Category Archives: Literatur

C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen

Gar nicht so paradiesisch, dieses Land Wo Milch und Honig fließen. In ihrem neuen Roman erzählt C Pam Zhang von einer Enklave reicher Menschen, die mit den Segnungen von Technologie und unermesslichem Reichtum die grassierende Klimakatastrophe überleben wollen. Die Arche Nova trifft dabei auf Spitzencuisine.


Diese Chuzpe muss man erst einmal haben. Denn obwohl ihr eigentlich die formalen Qualifikationen für einen mehr als exklusiven Job als Köchin fehlen, bewirbt sich die namenlose Ich-Erzählerin in C Pam Zhangs neuem Roman trotzdem auf die Stelle als Spitzenköchen für eine Forschungsgemeinschaft in den italienischen Alpen, wie es in der Anzeige heißt.

Der kreativ frisierte Lebenslauf macht es möglich, dass die Erzählerin auf den Berg dort im französisch-italienischen Grenzland eingeladen wird, wo sie für ihre Auftraggeber Menüs auf Spitzenniveau zubereiten soll.

Das Ganze stellt sich als reichlich paradoxer Job heraus. Denn während auf dem abgeschotteten Areal des Bergs sich eine Elite aus finanzkräftigen Investoren und Risikokapitalgebern zurückgezogen hat, um dort zu dinieren und scheinbar allen irdischen Sorgen enthoben die feine Lebensart zu genießen, ist die Welt am Fuß der Berge längst in Chaos und Monotonie versunken.

Kochen in der Klimakatastrophe

C Pam Zhang - Wo Milch und Honig fließen (Cover)

Ein Smog hat die Ökosystem vollständig zum Erliegen gebracht. Die Flora und Fauna verenden, das einzige Nahrungsmittel, das der Menschheit das Überleben sichert, ist Mungoprotein-Soja-Algenmehl. Die USA haben die Grenzen längst dichtgemacht und so sitzt die Erzählerin fern ihrer Heimat fest, als sie dann auch noch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter und der Zerstörung der eigenen Wohnung in Chicago erreicht. Inmitten dieser hoffnungslosen Lage ist es der Mut der Verzweiflung, die die Erzählerin zu einer Köchin dort droben auf dem Berg werden lässt.

So experimentiert sie zusammen mit Aida, der Tochter der Milliardärs und Enklavengründers, in der Küche diverse Genüsse aus, die aus den Zuchthäusern der Kolonie stammen. Zwischen Sinnlichkeit und Ekel bewegen sich dabei die Menüs, die sie ihren Gästen kredenzen. Exklusives Fleisch, sogar von schon ausgestorbenen Wollmammuts, Schildkrötenblut oder Pflanzen, die außer dem Land Wo Milch und Honig fließen schon längst verschwunden sind. An scheinbar nichts mangelt es dort oben auf dem Berg, auf den mithilfe der Menüs die reichen Geldgeber angelockt werden sollen, auf dass die Elite dort hoch droben am Berg noch exklusiver und finanzkräftiger werde.

Doch nicht nur mit Menüs soll die Erzählerin die Elite verwöhnen und unterhalten. Schon bald schlüpft sie in die Rolle der verstorbenen Gattin des Enklavengründers, um auch auf diesem Wege eine enge Bindung der Gäste an das wahnwitzige Projekt zu erzeugen Doch wie lange kann es funktionieren, etwas vorzugeben, das man nicht wirklich ist?

Dystopie und Climate Fiction mit biblischen Bezügen

Es ist eine spannende Mischung aus Dystopie, Climate Fiction und Arche Nova-Neudeutung, die C Pam Zhang in ihrem neuem Roman mischt. Die Abschottung der Reichen, der schon fast unverschämte Luxus, an dem auch die Erzählerin ihren Anteil hat, indem sie verschwenderisch mit Zutaten experimentiert und die exklusiven Kochergebnisse dann teilweise in die Schlucht auf dem Berg entsorgt, all das neben der im Hintergrund dräuenden Klimakatastrophe, das bildet den Spannungsbogen dieser Geschichte, die sich nicht nur durch den Titel auf die biblischen Erzählungen bezieht.

Schlussendlich nimmt Zhangs Erzählung auch Züge der biblischen Episode rund um die Arche Nova an, als sich der Milliardär zum modernen Noah berufen fühlt und für den Fortbestand der menschlichen Spezies eigene Auswahlkriterien anlegt, um diese mit sich in einem Raumschiff in ein neues gelobtes Land zu bringen.

Fazit

Mit Wo Milch und Honig bewegt sich Zhang in Nachbarschaft von T. C. Boyle, der sich jüngst in seinem Roman Blue Skies ebenfalls an einer Vorschau unseres möglichen Lebens und Arrangements mit der Klimakatastrophe versuchte – obschon bei Boyle der Himmel noch deutlich blauer ist als in Zhangs düsterer Dystopie. Auch weißt ihr Roman Anklänge an den Fatalismus und die Problemlösungsstragie aus Adam McKays Filmsatire Don’t look up auf.

Sicherlich keine leichte Lektüre, aber eine erschreckend plausible Vorausschau dessen, was uns schon in wenigen Jahrzehnten drohen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher in Sachen Umweltschutz, Abschottung, Raubbau an der Natur und Entkopplung der reichen Eliten von der Gesamtverantwortung für diese Welt. Paradiesisch wird das sicher nicht, wenn wir C Pam Zhang folgen!


  • C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen
  • Aus dem amerikanischen Englischen von Eva Regul
  • ISBN 978-3-10-397543-7 (S. Fischer)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Eine Frau sitzt in ihrem Hotelzimmer und reflektiert über ihr Leben als Mutter, Übersetzerin und Ehefrau. Mit Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten legt die Schriftstellerin Slata Roschal eine wenig hoffnungsfroh stimmende Lektüre vor, die durch ihre pointierten Betrachtungen und Sentenzen überzeugt.


Im Februar 2022 erschien im fränkischen Indie-Verlag homunculus das Debüt von Slata Roschal. In 153 Formen des Nichtseins unternahm die Erzählerin eine identitätspluralistische Eigenerkundung, die auch die Jury des Deutschen Buchpreises überzeugte. Sie wählte den Roman vor zwei Jahren auf die Longlist des Preises.

Nun liegt zwei Jahre später der neue Roman von Slata Roschal vor. Der Verlag hat gewechselt, die Kreativität in Sachen Titelfindung ist geblieben Und auch inhaltlich gibt es einige Berührungspunkte mit der Introspektion in Roschals Debüt. Denn auch in Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten geht der Blick hauptsächlich nach innen und bringt die verschiedenen Facetten der Ich-Erzählerin zum Vorschein.

Selbsterkundungen einer Frau

Dies geschieht, während sich die Übersetzerin in ihrem Hotelzimmer in Berlin befindet. Schon lange ist sie nicht mehr ohne ihren Mann und die zwei kleinen Kinder Laura und Eliah verreist. Doch nun ist das Bedürfnis nach Abstand von ihrem Alltag als Mutter und Übersetzerin am Rande eines prekären Beschäftigungsverhältnisses zu übermächtig geworden, als dass sie es weiter hätte ignorieren können. Getrennt von ihrer Familie möchte sie ein Seminar besuchen und während ihres Aufenthalts einen Brief an die Familie verfassen.

Dieser Brief ist ein Stück weit auch das Gegenmodell zu den Briefen, mit denen sie sich während ihres Aufenthalts in Berlin beschäftigt. Denn wo die historischen Auswandererbriefe von dem Bedürfnis nach Weite, neuen Erfahrungen und der Sehnsucht nach der Familie zuhause erzählen, da geht es der Erzählerin deutlich anders.

Sie fühlt sich eingeengt durch ihre Rolle als Mutter, die ihr wenig sinnstiftend und vielmehr überfordernd vorkommt. Denn wo andere Mutterschaft als Erfüllung ihrer Bedürfnisse sehen, verhindert für die Übersetzerin ebenjene Mutterschaft ihre eigenen Bedürfnisse, sodass das einzige, das angesichts von Unmengen an Care-Arbeit bleibt, lackierte Fingernägel sind, wie sie an einer Stelle des Buchs bitter feststellt.

Regretting Motherhood?

Überhaupt, dieser Blick auf Mutterschaft, er ist wenig von Freude, vielmehr von einem Gefühl der Erschöpfung und Überforderung geprägt. Die Erzählerin selbst überlegt, ob sie sich schon dem Phänomen der Regretting Motherhood zurechnen kann und findet für den eigenen Seelenzustand drastische Bilder:

Fühle mich wie ein morscher Baum, wie ein gefällter Baum, irgendwo im Sumpf, der so gut wie nicht mehr existiert, von dem sich neue Wesen nähren, Pilze, Moose, lassen ihre Wurzeln in ihn treiben, ziehen seine Säfte in ihre eigenen Körper, er hat seinen Sinn darin, einzugehen für neue Leben und von ihm selbst bleibt irgendwann nichts übrig.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Es ist eine Lektüre, die die Übersetzerin selbst in die Nähe anderer weiblicher Wutausbrüche und Überforderungsanklagen stellt, indem sie beispielsweise im Text selbst auf ein im Rowohlt-Verlag erschienenes Buch anspielt, in dem sich eine Mutter eines Abends aus dem Fenster stürzt. Doch neben der so indirekt zitierten Mareike Fallwickl wären über die deutsche Sprachgrenze hinweg auch Rachel Yoder, Doireann Ní Ghríofa oder vor allem Sarah Moss als Bezugspunkte dieses Romans zu nennen.

Herkunft, Mutterschaft, Überforderung als Themen des Romans

Neben der Reflektion ihrer eigenen Mutterschaft und ihrem Dasein als Ehefrau, Mutter und Übersetzerin ist es auch die eigene Herkunft, sowohl in familiärer als auch soziologischer Hinsicht, die sie als Tochter von Ausländern, so die Selbstbezeichnung, beschäftigt. Das Gefühl von Fremdheit und die Veränderungen in Bezug auf die eigenen Eltern sind Themen, die in dieser traurig-wütend-resignativ-selbsterkundenden Suada verhandelt werden.

Mag dem Ganzen zum Ende hinweg auch etwas die Luft ausgehen, so ist Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten doch ein durchaus eine literarisch interessante, wild sprudelnde Erkenntnissuche in Form einer Selbsterkundung, bei der man in Sachen und Verve, Rhythmik und inhaltlicher Polyphonie genau das sagen kann, was die Erzählerin über den Aufruhr in ihrem Inneren konstatiert:

All die Geister, die mich bevölkern, wütend mit den Fäusten drohen, Strafen prophezeien, oder mitleidig, ironisch kommentieren, manchmal glaube ich, ich sei ein Rahmen, eine Hülle für die Stimmen, die es sich bequem machen in mir, von meinen Ängsten zehren, dämonische Bewohner, werde von innen ausgehöhlt, aufgefressen.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

  • Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
  • ISBN 978-3-546-10076-2 (Claassen)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter

Bücher, die das Spannungsverhältnis von Müttern und Töchtern beschreiben, gibt es wie Sand am Meer. Vigdis Hjorth hat nun auch noch eines geschrieben. Und trotz der bekannten Konfliktlinien und dem überschaubaren Handlungsrahmen gelingt ihr mit Die Wahrheiten meiner Mutter ein Buch, das von Beginn an vibriert und mit seiner geradezu schmerzhaft bohrenden Introspektive überzeugt.


Eines Abends habe ich Mutter angerufen. Es war Frühling, das weiß ich, denn am nächsten Tag machte ich mit Fred einen Spaziergang um Borøya herum, und es war warm genug für ein Picknick auf der Bank am Osesund.

Wegen des Anrufs hatte ich in der Nacht davor fast nicht geschlafen, und ich war froh, am Morgen jemanden zu sehen, und dass dieser Jemand Fred war, ich zitterte noch immer. Ich schämte mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstoßen. Mutter ging nicht ans Telefon. Ich hörte, wie sie mich sofort wegdrückte. Und trotzdem rief ich wieder an. Warum? Ich weiß es nicht. Worauf hoffte ich? Ich weiß es nicht. Und warum schämte ich mich?

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 7

So hebt Vigdis Hjorths erster bei S. Fischer erscheinende Roman an, der von Gabriele Haefs aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte wurde. Es sind schmerzliche Zeilen, die den ganzen Grundkonflikt des Folgenden schon in sich tragen. Denn die Ich-Erzählerin Johanna hat sich von ihrer Familie entfremdet und diese auch von ihr.

Sie, die als Künstlerin international für Aufsehen sorgte, mit ihrer Kunst aber auch die Beziehung zu ihrer Familie beschädigt, sie ist nun zurückgekehrt in ihre norwegische Heimat. Dort versucht die inzwischen 60-Jährige nun nach Jahren des Schweigens, nach dem Tod ihres Vaters und ihres Ehemannes in einem zunehmend verzweifelter werdenden Akt wieder Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen und an Vergangenes anzuknüpfen.

Viele Fragen, keine Antworten

Was für die Künstlerin zunächst noch ein großer Akt der Selbstüberwindung war, führt durch die Weigerung ihrer Mutter und ihrer Schwester, die Kontaktversuche zu beantworten, ebenso zu Verbitterung wie auch einer gnadenlosen Selbstbefragung.

Vigdis Hjorth - Die Wahrheiten meiner Mutter (Cover)

Als Leser*innen sind wir ganz nah an Johannas Gedanken dran und erleben mit, wie sie im Versuch einer Kontaktaufnahme zu ihrer Mutter schon fast obsessive Stalkerqualitäten entwickelt. Zudem nimmt uns die Künstlerin mit weit zurück in ihre eigene Biografie, in der sie immer wieder die Schmerzpunkte und Bruchlinien betastet in dem Versuch, das aktuelle Verhalten ihrer eigenen Familie zu verstehen und den Prozess der Entfremdung aufzuarbeiten.

Dabei sind es auch manchmal nur einzelne Gedankensplitter, die auf einer Seite aufblitzen, dann wieder Bohrungen in der Vergangenheit und Reflexionen über das eigene innerfamiliäre Verhältnisse, Ibsen-, Faulkner- und Handke-Zitate inklusive.

Alle Kinder sind abhängig von ihrer Mutter und sind ihr gegenüber deshalb immer verletzlich, körperlich und seelisch, aus diesem Grund haben wir Müttern gegenüber ambivalente Gefühle, und aus diesem Grund tauchen in Wohlfühlfilmen auch so selten Mütter auf. Die Mutterfigur weckt zu komplizierte Gefühle, um sich wohl zu fühlen.

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 326

Von großer introspektivischer Wucht

Mag auch vordergründig wenig auf den vierhundert Seiten dieses Romans passieren, so hat das Ganze doch eine enorme introspektivische Wucht und Gnadenlosigkeit, mit der Johanna in ihr Seelenleben blickt und sich auch nicht davor scheut, in ihrem Willen zu einem neuen Miteinander Grenzen zu überschreiten – und dies auch zu zeigen. Alles hier vibriert vor Anspannung, zeigt Vigdis Hjorth doch ungeschönt eine Frau voller Verzweiflung, nervöser Energie und Wucht.

Dies verleiht dem Roman seine überzeugende Qualität und sorgt für ein stetes Spannungsfeld, das den Text trägt. Zu bemängeln ist in dieser Hinsicht nur, das die deutsche Version von Hjorths Buch mit dem unscheinbaren Titel weit weg ist von der Drastik des norwegischen Originals. Er mor død, zu Deutsch Ist Mutter tot, das trifft den Charakter von Vigdis Hjorths Buch doch weitaus besser, ist ihm doch das Fragende, das hier alles prägt, eindrücklich eingeschrieben.

Fazit

So oder so, dieses Buch ist eine Wucht, bohrt nach, zeigt die Verzweiflung einer heimgekehrten Tochter, die erst lernen muss, mit einem Verlust umzugehen, dabei Grenzen überschreitet, vor allem aber sich selbst erforscht und ergründet und damit überzeugt. Die Qualität, sie liegt in diesem Text offen und ist eine im Gegensatz zu den Einsichten dieses Buchs eine Wahrheit, die nicht schmerzt, sondern beglückt!


  • Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meienr Mutter
  • Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
  • ISBN 978-3-10-397512-3 (S. Fischer)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Elmore Leonard – Letztes Gefecht am Saber River

Showdown für ein Letztes Gefecht am Saber River. Der Münchner Liebeskindverlag erweist sich wieder einmal als Heimstatt für alle Fans von guter Westernliteratur. Mit Elmore Leonards Western rund um drei unterschiedliche Männer im Süden Arizonas präsentiert der Verlag ein Buch aus der Hochzeit von Leonards Westernphase aus dem Jahr 1959, das nun in Übersetzung von Florian Grimm auch auf Deutsch zu lesen ist.


Bevor er zu einem arrivierten Kriminalschriftsteller wurde, dessen polyphone Sprachmelodien seiner Figuren ihm gar den Vergleich mit Honoré de Balzac einbrachten, hatte sich Elmore Leonard schon auf dem Feld des Westerns umgetan. Grob achtzehn Jahre umfasst diese Periode von Leonards Schaffen, ehe er sich ab etwa 1969 dem Kriminalroman zuwandte, dem er bis zu seinem Tod im Jahr 2013 treu bleiben sollte und der ihm viele Auszeichnungen und Verfilmungen einbrachte. Schnappt Shorty, Out of sight oder Jackie Brown sind einige der bekannte Filme, die auf Romanen Elmore Leonards basieren und die auch hierzulande teilweise bei Suhrkamp, teilweise bei Goldmann, Kampa oder Eichborn erschienen.

Nun hat sich der Liebeskind-Verlag darangemacht, die Westernphase von Elmore Leonard wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Liebeskind ist ja eine hervorragende Adresse für ein solches Unterfangen, hat sich unabhängige Münchner Verlag in den letzten Jahren mit der Entdeckung von Werken wie Pete Dexters Deadwood oder James Carlos Blake um den zeitgenössischen Western verdient gemacht.

Elmore Leonards Western aus dem Jahr 1959

Nun also Letztes Gefecht am Saber River, das als Last Stand at Saber River ursprünglich 1959 erschienen war und das Florian Grimm im Deutschen wieder neu herausgeputzt hat. Entdecken lässt sich ein klassischer Western, der zurückführt in jene Tage, als der amerikanische Bürgerkrieg endete und damit Jahre der Gewalt und des Schlachtens ihr Ende fanden.

Auch die drei Figuren, die Elmore Leonard in den Mittelpunkt seines Westerns setzt, haben den Krieg am eigenen Leib erfahren. Cable, die zentrale Figur dieser Geschichte, kehrt zusammen mit seiner Frau und den drei Kindern zurück auf die heimische Ranch. Die Jahre davor hat er für die Rebellen gekämpft.

Auch Janroe, die zweite Hauptfigur, diente im Krieg, zeichnete sich durch besondere Grausamkeit aus und scheute sich auch nicht vor Kriegsverbrechen. In der militärischen Hierarchie machte blitzartig Karriere, ehe eine Verwundung und damit verbundene Amputation eines seiner Arme den raschen Aufstieg dieses gefährlichen Mannes zum Erliegen brachte. Und Vern Kidston, der Dritte im Bunde, sorgte als Mustangfänger für die Versorgung der Yankeetruppen mit Pferden.

Drei Männer im Konflikt miteinander

Doch nun, zweieinhalb Jahre nach seinem Eintritt in den Krieg ist es genug mit dem Schlachten und Töten. Cable möchte wieder nach Hause kommen, um mit seiner Familie ungestört zu leben und das Erlebte im Krieg hinter sich zu lassen. Ganz so einfach ist es aber nicht. Denn als er sich seiner Heimstatt im Süden Arizonas näher, muss er feststellen, dass die Jahre seiner Abwesenheit nicht spurlos an der Gegend vorübergegangen sind.

Nicht nur, dass ein alter Freund, der einen Laden in der Nähe von Cables Ranch betrieb, verstorben ist und nun mit Janroe einen äußerst zwielichtigen Nachbesitzer gefunden hat, der stets und stets subtile Gewaltbereitschaft verströmenden. Auch Cables Ranch ist nicht mehr sein eigen, haben Vern und sein Bruder Duane den Hof eingenommen und kümmern sich dort um ihre Pferdeherde.

Viel Veränderung, die Cable gar nicht schmeckt. Misstrauisch gegenüber Janroe gelingt es ihm, Duane Kidston mit seiner Truppe von seinem Hof zu verjagen. Aber nachdem wir uns in einem Western befinden sollte klar sein, dass diese Ruhe nur von kurzer Dauer ist. Denn Janroe spinnt als intriganter und undurchschaubarer Spieler noch ganz eigene Pläne, die dann auf ein Letztes Gefecht am Saber River hinauslaufen werden, als die drei Männer ihre Konflikte miteinander austragen.

Fazit

Elmore Leonard hat einen Western geschrieben, der auch der Übersetzung durch Florian Grimm wegen auch 65 Jahre nach Erscheinen fast zeitlos, da genau getaktet und auf den Punkt geschrieben, liest. Das Beziehungsdreieck von Vern, Cable und Janroe, auch die durchaus starke Zeichnung von Cables Frau Martha und das Miteinander dieses Ehepaars, die messerscharfen Dialoge und die passende Action, all das verbindet sich zu einem überzeugenden Western, der sich vorzüglich in das übrige hochklassige Portfolio des Liebeskind-Verlags einfügt!


  • Elmore Leonard – Letztes Gefecht am Saber River
  • Aus dem Englischen von Florian Grimm
  • ISBN 978-3-95438-176-0 (Liebeskind)
  • 252 Seiten. Preis: 22,00 €
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