ein reizvolles Rätselraten – mir wäre eine direkte Nennung der Quellen jedoch deutlich lieber gewesen. So ist man ständig am Zuordnen, muss schauen, von wem jetzt wieder die Rede ist, wer gerade erzählt, und wie das Ganze einzuordnen ist. 1919 fordert permanent und ließ mich oftmals pausenlos zwischen der Bibliographie im Anhang und dem eigentlichen Text springen.

Eine gefällige Präsentation von Zeitgeschichte im Stile eines Florian Illies oder Volker Weidermann ist 1919 somit weniger und will es auch nicht sein. Das Buch ist eine große Fundgrube für historisch Interessierte, ein Buch, das schon lange vergessene Gestalten wie einen Max Hoelz oder Eduard Stadtler wieder in Erinnerung ruft. Eine polyphone Collage, die versucht, das Revolutionsjahr 1919 mit all seiner Anarchie, seinen politischen Entwicklungen, seiner Bedeutung einzufangen- und das gelingt ihm auf alle Fälle!


Auch das Kulturjournal Titel, Thesen, Temperamente hat sich mit dem Buch und seinem Verfasser beschäftigt. Den Beitrag dazu findet man hier

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Petra Morsbach – Justizpalast

Im Namen des Volkes

Petra Morsbach widmet sich mit ihrem neuen Roman einem weiteren elementaren gesellschaftlichen Feld. Nach dem Glauben (Gottes Diener) und der Kultur (Opernroman) geht es nun ins Gefüge von Recht und Ordnung. Die Folie zu ihrer Geschichte bildet die Lebensgeschichte der Richterin Thirza Zorniger. Mithilfe der Biografie der Frau zeichnet Morsbach den Gang durch die juristischen Institutionen nach und schafft ein facettenreiches Bild von Recht und Ordnung. Darüberhinaus weckt sie im Leser eine Sensibilität für das Spannungsfeld zwischen Recht und Gerechtigkeit und ersetzt en passant ein komplettes Proseminar Jura. Hat man den Justizpalast gelesen, kann man dem Ersten Juristischen Staatsexamen beruhigt entgegengehen.

Petra Morsbach - Justizpalast (Cover)
Justizpalast von Petra Morsbach

Der stetige und strebsame Aufstieg dieser Thirza Zorniger vom Studienbeginn an sorgt dafür, dass man als Leser überall mit hingenommen wird. Von den Vorlesungen über erste Stationen als Richterin einer Kammer bis in die legendären Gänge des Justizpalastes führt Petra Morsbach den Leser. Es sind elementarste Fragen, die sie in ihrem Roman verhandelt und die auch einen Mehrwert bieten. Wie sieht der Alltag einer Richterin aus? Wie werden Urteile gefällt? Wie findet man Gerechtigkeit? Kann es diese überhaupt geben?

Morsbachs gewähltes Stilmittel ist dabei Fluch und Segen dieses Romans zugleich. Denn Justizpalast strotzt vor Fallgeschichten und Urteilen, die Thirza im Lauf ihrer Karriere fällen muss. Das ist auf der einen Seite zu loben, da dies eine große Plastizität in den Roman bringt und auch die Routine und manchmal auf Langweile zeigt, mit der sich Thirza beschäftigen muss. Zum Anderen hemmen diese permanenten Urteile und Fälle durch ihre trockene juristische Diktion den Fluss des Buches und lassen den Leser bei der Lektüre immer wieder stolpern und aus dem Tritt geraten (so zumindest mein subjektives Empfinden).

Geschickter hat das Problem der Frage, inwieweit juristische Urteile auch Literatur sein können, beispielsweise Ian McEwan gelöst. In seinem Roman Kindeswohl steht ebenfalls eine Richterin im Mittelpunkt. Motor des Buchs allerdings ist ein einziger großer Fall, der mit seinen Problemen schlussendlich auch auf das Leben der Richterin Fiona Maye abfärbt. Hier schafft McEwan den Spagat zwischen juristischer Spitzfindigkeit und Lebensrealität besser, als er Petra Morsbach in ihrem Buch gelingen mag.

Ein vielgestaltiges Buch über Recht und Justiz

Justizpalast ist allerdings kein schlechtes Buch, ganz im Gegenteil. Von diesen juristischen Redundanzen abgesehen gelingt der Autorin ein vielgestaltiges Buch des Justizwesens und ebenso ein facettenreiches Bild einer Richterin, die in ihrem Job aufgeht, doch auch vom Recht versehrt wird. Überlastungen der Justiz, der manchmal Don-Quichotteske Kampf gegen die Windmühlen, verfahrene Verfahren – sehr realistisch und praxisnah ist das von Morsbach gezeichnete Bild des Justizwesens in Deutschland und dessen Entwicklung. Und auch diese Thiza Zorniger ist faszinierend, hat Ecken und Kanten und ist so glaubhaft, wie nur wenige Figuren dieses Bücherherbstes.

Ein wichtiger Punkt kommt für mich auch noch auf die Habenseite des Romans. Justizpalast hat nach der Lektüre noch an Qualität gewonnen. Zunächst war ich froh, mich durch die vielen hundert Seiten Schicksal und Grundsatzurteile, Anfechtungen und Abwägungen gekämpft zu haben und wieder aus dem Justizpalast treten zu können. Thirza als Figur hat mich hingegen noch länger begleitet, ihr Streben, ihr Scheitern und Gelingen, all das vergisst man nicht so schnell. Durch Morsbachs Buch bekommt man auch einen neuen Blick auf die Institutionen und Menschen, die Recht sprechen.

Diese Plastizität und die Ambitionen Morsbachs, dem deutschen Justizwesen ein Gesicht zu geben, machen das Buch absolut preiswürdig. Nicht umsonst wurde das Buch ebenfalls für den Bayerischen Buchpreis nominiert und befindet sich damit völlig zurecht auf der Liste. Meine hochgeschätzte Kollegin und ebenfalls #baybuch-Bloggerin Birgit Böllinger vom Blog Sätze und Schätze hat ihre Gedanken zu Justizpalast ebenfalls in Schriftform gebracht. Ihr Urteil findet sich in diesem Blogbeitrag.

P.S.: Einen Preis würde ich Petra Morsbach im Übrigen gleich jetzt verleihen – nämlich den für den besten Schluss des Jahres. Justizpalast endet nämlich genau auf dem Punkt. Wie, das sollte hier natürlich nicht verraten werden. Nur die eigene Lektüre wird Aufklärung schaffen – es lohnt sich!

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