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Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau etc.

Einen ganzen Teppich aus Frauenleben webt die britische Autorin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Mädchen, Frau etc.. Mit diesem Bogen an weiblichem, schwarzem Leben gelang der Autorin im Jahr 2019 eine Sensation: nach genau fünfzig Jahren seit Bestehen des Preises errang mit Bernardine Evaristo erstmals eine schwarze Frau diesen Preis. Nicht nur angesichts ihres Themas eine mehr als fällige Entscheidung – die im Lichte unserer Tage besehen auch zeigt, wie schnell sich der Zeitgeist wieder wandeln kann.


So viel (schwarzes) Frauenleben in einem Buch ist selten. Jedes der ersten vier Kapitel von Bernardine Evaristos Buch stellt drei ganz unterschiedliche Frauenleben vor, ehe im fünften Kapitel dann viele der vorgestellten Frauen auf der Premierenparty zum neuen Stück der Theatermacherin Amma im National Theatre in London zusammenfinden.

Es ist ein großer Bogen oder besser ein literarischer Teppich aus Leben und Schicksalen, den Evaristo in ihrem Roman knüpft. Da ist die schon erwähnte Amma, die als schwarze, lesbische Künstlerin zunächst gegen das althergebrachte System revoltierte. Sie „schleuderte als Rebellin Handgraten auf das Establishment, das sie ausschloss“ (S. 12), hat jetzt aber doch den Weg in die Institutionen angetreten. Als gefeierte Regisseurin aus dem Off reüssiert sie auf der größten Theaterbühne des Landes, wo sie ihr Stück Die letzte Amazone von Dahomey inszeniert.

Weiter geht es dann mit Ammas Tochter Yazz; darauf folgen weitere Frauen wie die im Laufe ihres Lebens zunehmend desillusionierte Lehrerin Shirley, die aus Nigeria stammende Akademikerin Bummi, die sich in London trotzdem als Putzfrau durchschlagen muss oder deren Tochter, deren Leben dann wiederum Berührungspunkte mit der Lehrerin Shirley aufweist.

Ein erzählerischer Teppich schwarzer Frauenleben

Bernardine Evaristo - Mädchen, Frau, etc. (Cover der Büchergilde-Ausgabe)

Immer wieder gibt es kleine Querverweise, berühren sich Leben, gibt es Überschneidungen der Lebensthemen, denen sich die Frauen gegenüber sehen. Dabei ist es die Unterschiedlichkeit, die ihre schwarzen Frauen ein. Mögen sie auch höher oder tiefer auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, mögen sie scheinbar aller materiellen Sorgen enthoben sein oder sich genau damit herumschlagen. Es sind doch Fragen der Perspektivlosigkeit, des Rassismus und der Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg, der über Generationen hinweg die Frauen vor Herausforderungen stellt.

Ausgreifend bis ins 19. Jahrhundert hinein ist Mädchen, Frau etc. das Manifest weiblicher Widerstandskraft und zeigt den vielgestaltigen Kampf um Selbstbehauptung für Evaristos Frauen.

Ebenso vielgestaltig, was Frauenleben und Themen anbelangt, ist auch Bernardine Evaristos Sprache. Die Professorin für Kreatives Schreiben wählt einen schnellen, manchmal fast nur angerissenen Stil, der sich gar nicht erst mit so etwas wie Zeichensetzung und eigentlich grammatikalisch gebotener Großschreibung innerhalb eines Satzes aufhält.

Rhythmisiert und vorwärtsdrängend ist ihr Stil, den Tanja Handels wunderbar ins Deutsche übertragen hat. Schnell hat man sich eingewöhnt in diese Erzählweise, die auch mit Rückblenden arbeitet und in manchen Passagen an ein Langgedicht erinnert.

Gewinner des Booker Prize 2019

Evaristos Sprache und der so vielstimmige Blick von schwarzen Frauen auf ihr Leben in Großbritannien fügt der britischen Literaturgeschichte eine notwendige und aufschlussreiche Perspektive hinzu. Insofern ist die Auszeichnung mit dem Booker Prize mehr als gerechtfertigt, den Evaristo im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwoods Die Zeuginnen erhielt.

Nun, sechs Jahre später, lässt sich konstatieren, dass Evaristos Auszeichnung wirklich gerechtfertigt war und vielleicht auch nur die singuläre Zuerkennung des Preises verdient hätte. Atwoods Werk war ein solides, aber eben auch nur durchschnittlich erzähltes, am Actionerzählhandwerk aktueller Bücher orientiertes Sequel zu ihrer eigentlichen Großtat Der Report der Magd, das angesichts der zeitgeschichtlichen Entwicklungen seine ganze Prophetie und Klasse nach wie vor entfaltet, wohingegen das deutlich jüngere Werk der kanadischen Autorin dem Vergleich mit dem Vorgängerroman nicht Stand gehalten hat.

Doch der Blick zurück stellt nicht nur die wahre Klasse von Evaristos Werk und dessen Zeitlosigkeit in Sachen Themen und Erzählabsichten unter Beweis. Vor allem ist das Buch – so paradox es klingen mag -aufgrund dieser Zeitlosigkeit in gleichem Maße auch eine Kenngröße für die Zeit, die seit der Auszeichnung des Buchs verstrichen ist.

Zeitgeist im Wandel

Denn besieht man sich Bernardine Evaristos Sieg mit Mädchen, Frau etc. vor sechs Jahren, so muss man auch unweigerlich feststellen, wie sehr sich der Zeitgeist seit jenen Tagen gedreht hat. Jener Sieg zeigt deutlich, welcher Backlash in Sachen marginalisierter Perspektive, LGBTQI+ und der gesellschaftlichen Stellung der Frau in der Zeit von 2019 bis heute im Jahr 2025 stattgefunden hat.

War die Auszeichnung des Buchs im Jahr 2019 auch Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für Diversität, Women of Color und bislang vernachlässigter Blickwinkel, so wäre eine Mehrheitsentscheidung für Evaristos Buch in diesen Tagen nicht mehr ohne Weiteres denkbar, davon bin ich überzeugt.

In aktuell tonangebenden Kreisen würde Mädchen, Frau etc. schnell als „identitätspolitisch“ oder gleich stumpf als „woke“ verunglimpft werden (was es natürlich im besten Sinne auch ist). In Zeiten, in denen diese Begriffe als Schimpfworte geführt werden, Firmen in atemberaubenden Tempo ihre Programme zur Förderung von Vielfalt und benachteiligten Personen einkassieren und die „starken“ Männer wieder den Ton angeben, dürfte schon alleine die Widmung des Buchs das Gemüt manch rechtsreaktionären Geistes erheblich zum Kochen bringen. Denn da heißt es:

Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren & die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn & unseren Männern, Men & Mandem & die LGBTQI*-Mitglieder unserer Menschenfamilie

Widmung von Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau, etc.

Notwendige Lektüre – gerade jetzt

Vor sechs Jahren sprach aus dieser Widmung ein fortschrittlicher Geistes, der ebenso in sprachlichen Experimenten eines Gendersterns oder der Einführung von Sensitivity Readers einen Ausdruck fand. Das Bemühen um den Einschluss von Menschen in ihrer ganzen Vielfalt und die Ermöglichung und Sichtbarmachung von mehr Pluralität in Gesellschaft und Sprache war an vielen Stellen zu greifen.

Davon ist nicht mehr viel übrig. Die über die Jahre mühevoll vorangedrehten Uhren des gesellschaftlichen Fortschritts werden in Rekordtempo zurückgestellt. Die USA als Taktgeber der „antiwoken“ Revolution kassieren erkämpfte Rechte für Trans*-Menschen ein, lassen per Geschlechtseintrag nur noch zwei Geschlechter zu (wie unsinnig dies ist zeigt schon alleine das Buchkapitel Megan/Morgan), unterstützen die Entfernung tausender Bücher aus Schulbibliotheken (darunter das eben schon erwähnte Der Report der Magd von Margaret Atwood, aber auch die Aussonderung von Evaristos Buch ist bestimmt nur eine Frage der Zeit)

Dabei zeigt doch Bernardine Evaristo mit ihrer lässig erzählten Geschichte, wie bedeutend gerade für Menschen, die außerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft stehen, die Sichtbarkeit in Gesellschaft und damit auch in der Literatur ist.

Natürlich ist auch manch linker Furor in Sachen Identitätspolitik zu kritisieren und auch das Buch meint es vielleicht an der ein oder anderen Stelle zu gut damit. Aber, und das ist das Entscheidende: Mädchen, Frau etc. schafft Bewusstsein für die Bedeutung dieses Fortschritts und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung, mit dem wir uns hinterfragen, uns auf unbekannte Schicksale und Perspektiven einlassen und im Dialog mit anderen Menschen den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Das Buch atmetet diesen Geist, der in der Realität längst schon wieder verpufft zu sein scheint.

Fazit

Aber trotzdem – oder genau deswegen sind solche Bücher wie das von Bernardine Evaristo auch in reaktionären Zeiten so wichtig. Wir sehen, was auf dem Spiel steht, welche Fortschritte wir schon erlangt haben und was dieser Kampf auch für Menschen außerhalb der Mehrheitsordnung bedeutet. Allein schon deshalb lohnt die Lektüre von auch in diesen Tagen, schließlich ist Evaristos Werk eines, das weit über seine Zeit hinaus- und uns den Weg zu einer verständnisvolleren Gesellschaft weist.


  • Bernardine Evaristo – Mächen, Frau etc.
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50484-2 (Tropen)
  • Artikelnr. 172844 (Büchergilde Gutenberg)
  • 512 Seiten. Preis: 24,00 €
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Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung

Mit seiner Novelle Der Frühling der Barbaren stellte sich Jonas Lüscher im Jahr 2013 kraftvoll auf dem Literaturmarkt vor und erzählte von den Entgleisungen des Kapitalismus und gesellschaftlicher Dekadenz. Sein nächster Wurf Kraft blieb nicht nur eine titelgebenden Behauptung, sondern zeigte ebenjene Kraft auch literarisch im Inneren des Buchs, in dem Lüscher enorm unterhaltsam das Taumeln und den Fall eines Mannes im akademischen Betrieb zeigte. Dafür wurde ihm neben viel Kritikerlob (mich eingeschlossen) im Jahr 2017 auch der Schweizer Buchpreis zugesprochen.

Umso erstaunlicher ist jetzt das, was Lüscher unter dem Titel Verzauberte Vorbestimmung als Einstand bei seinem neuen Verlag Hanser fabriziert hat.


Schlägt man das von einem Ausschnitt des Gemäldes The leader of the luddites geschmückte Buch von Jonas Lüscher auf, so stößt man auf ein Zitat des Autors und Sängers PeterLicht. Dieser behauptet darin , dass es die Technik wie die Liebe seien, die uns retten würden. Ein Maschinenstürmer auf dem Cover und das Vertrauen auf ebenjene von den Maschinenstürmern bekämpfte Technik, und das im Abstand von nur wenigen Seiten. Es ist ein Widerspruch, der dem Ganzen innewohnt und er auch alles Folgende in Verzauberte Vorbestimmung kennzeichnen wird.

Denn wer einen roten Faden in Lüschers Werk sucht, der wird nicht fündig werden. Stattdessen dominiert ein Vielerlei aus Themen und Motiven, die über 340 Seiten nicht zusammenfinden und den Eindruck eines nicht einmal in Ansätzen konsistenten und reichlich überladenen Erzählwerks hinterlassen. Schon die Nachzeichnung der groben erzählerischen Linien muss scheitern, da sie in diesem Roman allenfalls angedeutet vorkommen.

Von den Schlachtfeldern Yperns zu Peter Weiß und nach Kairo

Jonas Lüscher - Verzauberte Vorbestimmung (Cover)

Der Roman hebt mit der Schilderung eines aus Algerien stammenden Soldaten an, der sich dem Kampfgeschehen der Schlacht bei Ypern im Ersten Weltkrieg entzieht. Inmitten von Gasschwaden erhebt er sich aus den Gräben, um das Kampfgeschehen zu verlassen und stattdessen Briefträger in Lyon zu werden. Von diesem kurzen Schlaglicht geht es weiter zum Schriftsteller Peter Weiß, auf dessen Spuren sich der Erzähler begibt. Die Frage des Widerstandes, sie verbindet den Postboten im Krieg mit Weiß‘ berühmtesten Werk, das den Titel Ästhetik des Widerstands trägt und in dem sich der Schriftsteller mit antifaschistischem Widerstand und Faschismus auseinandersetzt.

Aber auch mit der Geschichte eines Briefträgers beschäftigte sich Peter Weiß. In seinem Werk Rapporte greift er die Lebensgeschichte eines Briefträgers auf, der zeit seines Lebens mit der Errichtung des sogenannten Palais idéal nach eigenem Vorbild beschäftigt war. Bis nach Südfrankreich führt diese Suche auf Spuren des Briefträgers und des gefeierten Autors Peter Weiß. Später wird der Schriftsteller bis Kairo reisen, dazu kommen an den unterschiedlichen Schauplätzen imaginierte Geschichten, die unter anderem im Stil einer Fabel von dem auf dem Cover abgebildeten Ludditen Ned Ludd und dessen Zerstörung von Webstühlen per Hammer erzählen. Mal geht es in Böhmen zurück in die Vergangenheit, mal geht es in Ägypten bis in die Zukunft.

Es ist ein wildes Durcheinander, dass das „Roman“ geheißene Werk Jonas Lüschers kennzeichnet. Eine Aufzählung von KZ-Gefangenen, die auf einem Todesmarsch umgekommen sind, steht neben einer Reiseerzählung nach Kairo, aus der sich dann die nächste erzählerische Dystopie ergibt, ohne dass eine Zusammenhang oder eine Motivierung der Themen klar ersichtlich würde.

Themen tauchen kurz auf, verschwinden dann wieder, dazwischen gibt es Passagen, die eine gewisse Kongruenz des reisenden Schriftstellers mit dem tatsächlichen Jonas Lüscher nahelegen, etwa wenn es in Passagen um das mehrwöchige Martyrium im Krankenhaus infolge einer Covid 19-Erkrankung geht, deren literarischer Verarbeitung man hier Zeuge wird.

Ein Roman wie schmelzende Wachsfiguren

Mit Verzauberte Vorbestimmung ist es wie mit den Wachsfiguren, die in einer in Kairo spielenden Erzählepisode zum Ende des Romans hin beschrieben werden.

Vor einigen Jahren ist die Klimaanlage ausgefallen, und Mahmoud, der die Galerie mit den Wachsfiguren schon immer gehasst hat, hat sich nie bemüht, sie wieder in Stand zu setzen, und bald fing irgendein Insekt an, große Löcher in die Samtvorhänge vor den Fenstern zu fressen, so dass die Sonne Strahlenbündel in den Raum zu werfen begann, die nach Jahreszeiten in unterschiedlichen Pfaden über die Figuren wanderten.

Das war den prominenten Ägyptern nicht gut bekommen.

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung, S. 298

Ein Boutros Boutros-Ghali, der wie in einem Dalí-Gemälde zerfließt, eine Königin Hatschepsut oder König Tutanchamun, der zerflossene Gesichter an einen Schlaganfall erinnern oder schon fast vollständig zerfallene Figuren – das Panoptikum des Verfalls und der auflösenden Formen, es gilt leider auch für Verzauberte Vorbestimmung selbst. Zwar kann man im Buch durchaus verheißungsvolle Ideen für einen Roman erkennen, de facto erweist sich das Buch als literarisches Äquivalent zu den geschmolzenen Wachsfiguren aus Kairo: wenig ansehnliches, mühsam zu dechiffrieren und auch nicht zu einer vertieften Beschäftigung mit Figuren und Themen einladend.

Viele Fragen, kaum Antworten

Am Ende bleiben viele Fragen. Wäre das Buch als Erzählungsband vielleicht die bessere Wahl gewesen? Wo sind die roten Fäden, wo ist der Wille zu einer nachvollziehbaren Geschichte hin, warum die immensen Sprünge durch Zeit und Raum, wenn daraus nur eine Überfrachtung des Buchs mit Themen resultiert? Wollte er womöglich einfach zu viel für ein Buch? Technik, Sterben, Widerstand, Aufbruch, Peter Weiß, Abhängigkeit von Maschinen – was ist das eigentliche Anliegen und warum hat das Verbindende und Erklärende so fast gar keinen Platz? Und warum ist die Gestaltung der Figuren so in den Hintergrund geraten?

Zumindest für mich läuft alles auf die zentrale Frage hinaus, auf die ich auch nach der Lektüre und der schriftlichen Beschäftigung in Form dieser Rezension noch keine Antwort gefunden habe: was wollte uns der Künstler damit bloß sagen?

Fazit

Auch wenn Jonas Lüscher hier wieder mit Satzgirlanden, einer registerreichen Sprache sein Talent fürs Erzählen unter Beweis stellt, leider scheint es auch, als habe den Schriftsteller die Lust zu einer wenigsten einigermaßen übersichtlichen und nachvollziehbaren Gestaltung dieses überfrachteten Gebirges verlassen. Der Roman wirkt an vielen Stellen wie die Ideensammlung für ein im Entstehen befindliches Bühnenstück, dessen Regisseur schon nach der ersten Leseprobe hingeworfen hat und das Ganze dann in dem unbearbeiteten Zustand heillos überfrachtet auf die große Bühne gebracht hat.

Nahezu unlesbar stand ich bei der Lektüre von Verzauberte Vorbestimmung mehrfach vor einem Abbruch, den ich mir aufgrund von Lesedisziplin und die Wertschätzung des bisherigen Werks des Autors aber nicht erlaubte.

Gebracht hat es nichts, am Ende steht trotz aller Bereitschaft für eine Auseinandersetzung mit den Themen und den erzählerischen Ansätzen ein klares Urteil: Verzauberte Vorbestimmung ist leider weder ver- noch bezaubernd, sondern leider nur eines: verwirrend, unkonturiert, disparat, herausfordernd und überfordernd zugleich. Auf dieses Buch muss man sich wirklich einlassen wollen.

Weitere Meinungen

Nuancierter als in dieser Rezension beschäftigt sich der Schweizer Buchclub mit Lüschers Buch. Für Carsten Otte im SWR ist der Roman eine Romanruine, für Wiebke Porombka bei Deutschlandfunk Kultur ist das Buch hingegen eine präzise und zugleich philosophische Reflexion unserer Gegenwart, noch dazu literarisch brillant.


  • Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung
  • ISBN 978-3-446-28304-6 (Hanser)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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Tammy Armstrong – Pearly Everlasting

Es ist ein ungewöhnliches Paar, das im Mittelpunkt des Romans der kanadischen Autorin Tammy Armstrong steht. In Pearly Everlasting erzählt sie von der Bindung der jungen Pearly zu ihrem „Bruder“ Bruno. Ein menschlicher Bruder ist es aber nicht, vielmehr handelt es sich um einen Bär, für dessen Wohl das junge Mädchen einen hohen Preis zu zahlen bereit ist.


Wir schreiben das Jahr 1934. In den Wäldern Kanadas lebt die nach der Silberimmortelle benannte Pearly zusammen mit ihrer Familie in einem Holzfällerlager, das so archaisch wirkt, dass es auch hundert oder zweihundert Jahre früher sein könnte. Als Koch versorgt Pearlys Vater Ansell die Truppe des Camp 33 unter ihrem zwielichtigen Anführer Swickers mit Essen, während Pearly zusammen mit ihrer Schwester und Mutter geborgen in den wilden Wäldern aufwächst.

Flößer und Holzfäller versehen ihre kraftraubende Arbeit, bei der auch immer wieder Menschen sterben. Während die Holzfäller vom Geist Old Jack fabulieren, der in den Wäldern hausen soll und sich seine Opfer sucht, lebt Pearlys Familie ihr einfaches, aber erfüllendes Leben in einer der Holzhütten. Insbesondere ein weiteres, ganz besonderes Familienmitglied sorgt dabei im Camp für Aufsehen und Chaos. Denn Bruno, den Pearly ihren Bruder nennt, ist ein Bärenjunges.

Eine bärige Lektüre

Schreiend, zahnlos und blind, so kam Bruno in die schwere Wolljacke meines Vaters gewickelt ins Camp. Und von dem Augenblick an, als mein Vater ihn neben mich in den Weidenkorb legte, suchte Bruno meine Nähe. Es wäre zu grausam gewesen, ein solches verwaistes Geschöpf einfach verhungern zu lassen, sagte mein Vater. Meine Schwester Ivy tanzte um ihn herum und bettelte, er möge Bruno in ihre Hände legen. Und die Waldarbeiter kamen scheu herein und hofften, mit ihren groben Knöcheln über seinen Kopf streicheln zu dürfen.

Also wiegte Mama uns beide auf ihrem Schaukelstuhl mit der Korblehen. Neben ihr flackerte die Flamme der Petroleumlampe im Windzug und warf lange Zerrschatten an die rauen Wände. Und in diesem Stuhl stillte sie uns beide und sagte: „Das hier ist dein Bruder, und das hier ist deine Schwester“.

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting, S. 15

Doch dann kommt es zu einer vielfachen Tragödie dort im Waldarbeiterlager. Pearlys Mutter und Schwester Ivy sterben, der Vorarbeiter Swickers wird ermordet, tatverdächtig ist Bruno – und dieser ist dann auch noch aus dem Camp 33 verschwunden.

Pearly Everlasting auf den Spuren ihres Bärenbruders

Tammy Armstrong - Pearly Everlasting (Cover)

So macht sich Pearly nun daran, die Spur ihres Bärenbruders aufzunehmen, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Sie bricht überstürzt in die Wildnis auf, um Witterung ihres Bärenbruders aufzunehmen. Ihr Vater, der in den entscheidenden Stunden nicht anwesend war, macht sich nach seiner Heimkehr ins Camp wiederum daran, Pearly und bestenfalls auch Bruno aufzuspüren.

Und so beginnt nun eine doppelte Suche: die von Pearly nach Bruno und die ihres Vaters nach seiner Kindern. Es ist eine Suche, die die Figuren weit voneinander entfernen wird, alle drei durch halb Kanada führen wird und die sie in Kontakt mit Elefanten, gefährlichen Bären und ebenso gefährlichen Menschen bringen wird.

Pearly Everlasting ist das, was man gemeinhin mit der Binse atmosphärisch dicht erschlägt. Die kanadische Natur in all ihrer Rauheit ist hier ein eindrucksvoll eingefangener Spielpartner von Pearly und Bruno. Die beißende Kälte im Holzfällercamp und das gefährliche Tun der Flößer und Fäller, die schon fast magisch wirkende Stimmung in den Wäldern, in den möglicherweise der Geist des Old Jack umgeht oder die Kontakte und Bekanntschaften, die Pearlys Vater auf seiner Suche nach seiner Tochter und Bruno schließt. Überall hier kommt Tammy Armstrongs Talent für Atmosphäre und eindrückliche Beschreibungen zum Tragen (formidabel aus dem kanadischen Englisch von Peter Torberg ins Deutsche übersetzt).

Fazit

Nach Clara Arnauds Im Tal der Bärin ist Pearly Everlasting schon der zweite Roman in diesem Literaturjahr, der sich literarisch dem Spannungsverhältnis von Bär und Mensch verschreibt. Und ebenso gerne wie das Buch der Französin möchte ich auch Tammy Armstrongs Roman empfehlen, der mit seiner Mischung aus Nature Writing, Entwicklungsroman und Abenteuerroman á la Jack London eine gelungene literarische Mischung darstellt.


  • Tammy Armstrong – Pearly Everlasting
  • Aus dem kanadischen Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-07339-3 (Diogenes)
  • 368 Seiten: Preis: 25,00 €
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Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien

Thomas Mann-Festwochen allerorten. Gefühlt im Wochentakt bringen die Verlage derzeit Publikationen auf den Markt, um den Jubilar, der in diesem Jahr seinen 150. Ehrentag hätte feiern können, zu würdigen. Kerstin Holzers Sachbuch Thomas Mann macht Ferien fügt sich nun in diese Reihe ein und erkundet die Lebenswelt des 1918 am Tegernsee urlaubenden Großschriftstellers. Dabei macht das Buch nichts falsch, überzeugt aber dennoch auch nicht wirklich.


Per Boot über den Tegernsee, dann weiter zum Bauerndorf Abwinkl und von dort noch einmal ein ganzes Stück entfernt auf einen einsam gelegenen Bauernhof, so sah der Reiseweg aus, den Thomas Manns Familie im Jahr 1918 zurücklegte, um dort in der Natur Oberbayerns die Sommerfrische zu verbringen. Während der Große Krieg zwar vorüber war, waren die Folgen des Kriegs auch auf dem Land noch zu spüren, wo sich die Familie im Anwesen der sogenannten Defregger Villa einmietete. Man litt Mangel – und dennoch wollte man sich die Ferien nicht vermiesen lassen, wie Kerstin Holzer in ihrem Buch schreibt.

Holzer, die schon mit Büchern über die Mann-Töchter Elisabeth Mann Borghese und jüngst über Monika Mann und ihr Leben auf Capri hervortrat (Monascella), nimmt sich nun eine kleine biographische Vignette aus dem Leben der Familie vor, um anhand dieser vom Schreiben und Leben Thomas Manns und dem Leben der Münchner Intellektuellen dort am Tegernsee zu schreiben.

Am Wasser sein, da ist das Glück. Hier am Tegernsee führen die Wege am Ufer entlang, entweder nach rechts um die Buch des Ringsees bis nach Rottach-Egern oder noch weiter zum Hauptort Tegernsee, das ist immerhin eine Stunde durch hohe Schilfwälder und an sandigen Buchten vorbei – dort gibt es tatsächlich Sand wie am geliebten Meer, wenn auch weniger fein.

Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien, S. 39

Thomas Mann am Tegernsee

Kerstin Holzer - Thomas Mann macht Ferien (Cover)

Während Mann der Veröffentlichung seines kämpferischen Werks Betrachtungen eines Unpolitischen entgegenbangt, dessen Thesen sich durch die Niederlage Deutschlands im Kriegs schon wieder in Teilen revidiert haben, wandert er in langen Spaziergängen im Tegernseer Tal, an seiner Seite der Hund Bauschan, dem er mit Herr und Hund einen ganzen Text widmet, der während seines Aufenthalts dort im Sommer 1918 entsteht.

Die fünfköpfige Familie, die sich schon bald nach dem sommerlichen Aufenthalt noch einmal vergrößern wird, andere Intellektuelle, die es der Familie Mann gleichtun und ins Tegernseer Tal strömen, dazu noch Auszüge aus den Erinnerungen Manns oder Katja Manns Mutter Hedwig von Pringsheim, sie bilden die Themen dieses Romans, das sich in einigen kurzen Kapiteln der Mann’schen Familiengeschichte widmet und vom Urlauben erzählt, das damals noch Sommerfrische hieß.

Trotz der angenehmen Erzählweise und der lokalen Verbundenheit meinerseits zum Erzählobjekt und Ort blieb für mich nach der raschen Lektüre von Thomas Mann macht Ferien allerdings der Eindruck eines schönen Soufflés, welches ich gerade konsumiert hatte. Natürlich ist das Buch in lokalem bayerischen Bezug durchaus interessant und die Familie von Thomas Mann ebenso – neue Einsichten bietet das Buch mit seiner aus vielen Quellen gespeisten Erzählweise aber nicht unbedingt.

Mann als Erzählgegenstand schon gut auserzählt

Vielleicht ist für mich im allgemeinen Mann-Rausch, in dem fast im Wochentakt Biografien (von Volker Weidermann bis Hans Wißkirchen), neue Romane (von Matthias Lohre bis hin zu Krimis über (Drei ???) oder mit Thomas Mann) und feuilletonistische Betrachtungen erscheinen, auch einfach der Punkt gekommen, an dem ich für mich konstatieren muss, mit Thomas Mann als Erzählgegenstand vielleicht etwas übersättigt zu sein. Persönlich würde ich sagen, dass die Mann-Mania ihren Höhepunkt überschritten hat. Von solch subjektiven Widerständen abgesehen finde ich auch in Holzers Buch für sich genommen nicht viel, das sich mir nach der Lektüre tiefer ins literarische Gedächtnis eingeschrieben hätte.

Anders als zum Beispiel Uwe Wittstocks Literaturgeschichte über die Flucht der Intellektuellen nach Marseille 1940 oder Martin Mittelmeiers Exilgeschichte Heimweh im Paradies über Thomas Mann in Kalifornien fehlen dem Buch über das Buch hinausweisende Aspekte, obschon Kerstin Holzer mit aktuellen Kampfbegriffen wie der Kulturellen Aneignung oder der Lügenpresse in ihrem Text hantiert.

Leider aber bietet die Autorin in ihrem Buch neben der Recherche-Fleißarbeit nicht viel mehr Punkte auf, die Dirk Heißerer nicht schon zwanzig Jahre zuvor in seinem Buch Im Zaubergarten – Thomas Mann in Bayern analysiert und vorgestellt hätte. Der komplizierte Thomas Mann, die Großfamilie mit ihren so unterschiedlichen Persönlichkeiten, Leben und Werk, die Bindung zu Bayern – es ist eben doch schon recht gut erforscht und noch ausführlicher erzählt worden.

Fazit

Gewiss, Thomas Mann macht Ferien ist ein gut lesbares Buch, kurzweilig, unterhaltsam, kurzum: ein kleines Bonbon in Sachen Mann-Mania. Mir aber geht es da in etwa so wie mit dem per KI-Kunst generiertem Cover: es sieht nett aus, bei näherer Betrachtung bleibt dann aber nicht mehr viel übrig vom Kunstgenuss und dem Gehalt dieses erzählendem Sachbuch.


  • Kerstin Holzer – Thomas Mann macht Ferien
  • ISBN 978-3-462-00671-1 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Charlotte McConaghy – Die Rettung

Unter wir singen im Saatgutschutzbunker – Hurra, diese Welt geht unter! In ihrem neuen Roman erzählt Charlotte McConaghy von einem Vater und seinen drei Kindern, die auf einer Insel zwischen Antarktis und Australien ausharren, um den dort befindlichen Bunker mit Saatgut zu beaufsichtigen. Doch dann wirbelt die Ankunft einer rätselhaften Frau die etablierte Ordnung gehörig durcheinander und man muss feststellen, dass hier nicht nur die Kräfte der Natur die intakte Ordnung des Eilands bedrohen. Kann sie gelingen für McConaghys Figuren gelingen, Die Rettung?


Macquarie Island ist eine Insel, die sich auf halber Strecke zwischen Tasmanien und der Antarktis befindet. 34 Kilometer lang und gerade einmal fünf Kilometer breit ist die Insel eine Heimstatt für Pinguine, Robben und Seevögel. Doch dem war nicht immer so. Denn zur Zeit des Walfangs wurden die Populationen an Pinguinen und See-Elefanten dezimiert, der Bestand an Seebären wurde komplett ausgelöscht.

Die Eingriffe der Menschen brachten das ökologische Gleichgewicht aus dem Takt und noch heute kann man Spuren des tödlichen Treibens dort auf Macquarie Island finden, wie Charlotte McConaghy im Nachwort zu ihrem Roman Die Rettung schreibt.

Die Insel am Rande der Welt

In ihrem Buch trägt das Eiland den Namen Shearwater Island, basiert aber – von kleinen künstlerischen Freiheiten abgesehen – hauptsächlich auf dem wirklichen Vorbild. Nur ist es in ihrem Roman an den Menschen, für den Fortbestand des ökologischen Gleichgewichts zu sorgen. Denn Shearwater Island beheimatet einen Schutzbunker für Saatgut, in dem alle wichtigen Samen aufbewahrt werden, um dem Schwinden der Biodiversität entgegenzuwirken.

Der Shearwater Global Seed Vault, der Saatgutbunker auf unserer Insel, wurde dazu konstruiert, allem standzuhalten, was die Welt gegen ihn aufbietet; er soll die Menschheit überdauern, bis weit in eine Zukunft, in der unserer Nahrungsgrundlage möglicherweise neu angepflanzt werden muss. Größtenteils kleine Körnchen. Winzig schwarze Pünktchen, mehr nicht. Der Schatz, den wir hier tief unter der Erde aufbewahren, am absoluten Arsch der Welt. Die letzte Hoffnung der jeweiligen Arten – und zugleich unsere.

Charlotte McConaghy – Die Rettung, S. 19

Mit der Betreuung des Bunkers und der Insel in toto betraut sind Dominic und seine drei Kinder Orly, Raff und Fen. Vor acht Jahren ist er mit ihnen auf Shearwater Island gezogen und bewohnt dort den inseleigenen Leuchtturm. Alle haben sich eingerichtet im gemeinsamen Alltag, der durch einen besonderen Fund aus dem Takt gebracht wird.

Die Fremde aus dem Meer

Charlotte McConaghy - Die Rettung (Cover)

Die meeresverbundene Fen zieht bei einem ihrer Ausflüge ins tosende Meer ein ganz besonderes Treibgut aus dem Wasser. Es handelt sich um eine Frau, die die junge Frau schwerverletzt aus dem Wasser birgt und anschließend mit ihrer Familie pflegt. Rowan, so ihr Name, entpuppt sich als harte Nuss für Dominic, der seine liebe Not hat, die Frau zu durchschauen. Vor allem ihr eigentliches Vorhaben beunruhigt den Bunkerbewacher. Denn sie ist auf der Suche nach ihrem Mann, der ein Kollege von Dominic war, dann aber spurlos auf – oder von Shearwater Island verschwand.

Was ist Realität, wem ist zu trauen, wer hütet welches Geheimnis auf der Insel? Die Rettung lebt von der untergründigen Spannung und den vielen Perspektivwechseln, die Charlotte McConaghy in ihren Text einwebt. Das wahre Anliegen Rowans, das Verschwinden ihres Mannes und die möglichen Geheimnisse von Dominic und seinen Kindern, all diese Themen prallen aufeinander, während das Meer gegen die Insel anbrandet und der Verfall der Insel nach einem Stromausfall immer rasanter voranzuschreiten scheint.

Sezierte Lawrence Osborne in seinem Roman Welch schöne Tiere wir sind das Auseinanderdriften einer etablierten Beziehung nach dem Auffinden eines aus dem Meer angespülten Menschen auf der griechischen Insel Hydra, so führt McConaghy dieses Thema fort, indem sie um diese Dynamiken nach der Ankunft eines Gastes auch noch die Unklarheit über den Zustand der Welt fernab von Shearwater Island in den Text webt. Ist die Rettung von außerhalb überhaupt möglich, oder existiert die Welt außerhalb der Insel gar nicht mehr wirklich? Aus der diffusen Lage und der unsicheren Weltlage zieht dieser Roman zusätzliche Spannung.

Fazit

So ist auch Die Rettung wie schon ihre Romane Zugvögel und Wo die Wölfe sind ein Text, der sich neben zwischenmenschlichen Problemen auch mit der Fragilität unserer Daseins und dem ebenso fragilen ökologischen Gleichgewicht auseinandersetzt.

Die auf der Insel gehüteten Geheimnisse sorgen für Spannung, der Blick mit den verschiedenen Figuren aufs Geschehen für Abwechslung. So sollte auch diesem Roman wieder viel Erfolg beschieden sein, sensibilisiert Die Rettung neben aller Unterhaltung auch für Fragen des Schutzes unseres Planeten, die sonst viel zu oft ins Hintertreffen geraten.


  • Charlotte McConaghy – Die Rettung
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-10-397683-0 (S. Fischer)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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