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Percival Everett – James

In Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn blieb für ihn nicht viel Platz im Rampenlicht – dafür holt ihn der US-amerikanische Schriftsteller Percival Everett nun umso eindrücklicher nach vorne auf die ganz große literarische Bühne: die Rede ist vom Sklaven Jim, der in Everetts Roman James seine Lebensgeschichte erzählen darf und so literarische Würde und Würdigung erhält.


Es ist eine Szene, die Leserinnen und Leser aus Mark Twains Die Abenteuer des Huckleberry Finn gut kennen. Zu beginnen verstecken sich Tom Sawyer und Huckleberry Finn wie weiland Max und Moritz giggelnd vor dem Sklaven Jim, dem sie einen Streich spielen wollen. Der tumbe Mann bekommt zwar mit, dass sich da irgendetwas draußen in den Büschen vor der Veranda versteckt, aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, schläft er ein und erwacht wenig später desorientiert und ist ein billiges Opfer des juvenilen Unsinns von Tom und Huck. So zumindest, wenn man Twains Variante der Ereignisse Glauben schenken darf.

Ganz anders ist es, wenn man nun James von Percival Everett liest. Auch er steigt mit der Szene ein, lässt sie aber durch die Augen von Jim selbst erleben, wie auch das gesamte Buch einen literarischen Gegenschuss zu Twains Klassiker darstellt.

Ein literarischer Gegenschuss zu Mark Twain

Hier ist es nun ein intelligenter und alerter Mann, der durchaus die Urheber des Streichs auszumachen vermag und der sich über seine zugedachte Rolle in dem ganzen Mummenschanz nur allzu bewusst ist – der diese Rolle aber spielt, weil er sie spielen muss.

Percival Everett - James (Cover)

Denn eigenes Denken und eigenmächtiges Tun sind Dinge, die einem Sklaven wie Jim in den Südstaaten der USA alles andere als gut zu Gesicht stehen. Er ist stets Verfügungsmasse seiner weißen Besitzer – wird im Lauf des Buchs aber zu seinem eigenen Herr und verwandelt sich vom unterwürfigen Diener zum Herren seiner selbst, der in einem letzten Akt der Selbstermächtigung schließlich auch seinen verstümmelten Sklavennamen ablegt und zu James wird sich damit als Individuum aus seiner Fremdbestimmung löst.

Auslöser dieses Prozesses ist der Umstand, dass Jim verkauft werden soll. Seine Besitzerin Miss Watson möchte ihren Sklaven veräußern, wovon er Kenntnis erlangt und in den Norden zu fliehen beschließt, um später seine Familie zu sich holen zu können.

„Was heißt das, Miss Watson will dich den Fluss runter verkaufen?“

„Ich bin’n Sklave, Huck. Sie kann mich verkaufm, wenn sie will. Un scheints will sie. Un eh sie das macht, musstich weglaufm.“

„Aber du hast ne Familie.“

„Heißt gar nix, wenn du n Sklave bist“

Percival Everett – James, S. 42

Auf der Flucht durch den Süden der USA

Beistand auf seiner Flucht erhält er von Huckleberry Finn, der sich dem flüchtigen Sklaven anschließt. Mal zusammen, mal getrennt erleben die beiden Abenteuer, wobei das Wort Abenteuer eigentlich zu positiv konnotiert ist für das, was den beiden widerfährt. So wird Jim verkauft, findet sich in der Gegenwart zweier Lügner und Betrüger wieder, muss auf einem Schaufelraddampfer oder einem Sägewerk Dienst tun und wird als Höhepunkt aller Täuschungen und Scharaden als hellhäutiger Schwarzer Teil einer Minstrel-Gruppe, in der sich Weiße per Blackfacing als Schwarze ausgeben, um sich über diese lustig zu machen.

Ähnlich wie auch Colson Whitehead in Underground Railroad ist auch James eine Reise durch den rassistischen Süden und dessen allgegenwärtiger Gewalt. Eine Reise, die immer wieder schaudern macht, wenn man mit James dessen Unterdrückung und Verfügung über seine Existenz miterleben muss, vor allem da dieser James alias Jim ein durchaus hellsichtiger Erzähler ist, der des Lesens und Schreibens mächtig ist, im Kopf mit Voltaire debattiert und sein eigenes Martyrium schließlich zu Papier bringt, auch wenn der Preis dafür ein unmenschlicher ist.

James ist für mich eine Lektüre, die auch den Vorgängerroman Die Bäume zumindest für mich noch einmal deutlich zugänglicher machte, wo ich zuvor mit Everetts nachtschwarzer und reichlich überdrehter Racheburleske haderte. Aber wie er hier den Rassismus, die allgegenwärtige Gewalt gegen Schwarze, die Unterdrückung und die weithin etablierte Abwertung von Leben beschreibt, daraus folgt die Gewalt und Wut, die sich in Die Bäume Bahn bricht.

Sklaverei, Rassismus und die Macht der Sprache

Zudem – und vor allem ist James aber auch ein Roman, der die Kraft der Sprache und des geschriebenen, zuvorderst aber die Macht des gesprochenen Worts eindrücklich vor Augen führt. Denn während Jim für die Weißen die Rolle des tumben Schwarzen spielt, dessen Diktion wie im obigen Zitat verwaschen und ungebildet klingt, verfügt er doch über eine Gabe, die den Weißen völlig fehlt. Wie den anderen Sklaven ist es auch ihm möglich, zwischen den Sprachen hin- und herzuwechseln, seine Besitzer im Unklaren über seine wahre Geisteskraft zu lassen – und sich blitzschnell von Beredsamkeit und Belesenheit zu stammelnder Hilflosigkeit zu verwandeln. Es ist eine Mehrsprachigkeit, deren bedachter Einsatz Leben retten, in unbedachten Momenten aber auch für große Gefahr sorgen kann.

Das führt der im Buch angewandte Kunstdialekt vor Augen, für den Übersetzer Niklaus Stingl eine eigene deutsche Sprachversion voller Verschleifungen und phonetischer Nachbildung von Wörtern gefunden hat, um so dem speziellen Südstaatenslang von Twains und damit auch Everetts Welt eine Entsprechung zu verleihen.

Könnte man auf den ersten Blick Everetts Vorhaben, einem der wichtigsten Klassiker der amerikanischen Literatur und einen der zentralen Schlüsseltexte in der Geschichte dieses Landes eine literarische Antwort oder Gegenperspektive gegenüberzustellen, als vermessen abtun, zeigt James aber doch, welche neuen Räume und Sichtweisen ein solches Vorhaben durch eine gelungene Ausführung eröffnen kann.

James bleibt einerseits im historischen und literarischen Rahmen, weitet damit aber auch die Geschichte um die entscheidenden historischen und sozialen Aspekte, die in Twains Roman durch die gewählte Perspektive der beiden Jungen Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht in dem Maße offenbar werden, wie sie es hier tun.

Fazit

Percival Everett gelingt sein großes Vorhaben bravourös. James ist eine Reise in die brutale und zutiefst rassistische Geschichte der Südstaaten. Dennoch scheint auch Hoffnung hier gleich in zweierlei Form auf. Zum einen im Leben James‘, der sich der Fremdbestimmung entgegenstellt – und in der Geschichte des Landes, da der Roman auch die Anfänge des US-amerikanische Bürgerkriegs schildert und der sich anschickt, eines der dunkelsten Kapitel der US-Historie zu überwinden.

Ein literarischer Gegenschuss zu einem Klassiker, der trotz alles historischem Rahmens doch auch in die Gegenwart hineinweist und eine der großen Bruchlinien der US-Gesellschaft auf fiktional höchst spannende Weise vermisst. Große Literatur!


  • Percival Everett – James
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27948-3 (Hanser)
  • 336 Seiten. Preis: 26,00 €
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Percival Everett – Die Bäume

Was, wenn es plötzlich Rache gäbe für die vielen Lynchmorde, die speziell in den Südstaaten der USA tausendfach stattfanden? Percival Everett spielt es in seinem Roman Die Bäume durch – erreicht damit aber leider nicht die Klasse, die mich in Erschütterung so für ihn einnahm.


Money, Mississippi, sieht genauso aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.

Percival Everett – Die Bäume, S. 11

Tief in den Süden der USA führt der neue Roman von Percival Everett, der mit einem brutalen Mord beginnt. So wird der lokale Sheriff zum Haus von Junior Junior Milam gerufen, wo er dessen aufgelöste Witwe vorfindet. Beim Betreten des Tatorts findet er zwei Leichen vor. Der mit Stracheldraht erdrosselte, geschlagen und misshandelte Leichnam Junior Juniors inklusive einem ausgestochenen Auge und abgeschnittenen Hoden – und daneben die Leiche eines Schwarzen im Anzug, der ebenfalls viele Spuren grober Gewaltanwendung trägt.

Percival Everett - Die Bäume (Cover)

Doch als die Leichen der beiden Toten ins lokale Leichenhaus verbracht werden sollen, kommt es zu einer ersten Unregelmäßigkeit. Denn obschon in beiden Leichen nicht weniger Leben sein könnte, als es ganz offensichtlich der Fall ist, verschwindet die Leiche des jungen Schwarzen nach ein paar Stunden spurlos aus dem eigentlich zur Aufbewahrung vorgesehenen Kühlfach. Ein Rätsel, weisen doch keine Spuren auf einen Einbruch oder ein mutwilliges Entfernen des anonymen Mannes aus dem Leichenhaus hin.

Zusehends kompliziert wird die Lage, als es wenig später dort in Money zu einem zweiten Mord kommt, wieder mit dem gleichen Modus Operandi. Auch der zweite Tote wurde brutal misshandelt, auch er trägt Spuren einer Stacheldrahtschlinge am Hals, auch ihm fehlen die Hoden, die ihm ausgerissen wurden.

Doch neben der Synchronizität der Ereignisse verblüfft vor allem die Tatsache, dass auch neben ihm wieder ein junger Schwarzer im Anzug liegt. Ebenjener Schwarze, der wenige Stunden zuvor noch tot in die Leichenhalle eingeliefert wurde. Spätestens als dieser wieder aus einem diesmal abgeschlossenen Transportwagen bei voller Fahrt verschwindet, schwant nicht nur dem lokalen Sheriff, dass das etwas gewaltig schiefläuft. Was geht dort in Money vor sich?

Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte

Schnell wird klar, dass diese Vorkommnisse die Kompetenz der Hinterwäldlermannschaft rund um Sheriff Jetty haushoch übersteigt. Und so machen sich die beiden Ermittler Ed und Jim in den Süden auf, um im Auftrag des MBI die Morde rund um den scheinbar wieder auferstandenen toten Mörder zu lösen.

Sie stoßen auf ein Nest völlig skurriler bis gefährlicher Figuren, wie es sich die Coen-Brüder nicht besser hätten ausgedacht haben können. Schnell stellen die schwarzen Ermittler Ed und Jim fest, dass der Rassismus dort im Landstrich nicht nur ein Phänomen vergangener Tage ist. Denn die Bäume dort tragen auch heute noch Früchte, die nicht unbedingt pflanzlicher Natur sind, wie es an einer Stelle im Roman heißt, in der eine Frau einen hypnotischen Song über die Sklaverei vorträgt.

Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black bodies swinging in the Southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Percival Everett – Die Bäume, S. 266

Dass müssen auch die beiden Ermittler erkennen, spätestens als sie dort in Mississippi die Bekanntschaft mit Mama Z machen, einer hochbetagten Dame, die sich der Dokumentation von Lynchverbrechen gewidmet und alle Spuren von Lynchjustiz in einem privaten Archiv zusammengetragen hat und die das Andenken an die Taten bis heute bewahrt. Möglicherweise liegen auch hier die Gründe, warum es auch in der Folge des Buchs immer wieder zu brutalen Morden mit der gleichen Tatortanordnung kommt, wie sie sich im Lauf des Buchs immer häufiger und schneller ereignen.

„Würde einer von Ihnen mir sagen, was Sie gesehen haben?“, fragte sie.

„Fakt ist, dass wir gar nicht so viel gesehen haben. Aber wenn man den Leuten hier glaubt, dann läuft in dieser Gegend ein übel zugerichteter und wahrscheinlich toter Schwarzer frei herum, der weiße Jungs mit zweifelhafter Vorgeschichte umbringt.“

„Oh.“

„Sehen Sie, was passiert, wenn man Fragen stellt?“, sagte Jim

Percival Everett – Die Bäume, S. 122

Eine Mischung, die nicht aufgeht

Dabei lässt mich die Geschichte von Percival Everett zugegebenermaßen etwas ratlos zurück. Denn was zunächst wie ein handelsüblicher Krimi im rassistischen Hinterland Mississippis beginnt, wandelt sich bald zu einer etwas unentschlossenen Melange aus Ermittlerkrimi, skurriler Figurenparade, Rachefantasie und Rassismus-Beschau voller rasssistischer Sprache, auch auf Seiten der Ermittlungsbehörden.

Ku-Klux-Klan-Zusammenkünfte, brennende Kreuze, Weiße, die den Namen Wesley Snipes tragen, Erinnerungen an den Lynchmord an Emmett Till, mittendrin das aktivistische Gedenken an die tausenden Opfer der Lynchmorde (die mit einer seitenweisen Aufzählung prominent auf die Bühne geholt werden, dann wieder das schwarze MBI-Duo Ed und Jim mit ihrer Anlage zur Buddy-Cop-Comedy, die sich ausweitenden Morde an Weißen nach immergleichen Muster, die bald schon in andere Landesteile überschwappt und andere Ermittler*innen und Forschende inkludiert – und dann auch noch eine etwas müde Donald-Trump-Parodie, der nach der Ermordung eines seiner Minister seinen Rassismus prominent auf großer Bühne ausleben darf.

Wo wollte Percival Everett mit Die Bäume hin? Ich kann es nach der Lektüre nicht wirklich sagen und stehe untentschieden und etwas ratlos vor dem (durch die hohe Kapiteltaktung sehr schnell und gut lesbaren) Roman.

Zwischen Splatter und Rassismusrevanche

Gerade das, was mich an Erschütterung so für seine Prosa eingenommen hat, nämlich das nuancierte Bild eines Professors im freien Fall, das mir sehr naheging, all das vermisse ich an dieser für meine Begriffe recht plumpen Splatterfantasie und Rassismusrevanche im großen Stil. Wo sein Held Zach Wells im vorhergehenden Buch im Gespräch mit Studenten differenziert seine eigenen Erfahrungen mit Rassismus ergründete und sich selbst hinterfragt, da bleibt für solche Feinheiten in Die Bäume kein Platz.

Hier haut Everett mit großer Wucht auf die Zwölf, mordet, meuchelt und hetzt sein dauerfluchendes Personal durch den völlig unkonturierten, dafür umso brutaleren Plot inklusive Horroranleihen. Warum kommt es zu den Morden, was hat sie ausgelöst, was will die Mordserie mit ihrer Brutalität außer Revanche für das vor Generationen erlittene Leid sagen? Was hat es mit einem verschwundenen Transporter mit Leichen auf sich, der zwar eine Rolle spielt, dann aber auch wieder schnell ad acta gelegt wird? Wer steckt wirklich hinter den Morden?

Percival Everett deutet hier verschiedene Möglichkeiten an, entzieht sich dann aber einer wirklichen Deutung oder Ausgestaltung der möglichen Ideen, da das Buch auch nach der inkrementalen Gewalt plötzlich abreißt und mich nach dem schnellen und sehr wilden Ritt einfach stehen lässt.

Fazit

Ich konnte für mich keine wirklich stringente und schlüssige Ausdeutung des Ganzen ausmachen und bleibe – wie schon erwähnt – ratlos ob dieser Tarantino/Faulkner/Stephen King-Mischung irgendwo zwischen Horror, Rassismuskritik, Satire und brutaler Schlachtplatte zurück, der ein bisschen mehr von der gestalterischen Genauigkeit gutgetan hätte, die Percival Everett in Erschütterung bewies.

Auch angesichts der Nominierung für den Booker-Prize für mich eine sehnlich erwartete Lektüre, die dann doch eher Ernüchterung denn Begeisterung zurückließ.


  • Percival Everett – Die Bäume
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27625-3 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn

Die Wut, die bleibt. In Simone Atangana Bekonos Debüt gibt diese Einblick in die Seele einer jugendlichen Heldin, die ihre Verletzlichkeit in Gewalt kehrt – und die die Folgen ihres Tuns in eine Jugendstrafanstalt in den Niederlanden bringen. Doch kann ein Aufenthalt dort Salomés Zorn wirklich mindern – und woher kommt eigentlich diese Wut?


„Mein Name ist Salomé“, sage ich. „Salomé Henriette Constance Atabong. Das bin ich“

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 243

Wo sich andere Figuren dem Leser oder der Leserin am Anfang einer Geschichte vorstellen, da beschließt Salomé, die von Simone Atangana Bekono erdachte Heldin, ihren Bericht mit diesen Worten.

Kennenlernen konnte man die junge Frau auf 242 Seiten zuvor ausführlich – denn im Kern ist das Debüt der niederländischen Autorin die Erkundung der Seelenlandschaft einer jungen Frau, die sich manchmal selbst fragt, ob es von ihr vielleicht zwei verschiedene Varianten gibt.

Die Wut, die bleibt

Dabei ist es die weniger zugewandte und freundliche als vielmehr höchst zornige und aggressive Version Salomés, die sie in die Situation gebracht hat, die als erzählende Rahmenhandlung dieses Buchs dient. Denn Salomé sitzt im Donut ein, dessen Name etwas in die Irre führt, ist ein Donut doch eigentlich eher mit kalorienreichem Genuss assoziiert. In realiter möchte man auf den Genuss dieses Donuts aber eher verzichten, denn es handelt sich um den Spitznamen einer Einrichtung des geschlossenen Jugendvollzugs.

Simone Atangana Bekono - Salomés Zorn (Cover)

Da sich die nach Geschlechtern getrennten und einzeln abgeteilten Einheiten der Strafanstalt rund um den Innenhof gruppieren, sprechen die Insassinnen dort etwas ironisch von einem Donut. Einzelzellen, streng getakteter Tagesablauf, Gespräche mit Therapeuten. So sieht der Alltag dort aus, wo sich Salomé ihren Taten stellen muss, die in den Donut gebracht haben.

Es sind gravierende Vorwürfe, die sich aus den Gespräch mit ihren Mitinsassinnen und Therapeuten sowie aus den Rückblenden herausschälen. Denn Salomé hat zwei Mitschüler schwer verprügelt. So schwer, dass einer von beiden für den Rest seines Lebens ein Glasauge tragen muss. Doch warum konnte es soweit kommen, dass eine eigentlich unscheinbare Frau zwei Gleichaltrige so misshandelt?

Das erzählt Salomés Zorn, in dem Simone Atangana Bekono Schicht für Schicht des Charakters und vor allem der Erfahrungen freilegt, die Salomé geprägt haben.

So wächst sie am Rande eines kleinen niederländischen Dorfs als Tochter eines Migranten der ersten Generation aus Kamerun auf. Eine buchbegeisterte Mutter, eine ältere Schwester und ein kleines Eigenheim, in dem die Familie wohnt. Das kennzeichnet die Familie Atabong, deren Oberhaupt eine eigene Antwort auf Rassismus und Ausgrenzung gefunden hat.

Mit der Faust in die Welt schlagen

Es ist wichtig, dass du dich nicht zum Opfer machen lässt“, sagte Papa, während er zeigte, wie man zuschlagen muss.

„Du machst zusammen mit deinem Schlag einen Ausfallschritt. Als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst.“

Mittendurch schlagen. Stark sein. Schnelligkeit. Hart arbeiten. Sich nicht beklagen.

Sich nicht zum Opfer machen lassen.

Und wenn es doch passiert: schneller sein, als erwartet.

Das ist das Ziel

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 62

Der Grund für dieses doch recht handfeste Coaching sind die permanenten Übergriffe und Mobbingattacken, denen sich Salomé auf ihrer Schule, dem Sint-Odulfus-Categoraal-Gymnasium ausgesetzt sieht.

Als eine der wenigen Mitschüler*innen mit sichtbarem Migrationshintergrund ist Salomé Zielscheibe von Spott und dauernden Attacken der anderen Jugendlichen. Spätestens als eine Flüchtlingsunterkunft neben der Schule gebaut wird, bricht sich der Rassismus und die Verachtung ihrer Mitschüler*innen für Nicht-Weiße Bahn. Und so setzt Salomé auf das Mittel, das sie von ihrem Vater erlernt hat. Mit Konsequenzen, die sie schlussendlich in den Donut bringen.

Die zwei Salomés

Dabei gibt es auch eine andere Salomé. Eine, in der nicht beständig die Wut brodelt. Eine, die mit ihrer Mutter über Romane kommuniziert, die in der Welt der Literatur Geborgenheit findet, die sich für die antiken Mythen interessierte, allen voran die Legende der Medusa, und die vor allem in der Heimat ihres Vaters in Kamerun aufblüht.

Denn die familiären Wurzeln in Kamerun sind stets präsent, vor allem in Person ihrer Tante Céleste, deren Familie die Atabongs in einer der eindrücklichsten Szenen dieses Romans einst dort in ihrem Haus in Douala besuchten. Mittlerweile hat sich Céleste von ihrem Mann in Kamerun trennt und lebt mit einem neuen Partner in Spanien. Doch auch dort ist ihr Einfluss und ihre Denkweise auf Salomé präsent.

Wie Salomé zwischen den verschiedenen Einflüssen ihrer Familie und Temperamenten, den zwei Versionen ihrer selbst, den Erlebnissen dort im Donut und auch den widerstreitenden Eindrücken ihres Therapeuten Frits van Gestel, den sie aus dem Fernsehen kennt, wo er mit seiner Liebe zu Afrika bei Salomé keineswegs punkten konnte, all das vermengt Simone Atangana Bekono zum vielschichtigen Psychogramm einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg erst noch finden muss und die ihre Wut manchmal auf Abwege führt, wenngleich die Hintergründe dieser Wut anschaulich begründet werden.

Dabei würde Salomés Zorn vielleicht noch ein etwas präsenterer Spannungsbogen abseits des sich langsam zusammensetzenden Bildes von Salomés Werden und Sein guttun, für ein Debüt allerdings ist das, was die 1991 geborene Simone Atangana Bekono hier vorlegt, in seiner psychologischen Tiefe und Ausdeutung wirklich schon sehr beeindruckend.

Fazit

Salomés Zorn ist eine umfassende Beschreibung der Seelenlandschaft einer wütenden jungen Frau, die von Rassismuserfahrung, von Gewalt, aber auch vom schwierigen Finden der eigenen Identität erzählt. Ausgehend von der Rahmenhandlung im Jugendstrafvollzug beschreibt Simone Atangana Bekono die von Ausgrenzung, von Bildungshunger und vom schwierigen Finden des eigenen Platzes in der Welt als Kind der ersten Migrantengeneration geprägte Welt.

Das erinnert mitunter an die Prosa Giulia Caminitos, aber vor allem an das Debüt Ellbogen der Autorin Fatma Aydemir. Denn wie Aydemir erzählt auch die junge Niederländerin vom schweren migrantische Erbe, das eine*n nicht nur durch das Äußere kennzeichnet, die Erfahrung von Rassismus und der Wunsch nach Abgrenzung und Frieden, der dann doch schnell in Gewalt kippen kann. Und so verbinden sich auch schnell Politik und Privates, Zorn und Sehnsucht nach Geborgenheit, die Enge des Donuts und die Sehnsucht nach der Weite der Welt da draußen. Das macht Salomés Zorn lesenswert und vielleicht auch zu einer potentiellen Lektüre für höhere Schulklassen macht.


  • Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-406-80000-9 (C. H. Beck)
  • 246 Seiten. Preis: 24,00 €
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Eberhard Seidel – Döner

Ist ein Deutschland ohne den Döner denkbar? Wer Eberhard Seidels türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners liest, könnte da so seine Zweifel bekommen. Denn Migration, ökonomische Teilhabe, Rassismus, die Gewalt der Wendejahre, all diese Themen lassen sich fast mustergültig an der Geschichte des Döners in Deutschland ablesen, wie Seidel beweist. Und endlich wird auch die Frage geklärt, ob es jetzt Döner Kebap, Dönerkebab, Döner-Kebap oder Döner kebab heißt.


Mit Soße oder ohne, das Fleisch mit der Maschine geschnitten oder per Hand, die Zusammensetzung des Fleischspießes mit Lamm, Kalb oder Schwein – oder doch eine pflanzliche Alternative im Brötchen? Überhaupt das Brötchen – soll es ein Fladenbrot sein oder eine andere Art von Gebäck?

Die Frage nach dem „richtigen“ Döner ist eine Philosophie, über die es sich genauso vortrefflich streiten lässt wie die Frage, woher der Döner überhaupt stammt und wer ihn erfunden hat. War es ein türkischer Meister aus Bursa? Oder ist nicht eigentlich der griechische Bruder des Döners, das Gyros, das lange vor dem eigentlichen Döner populär wurde? Und warum hat sich der Döner ausgerechnet in Deutschland zum Massenphänomen entwickelt?

All diesen Fragen geht Eberhard Seidel in seinem Sachbuch nach und entwirft dabei eine wirkliche Kulturgeschichte des Döners, wie es der Untertitel des Buchs verspricht. Dabei zeichnet er ein Bild von den Ursprüngen des Gerichts über die Entwicklung des Döners als populäre Speise durch türkischstämmige Einwander*innen bis hin zu dem Produkt, das heute in den schier unfasslichen Stückzahlen von einer Milliarde Dönerprodukte pro Jahr in Deutschland verzehrt wird (wenngleich man hier Schawarma, Köfte und Co. neben den reinen Dönern hinzuzählen muss)

Die Entwicklung des Döners

Eberhard Seidel - Döner (Cover)

Seidel präsentiert Rezepte aus den Anfangstagen des Döners und blickt auf die Entwicklung dieses Gerichts, das in der Fremde dank seines unvergleichlichen Preis-Leistungsverhältnisses zum Erfolgsprodukt wurde. Er beschreibt die Kunst der Schichtung der Dönerkegel, geht aber auch auf die Probleme ein, die durch einen unregulierten Markt von Berlin ausgehend entstanden, ehe die Berliner Verkehrsauffassung dem kulinarischen Wildwuchs und geschmacklichen Schindluder einen Riegel vorschob. Denn die Geschichte des Döners ist auch eine Entwicklungsgeschichte, die die zunächst kaum Regeln kannte und deren kulinarische Revolution durch Innovationen und erst spät durch einheitliche Standards zu dem Massenphänomen wurde, das heute aus weder Fußgängerzonen, noch aus Industriegebieten oder Bahnhofsvierteln wegzudenken ist.

Dabei zeigt Seidel, wie erstaunlich es war, dass innerhalb kurzer Zeit die Gemeinschaft der Dönerproduzent*innen zu einheitlichen Spielregeln wie der Berliner Verkehrsauffassung kam, gleichzeitig aber bislang jeder Versuch einer Dönerfranchise á la MacDonalds oder Nordsee gescheitert ist. Und Seidel zeigt, welchen Muts und welcher Kreativität es bedurfte, um den Döner in Deutschland zu etablieren.

Denn zuvorderst ist Döner in meinen Augen auch eines, nämlich eine Geschichte der Migration und des Rassismus, wie Eberhard Seidel deutlich zeigt.

Eine Geschichte der Migration

Er beschreibt, wie die Entwicklung mit der schwierigen Akzeptanz der türkischen Mitbürger*innen einherging, die man eigentlich nur als „Gastarbeiter“ akzeptieren wollte, ehe diese durch harte Arbeit und Selbstausbeutung in der deutschen Gesellschaft Fuß fassten und somit die Kulinarik der Deutschen langsam aber entscheidend prägten.

Vor allem auf die gewaltsame Ausgrenzung, Bedrohung und Ermordung von türkischen Bürger*innen in Ostdeutschland während der Wendezeit geht Seidel dabei ein. Er erzählt von antitürkischer Stimmung, die in den 70er und 80er Jahren durch Medien, NPD und anderen Parteien als sogenanntes „Türkenproblem“ geschürt wurde, und das sich vor allem in der Wendezeit im Osten fortsetzte.

Erschreckend die Geschichte des türkischen Unternehmers, Izzet Aydogdu, der zusammen mit seiner deutschen Partnerin Ursula Bielack für den Döner den Osten kulinarisch erschließen wollte und dafür die „Dönerix“-Kette ins Leben rief. Die Gewalt der Neonazis gegen Aydogdus Lebenswerk, die in Gewaltexzessen während dieser Baseballschläger-Jahre mündete, schockiert.

Diese Geschichte verstört dadurch so sehr, da diese Gewalterfahrung und Ausgrenzung des Hoyerswerdaer Unternehmerpaares eben kein Einzelschicksal ist, wie Seidel zeigt. In seiner Kulturgeschichte des Döners macht er auf das Kontinuum der Gewalt und des Rassismus aufmerksam, dem sich die türkische Community seit ihren Anfangstagen in Deutschland ausgesetzt sieht. Er schlägt einen einen weiten Bogen der mit dem Döner assoziierten Gewalt – und landet damit schlussendlich wieder in unserer Gegenwart.

Das Kontinuum der Gewalt

Unvollständig nur die seitenlange Liste, die Übergriffe und Anschläge gegen nicht-deutsche Restaurantbetriebe dokumentiert, bei der Seidel für die Aufzählung alleine der Jahre von 2000 bis 2004 ganze elf Seiten benötigt.

Trauriger Höhepunkt – und sicherlich nicht Schlusspunkt in dieser Darstellung der kontinuierlichen Gewalt gegen Migranten ist dabei die Mordserie an türkischstämmigen Kleinunternehmern, die von den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit schnell und respektlos als „Döner-Morde“ tituliert wurden und bei der jahrelang der Mörder innerhalb der türkischen Community gesucht wurde, ehe sich der wahre Charakter der rechtsextremen Mordserie offenbarte.

Auch der Gammelfleisch-Skandal, der einige Jahre vor dem Terror des NSU die Republik in Atem hielt, waren dabei ganz ähnliche Mechaniken in der öffentlichen Debatte zu beobachten, wie Seidel in Döner zeigt.

Denn jener Skandal, der eigentlich einer der deutschen Fleischproduzenten war, wurde durch die einschlägigen Bekannten wie etwa die Bild-Zeitung schnell zum „Döner-Skandal“ umetikettiert und damit der türkischen Community beziehungsweise einer ominösen „Döner-Mafia“ in die Schuhe geschoben, obwohl er dieser Skandal doch eigentlich auf den kriminellen Machenschaften skrupelloser deutscher Geschäftsmänner beruhte, bei denen die Türk*innen auch Opfer der kriminellen Machenschaften waren.

Aber lieber schob man den Skandal den vermeintlich immer noch Fremden zu, statt sich mit den wahren Ursachen des Skandals zu befassen, wie dies schon unzählige Male der Fall war – und immer wieder sein wird. Denn die deutsche Bevölkerung tut sich noch immer schwer mit der Akzeptanz jener, die zwar für preiswerte Nahrung sorgen, denen man aber trotzdem noch immer bisweilen mit Klischees, Verachtung und Rassismus gegenübertritt.

Fazit

Dieses schizophrene Verhältnis arbeitet Eberhard Seidel in Döner eindrucksvoll heraus und schafft damit eben weitaus mehr, als nur eine Geschichte des Döners zu erzählen, wie er es bereits im Vorgängerbuch Aufgespießt – Wie der Döner über die Deutschen kam, tat. Vielmehr vereint das Buch Kulinarik-Historie und Gesellschaftsanalyse, Migrationsgeschichte und Genuss.

Es ist dabei gerade auch die gesellschaftliche Komponente, die das Buch so lesenswert und eindringlich macht. Sie ist es, die mich auch für Vegetarier*innen und Veganer*innen eine unbedingte Leseempfehlung für Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte aussprechen lässt.

Und um hier abschließend die Eingangsfrage aufzulösen, sei auf die dudengerechte Lösung der Benennungsfrage in Sachen Drehspieß hingewiesen. Diese lautet korrekt geschrieben Döner Kebap, wie Eberhard Seidel im ersten Kapitel des Buchs erklärt. Damit wäre das nun auch geklärt.


  • Eberhard Seidel – Döner: eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
  • Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
  • Bestellnummer: 174030 Preis: 22,00 €

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Richard Wright – Der Mann im Untergrund

Erstaunt blickt man während der Lektüre auf das ursprüngliche Erscheinungsjahr von Richard Wrights Roman Der Mann im Untergrund. Dieses Buch soll von 1941 sein? Dabei liest sich das ursprünglich als Kurzgeschichte erschienene Werk des 1908 geborenen Schriftstellers wie ein Kommentar auf Polizeigewalt und Rassismus aus der Jetztzeit. Ein beeindruckendes und fiebriges Werk, das hier in seiner ursprünglich vorgesehenen Form erstmals zugängig gemacht wird.


Dabei begnügt sich der Herausgeber Malcolm Wright nicht mit der schieren Reproduktion des ursprünglich geplanten Textes, der zunächst abgelehnt und später als Erzählung in der Anthologie Cross Section: An Anthology of New American Writing erschien. Es ist vielmehr ein ganzes Bündel von Texten, den der Herausgeber um Wrights Erzählung spinnt.

So gibt es neben einer Einleitung und einem Nachwort auch einen Text, der sich mit der Genese des Werks und der Versionsgeschichte von Der Mann im Untergrund beschäftigt. Darüber hinaus ist dem Buch ein Text von Richard Wright selbst beigefügt, der den Titel Erinnerungen an meine Großmutter trägt. Darin erinnert sich Wright der Glaubenswelt seiner Großmutter, die er in Verbindung zu Schwarzem Denken, Blues und der Jazzhaftigkeit seiner eigenen Prosa setzt.

Und auch wenn ich mich persönlich damit immer schwer tue, wenn uns ein Autor sein Werk selbst erklärt, Ausdeutungen vornimmt und damit die eigene Lesart und Interpretation verengt, so hat Wrights Text doch auch noch einmal eine ganz eigene Qualität, da er Quellen und Einflüsse seines Schreibens nennt und sein Buch in die Tradition des Jazzs stellt.

Und auch Malcolm Wrights Nachwort führt weitere Deutungsebenen von Der Mann im Untergrund, indem er Verweise auf Platons Höhlengleichnis und die christliche Mystik im Text herausarbeitet. Wer solche Interpretationen lieber Lektüreschlüsseln überlässt und auf die eigene Assoziationswelt beim Lesen setzt, der kann die Nachworte natürlich weglassen – aber man bringt sich im Fall dieses Buchs wirklich um bedenkenswerte Ansätze, die auch Einblicke in die Kulturwelt ihrer Verfasser erlauben.

Ein zeitloses Buch

Richard Wright - Der Mann im Untergrund (Cover)

Warum aber ist nun Der Mann im Untergrund so modern und geradezu zeitlos, wie ich in der Einleitung dieser Besprechung schrieb? Das liegt am Thema, das leider auch achtzig Jahre nach dem Erscheinen unvermindert aktuell (oder vielleicht sogar noch aktueller geworden) ist. Es geht nämlich um den Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft, der sich schon auf den ersten Seiten des Buchs Bahn bricht.

Der Erzähler (Fred Daniels, wie uns Wright später indirekt wissen lässt) befindet sich auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, als er von einem Polizistentrio festgenommen wird. Sie verhaften ihn, bringen ihn auf das Polizeipräsidium und misshandeln ihn. Er soll ein Geständnis für einen Mord unterschreiben – was Daniels nach schier endlosen Qualen und Unverständnis über seine Lage dann tut. Ihm wird noch ein letzter Besuch bei seiner hochschwangeren Frau zugestanden, die kurz vor der Entbindung steht. Im Krankenhaus flüchtet Daniels anschließend mehr oder minder stümperhaft und entdeckt durch einen Gullydeckel eine Welt tief verborgen unter der unseren.

In der Tiefe der Kanäle

Und so steigt der moderne Hades hinab in die Unterwelt, um dort die dunkle Welt der Kanäle und Kavernen zu erkunden. Drei Tage wird er der Welt abhanden kommen, die Kanäle durchmessen, in Häuser einbrechen und durch das Dunkle irren. Doch nicht nur in der Tiefe der Stadt droht er sich zu verlieren, auch sein Verhalten und sein Geist irrlichtern teilweise beträchtlich, während er die unterirdische Architektur seiner eigentlich vertrauten Heimatstadt neu kennenlernt.

Dabei eröffnen sich ihm ungewohnte Perspektiven auf die „normale“ Welt, die Ähnlich wie etwa in Lukas BärfußHagard erleben wir auch hier einen Mann, der binnen Kurzem aus der gewohnten Lebensumgebung herausfällt und fortan als Außenseiter neben der übrigen Gesellschaft herlebt. Das eröffnet Richard Wright viel Raum zur Schilderung von gesellschaftlichen Prozessen und der Ausgrenzung von Schwarzen in der Gesellschaft. Zur bitteren Lektüreerfahrung gehört neben der Erzählung Wrights selbst die bittere Erkenntnis, das sich trotz der Benennung von Rassismen und der Schilderung der Polizeigewalt nichts zum Besseren gewandt hat.

Fazit

George Floyd, Black Lives Matter, die jüngste rassistische Schißerei in Buffalo und Co belegen leider die Zeitlosigkeit von Wrights Roman, der hier nun erstmals wieder in der ursprünglich geplanten Version inklusive Komponenten wie der explizit genannten Polizeigewalt les- und erlebbar gemacht wird. Es ist eine begrüßenswerte Entscheidung, der hoffentlich viele Leser*innen vergönnt sind. Denn dieses Roman hat eine unglaubliche Wucht, einen wild puckernden Rhythmus und eine Zeitlosigkeit, die ob des Entstehungsdatums von 1941 staunen lässt. Hätten Ann Petry, James Baldwin und Eugene Sue ein Buch zusammen ein Buch verfasst, dann wäre wohl Der Mann im Untergrund herausgekommen. Ein beeindruckendes Werk!


  • Richard Wright – Der Mann im Untergrund
  • Mit einem Nachwort von Malcolm Wright
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-0369-5873-6 (Kein & Aber)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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