Category Archives: Literatur

Audrey Magee – Die Kolonie

Kulturkampf auf der Insel. In Die Kolonie lässt Audrey Magee einen Maler und einen Linguisten auf einem kleinen irischen Eiland aufeinandertreffen und um künstlerischen Ausdruck, Autonomie und das Erbe des Kolonialismus ringen. Großartige und vielschichtige Unterhaltung, die die Bedeutung von Sprache herausstreicht. Da trifft es sich gut, dass Magees Buch mit Nicole Seifert eine passende Übersetzerin aufweist, die die vielen sprachlichen Schichten des Romans auch im Deutschen gelungen freilegt.


Diese Überfahrt hat es in sich. In einem kleinen Curragh, einer Art Ruderboot, wird der Künstler Lloyd zu Beginn des Romans von Audrey Magee auf eine namenlose kleine Insel übersetzt. Drei Meilen in der Länge, eine halbe in der Breite misst die Insel, die von gerade einmal 92 Menschen bevölkert wird.

Dort will Lloyd den Sommer verbringen – und vor allem zeichnen. Denn von der urwüchsigen Schönheit der Natur, den meeresumtosten Klippen und den Tieren auf der Insel erhofft er sich Inspiration und Motive, die er wieder mit nach Hause nach London bringen kann, wo seine Frau als Galeristin arbeitet.

Doch nicht nur, dass seine eigentliche Unterkunft für Lloyds Geschmack zu wenig Licht hat und er mit seinen Extrawünschen die Geduld seiner Vermieterin Bean Uí Néill und deren Tochter Mairéad strapaziert. Vor allem die Ankunft eines zweiten Mannes auf der Insel stört seinen inneren Frieden erheblich. Denn bei diesem handelt es sich um Jean-Pierre Masson, einen Linguisten aus Paris, der die Insel auch als Inspiration nutzt – allerdings für eine Studie über die irische Sprache.

Ein Maler und ein Linguist – und der Kampf um die Insel

Unter dem englischen Einfluss ist das Irische nahezu ausgestorben. Nur auf dieser Insel spricht man es noch wie früher, ohne dass die englische Sprache bislang eine nennenswerte Rolle gespielt hätte. Doch nun taucht dieser sasanach – so der irische Ausdruck für die Engländer – auf und bedroht die Reinheit der Sprache und damit auch sein Forschungsprojekt. Schnell sind sich die beiden Männer in ihrer gegenseitigen Ablehnung einig.

Also, sind wir bereit für einen Sommer mit diesen beiden Männern?

Das wird höchst unterhaltsam, sagte Mairéad.

Meinst du?, fragte Bean Uí Néill.

Ein Spektakel, Mam.

Mir gefällt das nicht. Zwei Ausländer gleichzeitig.

Lehn dich einfach zurück und guck zu, Mam. Genieß es.

Die werden den ganzen Sommer lang streiten, sagte Bean Uí Néill.

Kampf der Egos, sagte Francis. Frankreich gegen England.

Audrey Magee – Die Kolonie

Und so beginnt der Sommer, der – abgesehen von den Streitigkeiten, die fast an Loriots Zwist zwischen den beiden Herren im Bad erinnern – eine Idylle sein könnte, dort auf der Insel, fernab von allen Problemen.

Nachrichten von den Troubles

Audrey Magee - Die Kolonie (Cover)

Doch eine Idylle ist es nicht, mag die Insel in ihrer Unberührtheit und der Entfernung zum Festland auch so scheinen. Denn Die Kolonie spielt in Irland zur Hochzeit der Troubles, als der Kampf zwischen Unabhängigkeitsbefürwortern und Loyalisten auf der Insel zu heftigen Kämpfen und vielen Toten führte, darunter mit Lord Mountbatten sogar ein Onkel der Queen.

Während auf der Insel der Linguist und der Maler miteinander streiten, versinkt die irische Insel in Blut, was auch den Bewohnern des wesentlich kleineren Eilandes nicht verborgen bleibt. Und auch Audrey Magee platziert die Troubles im Herzen dieses Buchs. Die Kapitel werden nämlich allesamt durch fast telegrammartige Schilderungen des brutalen Terrors eingeleitet. Dieser kommt in Form von Totschlag, Schießereien und Bomben in kurzen Schlaglichter daher. Diese wirken zwar wie Nachrichten aus einer fernen Vergangenheit, sind es aber mitnichten.

Die Kolonie ist ein Roman über die Spaltung und den Kampf um Deutungshoheit, der sich bei Audrey Magee nicht nur zwischen Nordirland und dem Rest der Insel vollzieht, sondern der sich auch in anderen Form im Zwist auf der Magees wesentlich kleineren Insel spiegelt. Wie umgehen mit dem Erbe der Engländer, das sie Irland geopolitisch und sprachlich hinterlassen haben? Wie bewahrt man sich eine eigene Identität?

Von der Macht der Sprache

Im Falle von Die Kolonie ist es hauptsächlich das Feld der Sprache, auf denen dieser grundsätzliche Glaubensstreit ausgetragen wird. Jean-Pierre Masson, der aus den Erfahrungen des Umgangs der Kolonialmacht Frankreich mit Algerien heraus verhindern will, dass in Irland ähnliches geschieht und die Insel mit dem wachsenden Einfluss des Englischen auch ihre Identität verliert.

Dieses Land wurde kolonisiert, sagte Lloyd

Wird, sagte Francis.

Lloyd zuckte mit den Schultern.

Die Sprache ist ein Opfer der Kolonisierung, sagte er. In Indien. In Sri Lanka. In Algerien. (…)

Die Sprache lebt noch, sagte Masson. Hier auf dieser Insel.

Audrey Magee – Die Kolonie

Folglich beäugt er nicht nur die Anwesenheit eines Vertreters dieser ehemaligen Besatzungsmacht misstrauisch, auch versucht er, nicht nur in Interviews und seiner wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch praktisch den Einfluss des Englischen zurückzudrängen, was ihn natürlich in Opposition zu Lloyd bringt. Denn dieser sieht die Insel nicht nur als Materiallieferant für seine eigene Karriere, auch Séamus, Mairéads Sohn, ist von der Kunst des Malens fasziniert, in die ihm Lloyd einführt. Während er dessen Nähe sucht und mit der Idee seines Weggangs von der Insel liebäugelt, versucht Masson diesen nicht nur durch das beharrliche Ansprechen mit seinem irischen anstelle des anglisierten Namen James zur Besinnung auf seine Herkunft zu überzeugen.

Im Kleinen wie Großen vollziehen sich in Audrey Magees Buch diese Konflikte, die aber auf den zweiten Blick oftmals gar keine sind. Nicht nur dadurch, dass sich die traditionelle, an Rembrandt ebenso wie an Gaugin geschulte Maltechnik und Bildwelten Lloyds JP Massons Versuchen der Bewahrung des Vergangen ähnelt, ergeben sich Parallelen und Ansichten, die die Figuren so manches Mal lieber nicht wahrhaben wollen.

Dass sich Audrey Magee entschieden hat, auch den beiden Antipoden dieses Romans auch ganz unterschiedliche Sprachprägungen zu verleihen, ist ein großer Glücksfall, der von Nicole Seifert gelungen im Deutschen wiedergegen wird. Da die impressionistische Sprache Lloyds, der viel in Motiven, Farben und Gemäldetiteln denkt, da der zu ausschweifenden Formulierungen neigende JP, der auf der Insel seine Arbeit über das Irische abfasst.

Fazit

Fein ausgemalte Figuren und große und kleine Brüche ergeben ein faszinierendes Bild und großartiges Leseerlebnis, das von der Macht der Sprache und den Einflussfaktoren, die sie bedrohen, erzählt. Audrey Magee gelingt mit Die Kolonie ein klug konstruiert und ebenso gut durchdachter Roman, der der Betrachtung in Form einer genauen Lektüre lohnt. Wunderbar ins Deutsche übertragen ist dieser 2022 für den Booker Prize nominierte Roman nun auch endlich auf Deutsch zu entdecken – eine feine Sache!


  • Audrey Magee – Die Kolonie
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-312-01289-3 (Nagel und Kimche)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin

Agrippina, Boudica, Nero und Tacitus. In ihrem neuen Roman lässt Ursula Krechel eine Lateinlehrerin seitenweise über Gewalt und Geschichte dozieren. Das drängt die übrige Handlung dieses Romans an den Rand, was ausnehmend schade ist. Denn die Erzählansätze und Themen von Sehr geehrte Frau Ministerin sind für sich genommen wirklich spannend. Wäre da nicht der Latein-Overkill.


Ein wenig fühlt man sich in die Schulzeit zurückversetzt, wenn man sich in die Seiten des neuen Buchs von Ursula Krechel hineinbegibt. Denn Krechels Buch ruft Erinnerungen an den Lateinunterricht wach, beschäftigt sich das Buch doch seitenweise mit der Zeit der römischen Kaiser. Die Epoche Neros steht im Mittelpunkt des Textes und hier ist es insbesondere das Verhältnis von Kaiser Nero zu seiner Mutter Agrippina, der optima mater, wie er sie in seiner ersten Thronrede bezeichnete. Es sind Überlegungen zur Beziehung der beiden, zum Herrschaftsstil Neros und der Geschichtsschreibung, die in ihrer Genauigkeit und Platzanspruch die restliche Handlung der Gegenwart überlagern.

Immer wieder drängen die historischen Exkurse und Überlegungen die Geschichte der „Kräuterhändlerin“ Eva Patak an den Rand. Diese versieht in einem altmodischen Bioladen in der Essener Innenstadt ihren Dienst. Im sanftgrün gestrichenen Laden bedient sie Kunden und verkauft Kräuterbonbons , rückstandsfreie Biotees und Heilkräuter, die von der überschaubaren Kundenschar dort gekauft werden Ihr Sohn wohnt noch daheim in seinem Zimmer und verbringt die Tage vor dem Computer, sie selbst führt ebenfalls eine unauffällige Existenz, eben ganz so wie der Laden, in dem sie arbeitet.

Eine Kräuterhändlerin, eine Lehrerin, eine Justizministerin

Ursula Krechel - Sehr geehrte Frau Ministerin (Cover)

Das Leben Eva Pataks und ihr Umfeld eröffnen sich nur durch kurze Szenen und Schlaglichter. Eigentlich sind es aber die seitenweise römische Exkurse, die im Mittelpunkt des ersten von drei Teilen des Romans stehen. Warum es zu dieser disparaten Verbindung kommt, das eröffnet sich im zweiten Teil des Romans, der die Lateinlehrerin Silke Aschauer einführt. Diese ist Kundin im Laden von Eva und kämpft im ab ovo untertitelten Teil mit einem übermäßigen Blutfluss und ihrer Rolle als Leiterin eines Lateinleistungskurses. Dies erklärt auch den an ein Propädeutikums-Stil des ersten Romanteils, dessen Charakter im Buch weiterhin fortgesetzt wird.

Caesars De bello gallico, die Geschichtsschreibung Tacitus´, ein fiktives Gespräch zwischen der Keltenkönigin Boudica und Agrippina, dazu viel Wortarbeit mit Wortfeldern und Konjugationen. Es fühlt sich alles stark wie einst an, als man auf das Große oder Kleine Latinum vorbereitet wurde. Nur eines fehlt – eine klare Richtung, in die der Roman will. Erst am Ende des dritten Teils, der auch die dritte, zentrale Frauenfigur einführt, findet das Buch eine Spur, auf die es einbiegt.

Denn den ersten Teil des Romans schloss ein Brief von Eva Patak an die ebenfalls aus dem Ruhrgebiet stammende Justizministerin. Diese und ihr Wirken steht nun im finalen Teil des Buchs im Mittelpunkt. Ihre Arbeit, die Post, mit der sich die Ministerin konfrontiert sieht, dazu noch ein Blick auf Eva, die einen neuen Job bei einem Hörgeräteakustiker gefunden hat. All das mäandert weiter wie gewohnt vor sich hin, bis es zu einem eruptiven Akt der Gewalt kommt, der die optima mater Eva und ihren Sohn mit dem Leben der Justizministerin zusammenschmiedet.

Erschlagender Lateinunterricht, zu wenig Fokus

Es könnte ein guter Roman über Gewalt sein, die sich von der Antike bis in unsere Tage erstreckt (wie das wie es professionelle Kritiker*innen, darunter etwa Adam Soboczynski in der Zeit tut). Auch wäre der Roman in seiner historisch begründeten Schau auf das Verhältnis von Müttern und Söhnen interessant. Doch auch dieses Thema wird vom dozierenden Stil dieses Buchs erschlagen, etwa wenn dann seitenweise Exkurse über die kriegsbedingten Wirren um die Goldene Madonna im Essener folgen, die mit dem Werdegang und den Missbrauchsgerüchten um den Bischof des Bistums aufgepolstert werden.

Weniger Überfrachtung und eine Reduktion auf klare und sprechende Bilder wäre mehr gewesen. So werden alle zeitgeschichtlichen und psychologischen Komponenten leider vom wissenssatten Übermaß an lateinischer (Sprach)Geschichte und der springenden Erzählweise in ihrer Wirkkraft gemindert.

Auch der heutige Aspekt von Gewalt gegen Politiker, netzgespeiste Verschwörungsideologien und Paranoia kommt gegen das Zu Viel im Text nicht an. Unausgewogen und unbalanciert ist dieses Dreierlei aus Frauen, Mutterschaft und lateinischer Gewaltgeschichte.

Das ist schade, weil sprachlich stets das Talent der Lyrikerin, Dozentin und Romancière Ursula Krechel aufscheint. Auf einem kreativen und präzisen Niveau, wie man es sonst nur von Ulrike Draesner kennt – bis hin zum schönen Wort Ehrpusseligkeit – umkreist sie die Gedankenwelt ihrer Figuren. Sonderlich konkret und plastisch werden sie damit leider aber nicht, die damit ähnlich amorph wie die Botschaft des Buchs bleibt.

Fazit

Die Stringenz und Figurengestaltung, die Krechel in ihrem buchpreisgekrönten Weitwurf Landgericht an den Tag legte, Sehr geehrte Frau Ministerin lässt all das vermissen. Zu viel lateinische Geschichte, zu viele Arabesken und zu wenig Fokus auf die eigentlichen Themen verschenken leider das Potenzial, das Krechels Geschichte innewohnt.


  • Ursula Krechel – Sehr geehrte Frau Ministerin
  • ISBN 978-3-608-96653-4 (Klett Cotta)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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Tommie Goerz – Im Schnee

Beklagte ich mich noch vor einigen Monaten über die mangelnde Abbildung Frankens in der Literatur beziehungsweise die dürftigen Ergebnisse literarischer Repräsentation dieses Landstrichs, so kommt mit dem gebürtigen Erlanger Tommie Goerz nun ein Autor daher, der diese Worte Lügen straft. In Im Schnee setzt er dem verschwindenden Dorfleben zwischen Nürnberg und Marktredwitz ein Denkmal und erzählt angenehm ambivalent vom Leben und Sterben. Ein Buch mit Relevanz, weit über Franken hinaus.


Weißt du, wir sind hier auf einem Dorf. Und in einem Dorf hat es Regeln.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 146

Wirklich viel ist nicht mehr los im Dorf, das Tommie Goerz in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Dort das Neubaugebiet mit seinen anonymen Einfamilienhäusern und Bewohnern, die man im alten Kern des Dorfs kaum zu Gesicht bekommt. Da die alten Bauernhäuser, die teils leerstehen oder nur noch von einzelnen Alten bewohnt werden, deren festgetretene Wege nicht aus dem Dorf herausführen und allerhöchstens im letzten Gasthaus am Ort enden, wo sie auf ein Bier und die Beschau der Vergangenheit zusammensitzen.

Der Pfarrer muss mehrere Gemeinden versorgen, der Wirt sperrt nur noch an einzelnen Tagen seine Gaststube auf und die Bahn hält gerade einmal in der Stunde am Gleis des Dorfs, irgendwo im Nirgendwo zwischen Mittel- und Oberfranken. Will man hier länger bleiben?

Weit mehr als nur ein Dorfroman

Max ist einer, der geblieben ist. Goerz‘ Held hat sein ganzes Leben dort im Dorf verbracht und die unsichtbaren Regeln des Dorfs längst verinnerlicht. Wie diese Regeln aussehen sind und was das namenlose Dorf (noch) am Leben hält, das untersucht Tommie Goerz im Lauf seines Romans genau. Denn Im Schnee ist nicht nur ein Dorfroman, er ist weit mehr als das, ist das Buch mit seiner Hauptfigur Max ist auch das eindringliche Porträt eines Mannes, der ebenso wie die Welt um ihn herum langsam ihrem Ende zugeht.

Der Uhu hatte drüben am Seuberthshof gewohnt, jahrelang, hat da gebrütet unterm Dach der alten Scheune. Wenn der nachts die Hauptstraße entlangflog, dieser fast unglaublich große Vogel, noch leiser als ein Lufthauch, mit seinen riesigen Flügeln … und wie der kurven konnte! … das ergriff noch heute sein Herz, wenn er daran dachte. Aber dann hattten sie die Scheune abgerisssen und den gesamten Hof mit dazu, und seitdem war der Uhu weg. Er ist nie wiedergekommen.

Tommie Goerz – Im Schnee, S. 132 f.

Nicht nur der Uhu ist verschwunden, auch Max‘ Lebenswelt ist schon lange eher Vergehen denn Werden. So sterben um ihn herum langsam seine Weggefährten aus. Jüngst ist sein bester Freund Schorsch von ihm gegangen. Ein einschneidendes Erlebnis, das Goerz‘ Roman in Gang setzt.

Erinnerungen an ihre besondere Freundschaft, das tiefe gegenseitige Verständnis und gemachte Erfahrungen ziehen noch einmal an Max vorbei, während dieser Totenwache hält- auch das eine dieser verschwundenen Tradition, die Goerz hier noch einmal in Erinnerung ruft. Zunächst die Männer, dann die Frauen kommen im Haus des Verstorbenen zusammen, um ihm zu gedenken und gemeinschaftlich seine letzte Reise vorzubereiten.

Erinnerungen an Tote und eine Welt, die verschwindet

Tommie Goerz - Im Schnee (Cover)

Während das Dorf nun also im Schnee versinkt und sich eine nächtliche Stille und Ruhe über die verbliebenen alten Häuser breitet, wird der Verstorbene und das Dorfleben in den kollektiven Erinnerungen noch einmal lebendig. Tommie Goerz vermeidet in seinen Schilderung dieses Kulturguts und den Erinnerungsbögen den Fehler, hierbei zu Nostalgie oder Dorfkitsch zu neigen.

Im Schnee ist vielmehr ein angenehm vielstimmiger und ambivalenter Blick auf dieses Dorf, das Gemeinschaft bedeuten konnte, ebenso aber auch Fremden gegenüber ablehnend und feindlich sein konnte, bis hin zu einer dörflichen Variante der Omerta, als man lieber das leerstehende Pfarrhaus zerstörte, denn die Möglichkeit der Unterbringung von Geflüchteten zuzulassen.

Es sind universelle Schilderungen und Beobachtungen, die Goerz‘ Erzählen ausmachen und die das Buch nicht nur im dörflichen Franken, sondern auch in vielen anderen Landstrichen der Bundesrepublik mit ähnlicher Struktur anschlussfähig machen dürften.

Menschen, die gehen, Lebensweisen und Kulturen, denen keine wirkliche Zukunft mehr beschieden ist, ländliche Räume, die neu aufgeteilt und überschrieben werden, Tradition, die verschwindet. Das ist die Welt, in der Im Schnee spielt und die jene Schwelle vom Übergang der althergebrachten Lebensweise hin zu einer neuen Orientierung der Menschen und Generationen besieht. Und das tut Tommie Goerz angenehm differenziert und klar, ohne einfache Antworten zu geben.

Fazit

Ähnlich wie Robert Seethalers Das Feld ist auch Im Schnee die Heraufbeschwörung einer Welt, die es so schon fast nicht mehr gibt und die dem Untergang geweiht ist. Still und gerade deswegen so eindringlich nutzt Goerz den engen erzählerischen Rahmen, um eine ganze Walt dort hineinzupacken. Mit Max steht zudem ein ähnlich stiller und tiefgründiger Charakter im Mittelpunkt, dessen Geschichte stellvertretend für die sterbende Welt steht und dessen Weg man gerne ein Stück geht – auch über das Ende der Lektüre hinaus.


  • Tommie Goerz – Im Schnee
  • ISBN 978-3-492-07348-6 (Piper)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Daniel Glattauer – In einem Zug

Zwiegespräch In einem Zug. In seinem neuen Roman lässt der österreichische Romancier Daniel Glattauer zwei unterschiedliche Menschen aufeinander prallen und diese in einem vierstündigen Dialog zwischen München und Wien versinken.


Die Bahn hat es auch nicht leicht. Beständig wird sie kritisiert, steigt die Zahl der verspäteten Züge immer weiter an – und wenn einmal alles nach dem regulären Takt laufen würde, dann wartet der Zugverkehr entweder mit einer Streckensperrung oder gleich dem Streik einer Gewerkschaft auf. So die viel zitierten und leider oftmals viel zu wahren Klischees über die deutsche Bundesbahn.

Mit Neid kann man über die Grenze nach Österreich blicken, wo sich die Bahn nach wie vor in Staatshand befindet und der Schienentakt so geschmeidig vor sich hin schnurrt wie der berühmte Zeitanzeiger im Uhrturm über der Stadt Graz. Tu felix austria denkt sich der Bahnreisende – und wird mit der Lektüre von Daniel Glattauers neuem Roman In einem Zug wieder einmal bestätigt.

Ein Schriftsteller steigt in diesem einen in Zug in Wien ein, um mit diesem nach München zu reisen. Eine Fahrt, die mustergültig nach Fahrplan läuft. Wien Hütteldorf, St. Pölten und Amstetten sind Stationen dieser Reise, die der Zug mit österreichischer Bundesbahnpräzision passiert. Eine Verzögerung im Betriebsablauf gibt es erst, als sich der Zug in Salzburg quasi schon in deutsch-österreichischem Grenzgebiet befindet und einer der zu koppelnden Züge auf sich warten lässt. Dem deutschen Bahn-Ungemach entkommt man also nicht einmal wirklich hinter der Grenze.

Auf dem Weg von Wien nach München

Davon abgesehen wäre die Reise aber eine ebenso komfortable wie störungsfreie Reise für Glattauers Held und Ich-Erzähler Eduard Brünhofer, wäre da nur nicht diese Frau, die sich in Wien Hütteldorf zu Brünhofer ins abgetrennte Viererabteil setzt. Denn schon kurz nach Antritt der Reise sucht sie das Gespräch mit Brünhofer.

Schreiten wir zum konkreten Ereignis. Die Frau frühen mittleren Alters im Zug, die ich jetzt, wo ich ihren Blick erwidere, natürlich schon näher beschreiben könnte, ich tue es aber nicht, denn um Äußerlichkeiten geht es hier nicht, diese Frau fragt: „Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?“

Daniel Glattauer – Im Zug, S. 13

Auch wenn sich die erste Frage der Frau als falsch erweist (sie hatte in Brünhofer einen ehemaligen Englischlehrer ausgemacht), erstirbt damit das Gespräch nicht, im Gegenteil. Hartnäckig hakt die Frau nach und so beginnt der Dialog und das gegenseitige Kennenlernen, das sich bis zur Einfahrt in den Endbahnhof in München erstrecken wird.

Ein Gespräch im Zug

Daniel Glattauer - In einem Zug (Cover)

Die als Physio- und Psychotherapeutin tätige Frau erweist sich als gnadenlos, wenn es darum geht, Eduard Brünhofer auf den Zahn zu fühlen. Langsam gibt das Gespräch der beiden den Charakter und die Dinge preis, die beide Figuren gerade umtreibt. Da die neugierige Mitfahrerin, die nicht nur in Sachen Lebens- und Liebeskonzept Brünhofer recht diametral gegenübersteht, dort der österreichische Schrifsteller auf dem Weg nach München.

Brünhofers Konturen werden im Lauf des Kammerspiels auf Schienen klarer, als sich langsam herausstellt, dass er zwar ein einst gefeierter Autor von Liebesromanen gewesen sein mag, seit geraumer Zeit allerdings eher mit Schweigen und Abwesenheit auf dem Buchmarkt glänzt. Ein Umstand, bei dem auch die zahlreichen geleerten Weinfläschchen zwischen Wels und Rosenheim keine Abhilfe schaffen.

Schon mit seinem Roman Gut gegen Nordwind, der Daniel Glattauer den Durchbruch bescherte, erwies sich der Autor als Spezialist für Dialoge, die damals im Neuland des Internets per Mail geführt wurden. Nun, knapp zwanzig Jahre später und einen immensen Boom von Podcasts oder verschriftlichten Gesprächsbücher später, ist es ein Gespräch face to face, das uns Brünhofer hier noch einmal, garniert mit kleinen Kommentierungen und Arabesken zu den passierten Städten, präsentiert.

Aber so sind wir Menschen. Solange wir uns völlig fremd sind, gering schätzen wir einander oft genussvoll um die Wette und schicken uns, mit allen erdenklichen Vorurteilen behaftet, gegenseitig in die Wüste.

Doch kaum kommen wir unverhofft miteinander ins Gespräch, teilen wir uns in liebevoller Zuwendung die schönsten Sachen mit und heischen inbrünstig nach der Gunst des anderen.

Daniel Glattauer – In einem Zug, S. 117

Fazit

Konzentrierter und gelungener als das überdeutliche Vorgängerwerk Die spürst du nicht ist In einem Zug ein Buch über einen Seelenstriptease, den vor allem der zugreisende Schrifsteller Eduard Brünhofer hier hinlegt und der Betrachtungen über das Liebesleben viel Raum einräumt. Gebaut um eine nette Schlusspointe herum ist der Roman eine auch im Ganzen nette Lektüre, und das nicht nur als Zeitvertreib bei Zugfahrten.

Gewiss, trotz allerlei intimen Geständnissen bleiben die Figuren etwas blass und eine äußere Handlung findet angesichts des Minimalrahmens für das dialoggetriebene Kammerspiel so gut wie nicht statt. Auch haben ähnliche Konversationsstücke zumeist französischer Bauart á la Yasmina Reza mehr Esprit und Feuer als dieser doch etwas zahme Roman.

Dafür aber buchstabiert Daniel Glattauer in seinem Roman das Zwischenmenschliche genau aus und lässt am Ende den Leser*innen mit einer Entscheidungsfrage zurück: möchte man sich auf der nächsten Bahnfahrt ebenfalls in ein solches mehrstündiges Gespräch begeben oder würde man lieber Zuflucht in den Seiten eines Romans, vielleicht sogar dem vorliegenden, den entspannteren und unterhaltsameren Zeitvertreib finden?


  • Daniel Glattauer – In einem Zug
  • ISBN 978-3-7558-0040-8 (Dumont)
  • 208 Seiten. Preis: 23,00 €
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Matthias Lohre – Teufels Bruder

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour durch Italien, mit im Gepäck Schreibkrisen, Liebeskummer und die Frage, wohin der Lebensweg führen soll. Einen führt dieser Lebensweg in Matthias Lohres zweitem Roman Teufels Bruder nicht nur von Lübeck nach Italien – sondern sogar in die die Arme des Teufels. Der Name des Reisenden: Thomas Mann.


In seinen im vergangenen Jahr unter dem Titel Leoparden im Tempel wiederveröffentlichen Schrifstellerporträts beginnt Michael Maar seine Annäherung auf das Phänomen Thomas Mann mit einer Frage. Welches ist die Figur, die einem in Thomas Manns erstem Roman als erstes begegnet – oder die besser gesagt angerufen wird? Die Lösung lautet: der Teufel. Denn dieser hat gleich als erstes in einem Ausruf des Konsuls Buddenbrook als „Düwel“ seinen Auftritt.

Das ist alles andere als verwunderlich, wie Maar im Folgenden aufzeigt. Denn der Teufel besitzt im Werk Thomas Manns einen ganz eigenen Stellenwert, schließlich will Mann dem Teufel sogar höchstpersönlich in Italien begegnet sein. Auch in Matthias Lohres zweitem Roman ist der Teufel im Leben Thomas Manns stets präsent und spukt häufig durch den Text. Denn dessen Roman spürt der Faszination Manns für den Teufel nach, indem er jene Jahre in den Mittelpunkt rückt, in denen sich Heinrich und Thomas Mann auf jene Grand Tour durch Italien begaben, bei der dem jüngeren der beiden Brüder nach eigener Aussage der Teufel erschienen sein soll.

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour

Matthias Lohre - Teufels Bruder (Cover)

Lohres Buch setzt im Jahr 1896 ein. Nach dem Tod ihres Vaters, eines angesehenen Lübecker Konsuls, reisen beide Brüder durch Italien. Das väterliche Erbe und enttäusche Erwartungen beschäftigen die beiden Reisenden ebenso wie die Frage, wo es hingehen soll in ihrem Leben. Schriftsteller wollen sie beide sein, doch der große Erfolg lässt besonders im Falle von Thomas Mann noch auf sich warten. Noch nicht einmal wirklich zu erahnen ist dieser erhoffte Erfolg.

Konkret ist bislang nur die Ebbe in der Reisekasse der Brüder. Und so lässt sich Heinrich mit einem Verleger auf einen besonderen Deal ein. Er soll als Herausgeber dessen Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert vorstehen, um so Geld in die Reisekasse zu spülen. Doch ganz so vorteilhaft entpuppt sich der Deal nicht, denn fortan begleitet Heinrich den Filius des Verlegers auf seinen Reisen, der wiederum Heinrich für seine eigene Agenda einspannt und die Brüder zur Abgabe von Novellen bewegen möchte. Der Arbeitstitel dieses Projekts trifft dabei die bisherige Schaffensbilanz der Brüder in Italien vortrefflich, denn er lautet Enttäuschung.

Und dann ist da ja auch noch Thomas Mann, der im Gefolge seines Bruders ebenfalls mit durch Italien reist. Schon zu Beginn der Grand Tour in Venedig allerdings passiert etwas, das Tommy, wie ihn sein Bruder ruft, entschieden prägt. Denn in Vendig wird er eines jungen Mannes ansichtig, dessen Spuren er auf seiner ganzen Reise durch Italien folgt. Bis auf den Kraterrand des Vesuvs in Neapel steigt der jüngere der beiden Mann-Brüder dem geheimnisvollen Jungen nach. Doch wo immer er dem Jungen begegnet, ist auch ein geheimnisvoller Fremder nicht fern…

Das komplizierte Miteinander zweier Brüder

Teufels Bruder ist die Geschichte zweier komplizierter Brüder, deren Miteinander nicht minder kompliziert ist. Da der feinfühlige und feinnervige Thomas Mann, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt, aber doch anfangs über kleine Formen und eine gewisse Ortientierungslosigkeit nicht hinwegkommt. Da Heinrich, der sich mit seinen Texten schon einen gewissen Ruf erschrieben hat, aber trotzdem mit der Ablehnung des väterlichen Erbes hadert. Aufgerieben zwischen dem Begehren für eine Schauspielerin und einer Scharade gegenüber seines Verleger und dessen Sohn, die ebenso Schauspiel erfordert und dann auch noch die Fürsorge für seinen irrlichternden Bruder – all das zehrt an Heinrichs Nerven.

Wie sich die beiden Brüder mal duellieren, dann wieder aufeinander angewiesen sind, das versteht Lohre trefflich zu schildern. Er lässt sich für seinen Roman gar nicht auf das Himmelfahrtskommando ein, sich einen der hohen Erzähltöne anzuverwandeln, für den die beiden Brüder bekannt sind.

Vielmehr entwickelt er einen eigenen Stil, mit dem er sowohl die rastlose Grand Tour durch Italien als auch Fragen der künstlerischen Selbstfindung und innere Konflikte zu schildern vermag. Großartig etwa die Szene, wenn die Brüder Mann auf Drängen des Richard Wagner-begeisterten Thomas in Rom einer Aufführung der von ihm so hochverehrten Werke des deutschen Komponisten lauschen wollen.

Zwischen Venedig und Neapel

Über die geschilderte Musik und das Konzerterlebnis auf dem überfüllten Platz hinaus treffen hier verschiedene Konflikte und Erzähllinien des Romans aufeinander und verschränken die unterschiedlichen Erzählebenen. Das gelingt Matthias Lohre außerordentlich gut, obgleich die Übersicht im all den erzählerischen Sprüngen von Heinrich zu Thomas Mann, verbunden mit den vielen Stationen der Reise (von Venedig über Palestrina bis in den Untergrund der Sanità in Neapel und zurück), nicht immer ganz leicht zu behalten ist.

Besondere Freude macht es in Teufels Bruder natürlich, die vielen Anspielungen im Werk von Thomas und Heinrich Mann zu entschlüsseln. Von Mann und Hund über den Tod in Venedig bis hin zur möglichen Geburtstunde der Buddenbrooks reicht der anspielungsreiche Bogen, den Lohre unter dem eigentlichen Plot spannt und der in seiner Verknüpfung von fiktiv Erlebtem zu tatsächlichem Werk wirklich interessant ist.

Im großen Gedenkkonzert an die Mann-Brüder und den 100. Geburtstag des epochalen Zauberbergs kommt diesem Roman eine ganz eigene Stimme zu, mit der er sich in der Vielzahl anderer Mann-Hommagen zu behaupten weiß.


  • Matthias Lohre – Teufels Bruder
  • ISBN 978-3-492-07279-3 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €

Bildquelle Titelbild: Library of Congress unter Verwendung https://loc.gov/pictures/resource/ppmsc.06559/

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