Katharina Köller – Wild wuchern

Eine Alm fernab alle Heidi und Geißenpeterklischees, die zum Ort weiblicher Selbstermächtigung und der Verarbeitung von Traumata wird. Katharina Köller schickt in ihrem neuen Roman Wild wuchern eine junge Frau überstürzt dort auf den Berg hinauf, um sich auf der Alm nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihrer Cousine zu stellen.


Ebenso überhastet wie Köllers Heldin Marie in Wien in den Railjet in Richtung Bregenz springt, stürzen wir in den Text der 1984 geborenen Österreicherin Katharina Köller hinein. Was ist der Grund für die atemlose Flucht, wer ist diese Marie eigentlich? Noch bevor die zentralen Fragen geklärt werden können, stolpert die junge Erzählerin schon im Dunklen einen Berg in Tirol hinauf, wo ihre Cousine Johanna eine Hütte bewohnt.

Dort oben kommt sie langsam zur Ruhe. Allmählich klären sich die Hintergründe für ihre atemlose Flucht aus Wien – doch damit ist es noch lange nicht gut für Marie. Denn so einfach lässt es Johanna auch nicht zu, dass Marie in ihr gewohntes Leben dort oben am Berg einbricht. Besser heute als morgen würde die wortkarge Johanna Marie wieder los, was diese aber keinesfalls möchte. Und so beginnt dort oben auf der Alm ein Kammerspiel mit den beiden Frauen, in dem auch Stück für Stück Verdrängtes oder Verschwiegenes wieder ans Tageslicht drängt.

Ein Kammerspiel auf der Alm

Sie hebt ihren Becher und stößt gegen meinen, und nachdem wir beide einen großen Schluck genommen haben, stopft sie die Pfeife nach, zündet sie an und reicht sie mir. Ich inhaliere, so tief ich kann, und muss dann doch husten. Es kratzt.

„Nicht so gierig“, sagt sie und inhaliert wie ein Profi. Wie kann sie auf einmal so cool sein? Wer ist sie? Wer ist Johanna eigentlich?

Sie schenkt mir Tee nach, den ich verschütte, als ein neuer Hustenkrampf mich packt.

„Überall, wo ich hingeh, vergifte ich die Welt“, würg ich hervor. Sie putzt die Tischplatte, während ich nach Luft schnappe.

Katharina Köller – Wild wuchern, S. 160

Man merkt, dass Katharina Köller ähnlich wie zuletzt Suzie Miller mit Prima Facie ein von ihr geschriebenes Bühnenstück hier als Roman noch einmal neu adaptiert. Drei Jahre zuvor fand das Theaterstück 2022 unter dem Titel Windhöhe zur Uraufführung, ehe Köller draufhin das Buch noch einmal neu zu einem Roman arrangierte.

Auch im Buch vermittelt sich die Enge und die gespannte Stimmung zwischen den Schwestern dort oben auf der Alm ganz hervorragend, wie es auch auf der Vorgängerversion auf der Bühne funktioniert haben muss (in der die Theatermacherin nach eigenem Bekunden die Rolle der Marie spielte und schon damals den Beschluss fasste, den Stoff als Roman noch einmal neu zu arrangieren).

Gewitter auf der Alm

Katharina Köller - Wild wuchern (Cover)

Wild wuchern lebt von seiner Atmosphäre. Packend etwa der Showdown im Gewitter auf der Alm, wenn Marie nicht auf ihre Cousine hören will und trotz Warnung länger draußen auf der Wiese verharrt und so die Kräfte der Natur in der Bergwelt kennenlernt. Durchaus amüsant hingegen das Gegeneinander von Ziegenbock Hubsi und Marie, in dessen Stall sich die junge Frau kurzzeitig flüchtet, als ihre Cousine Marie wieder loshaben möchte. Flucht und Ruhe, Städterin und Almbewohnerin, Rettung am Berg und Sorgen drunten im Tal, Pechmarie und Goldmarie – Wild wuchern arbeitet mit vielen Dichotomien, die sich aber gut miteinander verbinden und mischen.

Ebendiese Mischung aus Themen, Tönen und Stimmungen, der untergründige Suspense und Köllers Gespür für die unterschiedlichen Register des Erzählens machen diesen Roman aus.

Fazit

So ist Köllers Roman ein Stück über weibliche Selbstermächtigung und Solidarität. Auch die die Ver- beziehungsweise Aufarbeitung von Traumata ist zentrales Thema in diesem Text, der sich manchmal fast überschlägt und doch in die Tiefe seiner Figur vordringt. Schnell erzählt, relevant und eindrucksvoll hat sich Katharina Köller speziell zu ihrem Erstling Was ich im Wasser sah noch einmal gesteigert, da dieser Buch in seiner ganzen Reduziertheit und Konzentration in Sachen Gestaltung das klare Gegenteil von Wild wuchern ist. Durch den klaren Fokus auf seine beiden Figuren entfaltet dieses Buch wirklich literarische Kraft!


  • Katharina Köller – Wild Wuchern
  • ISBN 978-3-328-60392-4
  • 204 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos

Die profilierte Literaturkennerin Michi Strausfeld betreibt in ihrem Sachbuch Die Kaiserin von Galapagos literarische Landeskunde in Sachen Südamerika. Sie stellt den so vielfältigen und spannenden Kontinent mit seinen vielen Facetten vor und geht dabei weit zurück in der Geschichte, um die deutsch-südamerikanischen Beziehungen zu beschreiben. Vor allem zeigt sie dabei, dass das aktuelle Desinteresse an der von dort stammenden Literatur ein großer Fehler ist und es so viel zu entdecken gäbe.


„Bitte seien Sie nachsichtig mit den Deutschen. Sie sind die letzten Entdecker Lateinamerikas“. So augenzwinkernd begrüßte Hans Magnus Enzensberger 1976 die Delegation Lateinamerikas, die im Rahmen des Gastlandauftritts der Frankfurter Buchmesse eingeladen worden war.

Knapp fünfzig Jahre später könnte man wieder auf diese Worte zurückgreifen. Denn viel ist (schon wieder) nicht mit Südamerika und dem deutschen Buchmarkt. So ist immer noch das prägende Label, das man hierzulande mit der südamerikanischen Literatur verbindet, das des Magischen Realismus, unter dem man die Werke von Autoren wie Gabriel Garcia Marquez oder Isabel Allendes zusammenfasste (obschon dieses Label in den seltensten Fällen wirklich zutraf, wie Strausfeld kritisch anmerkt).

Südamerika – mehr als Magischer Realismus

Noch heute fällt dieses Schlagwort, obschon die Generation des Magischen Realismus langsam, aber sicher ausstirbt. Mit Mario Vargas Llosa ist jüngst eine weitere markante Stimme Südamerikas für immer verstummt. Aber warum ist das Interesse an der südamerikanischen Literatur nach einem Boom dieser Erzählstimmen in den ausgehend von den 80er Jahren bis in die 90er Jahre hinein versiegt – und was verpassen wir durch dieses Desinteresse?

Um die Vielfalt und Bedeutung Südamerikas besonders für Deutschland herauszustellen, greift Michi Strausfeld weit aus. Zurückgehend bis ins 16. Jahrhundert erzählt sie vom Kaiser des Deutschen Reichs Römischer Nation, Karl V., der zugleich spanischer König war und als Reisekaiser viele Kriege führte, zu deren Finanzierung er Südamerika nutzte. Die Fugger bekamen von ihm im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung Ländereien in Chile, den Welsern wurde ein Lehen in Klein-Venedig, sprich Venezuela, zugesprochen.

So begannen Handelsbeziehungen zwischen den Kontinenten, die oftmals aber eher Ausbeutung denn Austausch auf Augenhöhe waren. Immer wieder zog es Deutsche nach Südamerika, um dort zu forschen, zu missionieren oder ihr Glück zu finden.

Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen

Michi Strausfeld - Die Kaiserin von Galapagos (Cover)

Bis hinein in die Gegenwart reichen diese Beziehungen, etwa als deutsche Impfgegner den Coronamaßnahmen hierzulande entgehen wollte und in Südamerika von deutschen Auswanderern gegründete Städte aufsuchten, um ihren neuen Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen (was bei den alteingesessenen Auswanderern nicht immer auf Gegenliebe stieß).

Eines der vielen illustren Beispiele, mit dem Strausfeld zeigt, wie seit den Tagen Karls V. Deutschland von Südamerika profitierte oder profitieren wollte.

Besonders aufsehenerregend war dabei sicherlich der Fall, der Strausfelds Buch den Titel leiht. Denn die teilweise auch im Reichsbürgermilieu verhafteten Impfgegner unserer Tage, die in Südamerika eine neue Heimat suchten, sind keineswegs ein Phänomen der Jetztzeit. Schon neunzig Jahre zuvor versuchte die österreichische Hochstaplerin Eloise Wagner de Bousquet auf der Insel Floreana im Galapagos-Archipel ein eigenes Kaiserreich auszurufen, in dem sie herrschen konnte. So sorgte die schillernde Betrügerin mit ihren Plänen für ein Luxushotel dort auf Floreana für Aufsehen, Kopfschütteln und Neugier.

Die Kaiserin von Galapagos

Aus den Fantastereien der „Baron“ als Kaiserin von Galapagos wurde ein Phänomen, das auch heutzutage noch die Fantasie vieler Menschen anregt. Denn dort auf der Insel kam es zum rätselhaften Verschwinden und möglichen Todesfällen, die bis heute im Zeitalter des True Crime-Fiebers hochgradig faszinieren.

So kam jüngst die von Ron Howard verfilmte Deutung der Ereignisse damals auf Floreana ins Kino – und mit Postlagernd Floreana legte die Büchergilde das Buch der Zeitzeugin Margaret Wittmer neu auf, die damals selbst auf der Insel unter der Herrschaft der Kaiserin von Galapagos lebte.

Solche Anekdoten um mal bekanntere und mal in Vergessenheit geratene Figuren (etwa den aus Augsburg stammenden Maler Johann Moritz Rugendas, dessen Schicksal der Chilene Carlos Franz in seinem großartigen und ebenso unbekannten Roman Das Quartett der Liebenden ausdeutet) reichern dieses in chronologisch voranschreitenden Beschau der deutsch-südamerikanischen Beziehungen an.

Neben Platz für Geist und Esprit geht Michi Strausfeld in Die Kaiserin von Galapagos aber auch den dunklen Seiten der Beziehungen nach, insbesondere dem Untertauchen von NSDAP-Funktionären und Tätern durch die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika, wo Täter wie Klaus Barbie oder Josef Mengele weiter unbehelligt leben konnten und teilweise sogar jüdische Auswanderer, die dem deutschen Terror entfliehen wollten, in deren Exil noch bedrängen konnten.

Eine kurzweilige Beschau

Die südamerikanische Begeisterung für den Faschismus, aber auch Widerstand und das Engagement für jüdisches Leben, all das findet Platz in dieser kurzweiligen Beschau einer komplizierten und dieser Tage wieder sehr brachliegenden Beziehung, in der zwar der Handel noch eine Rolle spielen mag, die Kultur aber längst schon einmal mehr aufs Abstellgleis geraten ist, sodass Enzensbergers Worte von 1976 wieder Aktualität genießen.

Dass aber auch nach den Granden der Hochzeit der südamerikanischen Literatur noch so viel zu entdecken ist, auch das zeigt Strausfeld gelungen. So macht sich ja nicht nur, aber besonders auch der Suhrkamp-Verlag stetig daran, die internationale Literatur von dort zu stärken und neben Klassikern wie Isabel Allende auch die junge südamerikanische Literatur von Samanta Schweblin über Benjamin Labatut bis hin zu Geovani Martins zu präsentieren.

Mein Wunsch: Lateinamerikaner und Deutsche mögen sich wieder mehr füreinander interessieren und mehr miteinander reden. Und Politiker den Kontinent endlich gebührend wertschätzen.

Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos, S. 238

Fazit

Dass Politik eben auch Kulturpolitik ist und eine Belebung des ehemals florierenden und aktuell so sträflich vernachlässigten Kulturaustausches wieder reiche Frucht bringen könnte, das macht Strausfelds Buch deutlich. Die Kaiserin von Galapagos ist ein wichtiger Aufschlag und ein lesenswerter wie profunder erster Schritt, um die Beziehungen wieder zu belegen – Aquí vamos!


  • Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos. Deutsche Abenteuer in Lateinamerika
  • ISBN 978-3-911327-05-3 (Berenberg)
  • 264 Seiten. Preis: 26,00 €
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Yannick Dreßen über Meravliagiosa Creatura

Fünf Jahre ist es her, dass der vom Blogger Tobias Nazemi initiierte Bloggerpreis Blogbuster das letzte Mal über die Bühne ging. 15 Blogger*innen fungierten damals als eine Vorjury, an die sich Autor*innen mit ihren bislang unpublizierten Manuskripten wenden konnten. Diese sichteten die eingegangenen Texte und schickten den aus ihrer Sicht besten Text auf die Longlist, aus der eine Fachjury, bestehend aus Verlegern, Kritikern und Literaturagenten dann einen Siegertext kürte. Dieser wiederum erhielt dann einen Platz im Programm des am jeweiligen am Preis beteiligten Verlagshäuser, wie etwa Klett-Cotta oder Eichborn.

Drei Mal ging der Preis über die Bühne – und im bislang letzten Preisjahr 2020 wurde mir die Ehre zuteil, auch Teil der Bloggerjury beim Blogbuster zu sein. Zahlreiche Einsendungen von Manuskripten fanden den Weg zu mir. Alle nahm ich in Augenschein und entschied mich schlussendlich für das Manuskript von Yannick Dreßen, das damals noch den Titel Verdichtet trug.

Darin erzählt er die Geschichte eines Autors, der sich in zwei unterschiedlichen Welten wiederfindet. Realität und Wahn fließen ineinander über, sodass man beständig in seiner Beurteilung der Lage schwankt. Liegt der Mann delirierend in einem Krankenhausbett oder ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, der in Italien urlaubt und der sich bei seiner Arbeit in die Welt des Delirierenden imaginiert? Ein reizvolles Wechselspiel nimmt seinen Ausgang, das ich gerne in der Endrunde des Preises schicken wollte.

Auch wenn das Buch damals nicht den Sieg errang, so war ich dennoch gespannt, wie es weitergehen würde mit dem Text, schließlich schafften es immer wieder Teilnehmer*innen aus dem Umfeld des Preises in ganz unterschiedliche Verlagsprogramme.

Jahre und einen Podcast später überbrachte mir Yannick auf der Frankfurter Buchmesse im vergangene Jahr die frohe Kunde, dass es auch bei ihm geklappt hatte und ein Verlag für sein Buch gefunden war. Nun ist das damalige Manuskript tatsächlich zu einem echten Buch geworden.

Grund genug, mich mit Yannick über die Geschichte und den Werdegang seines Romans Meravigliosa Creatura zu unterhalten!


Lieber Yannick, nimm uns doch einmal mit zur Entstehung deines Romans. Wie hat das mit dir und deinem Roman angefangen? Welche Überlegungen und Gedanken haben dich dazu verleitet, einen Roman zu schreiben?

Da müssen wir wirklich sehr weit zurückgehen, und zwar ins Jahr 2007. Ich habe schon in jungen Jahren viel und gerne geschrieben, aber in der Jugend rückten dann für lange Zeit erst einmal andere Interessen in den Fokus. Erst mit Anfang 20 wurde die Leidenschaft für Literatur und auch fürs Schreiben neu entfacht. Nach einigen Gedichten und Kurzgeschichten hatte ich schließlich die Idee zu diesem Roman, in dem es um zwei entgegengesetzte aber vermeintlich reale Welten gehen sollte, die ich dann auf circa 50 Seiten ausführte. In den folgenden Jahren habe ich die Geschichte immer wieder bearbeitet, weitergesponnen und umgeschrieben, auch wenn das Grundgerüst bis heute dasselbe blieb.

2012 habe ich die Geschichte mit damals rund 100 Seiten sogar zeitweise in einem Selbstverlag publiziert. Danach habe ich sie lange ruhen lassen und erst zum Blogbuster Preis 2019 wiederhervorgeholt. Uwe Kalkowski, dem ich das Manuskript damals zugeschickt hatte, schrieb mir netterweise seine Gedanken dazu, woraufhin ich intensiv daran weiter feilte. Ein Jahr später ging die Geschichte dann in gänzlich neuem Gewand zu dir in die Runde.

Ich selbst bin dann auf dein Manuskript im Rahmen des „Blogbuster“-Preises gestoßen, bei dem Autor*innen dazu aufgerufen waren, unveröffentlichte Manuskripte an teilnehmende Literaturblogger zu schicken, die sich dann für eines der Manuskripte entschieden, das sich dann der letztendlichen Auswahl einer Fachjury stellen sollte. Nun liegt der Wettbewerb ja schon wieder ein paar Jahre zurück – wie ist es dir seither ergangen und welche Wege hat das Manuskript dann genommen, ehe wir alles es nun lesen können? Und vor allem – wie fühlt es sich an, sein Buch erstmals in Händen zu halten?

Das Gefühl, dieses Buch endlich in den Händen zu halten, nach beinahe 18 Jahren, nach so vielen Fassungen und Überarbeitungen, nach so vielen Rückschlägen und Enttäuschungen … das kann ich nicht beschreiben. Das ist einfach nur unglaublich. Ich habe immer an die Geschichte geglaubt und war einfach davon überzeugt, dass auch andere es mit Freude lesen würden. Leider sahen das viele Verlage erst einmal nicht so. Nachdem du mein Manuskript auf die Longlist des Blogbuster Preises gesetzt hattest, begab ich mich intensiv auf Verlagssuche, erhielt aber eine Absage nach der anderen.

Das war natürlich enttäuschend, aber irgendwie habe ich mich nicht entmutigen lassen, habe nochmal viel Zeit in die stilistische Überarbeitung investiert und ganz nebenbei noch ein neues Ende gefunden. Als ich es dann schließlich fertig wähnte, habe ich mich nochmal auf die Suche nach Verlagen begeben und kul-ja! publishing gefunden, die sofort von der Story begeistert waren und die Geschichte unbedingt veröffentlichen wollten. Vom Verlagsvertrag bis zur Veröffentlichung vergingen aber nochmal mehr als anderthalb Jahre.

Begibt man sich in die Welt – oder besser die Welten – von Meravigliosa Creatura, stellt man schnell fest, dass Realität und Fantasie sowie deren Grenzbereiche eine große Rolle spielen. Denn die Welt des Autors Friedrich könnte fragiler sein, als es zunächst den Anschein hat. Er wird sich – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten – in einer anderen Welt wiederfinden als in der Toskana, in der er sich eigentlich mit seiner Familie befindet. Was hat dich am Spiel mit den zwei Realitätsebenen gereizt? Und wie bist du bei der Konstruktion dieser Welten vorgegangen?

Gereizt hat mich schon immer dieses Konstrukt der Realität, das wir auf unserer Wahrnehmung aufbauen und als unverrückbar erachten, das aber vielleicht nicht so stabil ist, wie wir annehmen. Denn was ist eigentlich Realität? Woraus besteht sie? Gibt es womöglich verschiedene Realitäten? Und welche Rolle spielen Erinnerungen dabei, die letztlich zu Bausteinen unseres Lebens werden? Ist ihnen zu trauen? Können Menschen dieselben Ereignisse erleben und trotzdem anders wahrnehmen? Was ist dann eigentlich wirklich wahr? Schmieden wir uns alle also wirklich nur eine Geschichte, die wir als wahr erachten, obwohl ein anderer Fokus oder Blickwinkel eine ganz andere Geschichte kreieren würden? Das sind Themen, die mich seit jeher reizen.

In Texten tritt noch eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die der Fiktion. Obwohl jeder weiß, dass man nur einen Text liest, akzeptiert man keine Unklarheiten. Der Kopf fordert auch hier eine klare Kausalität, eine Erzählstimme, die einen führt und leitet. Und das war für mich die Idee, anhand fiktionaler Welten Gegensätzliches zum Leben zu erwecken, also zwei verschiedene Realitäten zu erschaffen, die der Kopf nicht akzeptieren kann.

Durch lebendige Personen und Welten, besonders durch Perspektivwechsel habe ich versucht, beiden Welten den Anstrich von Realität zu verleihen. Da man als Leser aber auf Bestimmtheit pocht, will man wissen, welche Welt denn nun die „reale“ ist. Dieses Geheimnis zu lüften, bleibt jedoch dem Leser überlassen. Wenn man über den Schluss hinaus noch über diese Welten nachdenkt, habe ich erreicht, was ich wollte.

Nun spielt ein großer Teil deines Buchs ja auch in der Literaturbranche. Friedrich hat den Deutschen Buchpreis gewonnen und versenkt sich mit großer Wonne in Büchern und deren Sprache. Du selbst beschäftigst dich als Autor, Podcaster und Kritiker auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit der Welt der Literatur. Was macht diese in deinen Augen so faszinierend, dass du auch deinen Roman in dieser Welt spielen lässt?

Die Welt der Literatur ist eine ganz besondere. Hier sind der Freiheit beinahe keine Grenzen gesetzt. Genauso wie Friedrich finde ich es erst einmal erstaunlich, wie aus nur 26 Buchstaben tausende Wörter entstehen können und aus diesen tausenden Wörtern unzählige eigenständige Welten, obwohl das alles ja nur Striche und Punkte sind, die wir mit Bedeutung aufgeladen haben. Wenn man aber diese Zeichen zu deuten weiß, hebt man einen unermesslichen Schatz. Denn man kann in tausende andere Leben eintauchen, sieht andere Kulturen und Meinungen, entwickelt Empathie und Verständnis für das, was man vielleicht vorher nicht gesehen hat.

Wenn man liest, begibt man sich auf eine Reise, bei der man Erfahrungen und Erlebnisse abseits der eigenen kennenlernt, eine Reise, bei der man andere Lebenswege beschreiten darf, neue Blickwinkel erhascht und in Umstände schlüpft, die den eigenen Horizont erweitern. Literatur zeigt uns fremde Wirklichkeiten, unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aber auch untergegangene, phantastische und mögliche Welten und lässt uns so die Vielfältigkeit des Lebens erkunden. Durch die Literatur hinterfragen wir schließlich das Leben, das wir führen und als so selbstverständlich erachten. Durch sie hinterfragen wir letztlich uns selbst.

„Sprache war alles und alles war Sprache“ heißt es an einer Stelle in deinem Roman, der ja auch selbst durch Sprache und viele Bilder besticht. Wie bist du vorgegangen, um eine Sprache für deinen Roman zu finden und zu entwickeln?

Die richtige Sprache für den Roman zu finden, hat mich 15 Jahre gekostet. Die Geschichte war von Anfang an dieselbe, die Sprache hat sich im Laufe der Zeit jedoch stark geändert. Mit der Sprache steht und fällt alles, denn Sprache ist nunmal wirklich alles, besonders natürlich in einem Roman, der nur aus Sprache besteht. Mit Sprache erschaffe ich Leben. Mit Sprache erschaffe ich Realität, übrigens nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb, also in unserem Denken, das unsere Realität kreiert. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache die außersprachliche Wirklichkeit determiniert, also maßgeblich unsere Realität erschafft, in der wir leben.

Anhand der Sprache versetzen wir uns in diese Welt hinein, fühlen und erleben sie. Wir benennen die Dinge und begreifen sie durch Begriffe. Sprache ist also der wichtigste Bauteil beim Kreieren einer vermeintlichen Realität. Da es im Roman selbst um ebenjene Themen geht, also um einen Dichter, der sich mit dem Verhältnis von Sprache und Realität auseinandersetzt, musste auch die Sprache des Romans diesen Konflikt abbilden. Aus diesem Grund ist sie aufgeladen, doppelbödig, träumerisch, voller Bilder und Metaphern.

Meravigliosa Creatura steckt ja voller Anspielungen und Bezüge. Von Ludwig Wittgenstein bis hin zu E.T. A. Hoffmann reicht der Bogen an Zitaten und Verweisen, die sich im Roman finden lassen. Welche Werke oder Autorinnen hatten für dich persönlich den größten Einfluss auf die Geschichte?

Ich selbst empfinde die größte Freude beim Lesen, wenn ich Anspielungen, Verweise und Zitate, intertextuelle oder auch autoreferentielle Bezüge erkenne. Literatur ist ein großer Flickenteppich, alles ist miteinander verwoben und daher voller Zeichen, die mehr als das Gesagte bedeuten können, Zeichen, die auf etwas anderes deuten und verweisen, also eine Metaebene beinhalten. Ähnlich wie William von Baskerville in Umbertos Ecos Der Name der Rose muss man die Zeichen deuten und sich auf Spurensuche machen, um das Ganze zu erfassen. In der Tat habe ich mich deswegen viel mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, mehr und weniger verdeckte Zitate und Anspielungen eingebaut.

Zudem wird natürlich auf einige literarische Werke referiert. Dabei haben mich besonders Leo Perutz und seine Werke geprägt, in denen stets ein unzuverlässiger Erzählerauftritt und man nie genau weiß, was da eigentlich „wirklich“ geschieht und ob man dem Erzählten trauen kann. Den größten Einfluss auf mich hatte aber wohl von Anfang an die tragische Liebesgeschichte von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, auf die hier, natürlich in großer literarischer Freiheit, angespielt wird. Letztlich ist es ein Spiel mit dem Leser, der nichts von all den Anspielungen und Zitaten erkennen muss, um die Geschichte mit Freude lesen zu können, dem aber vielleicht ein Lächeln über die Lippen huscht, wenn er etwas erkennt.

Nun, da das Buch nun in der Welt ist, gibt es etwas, das du deinem Buch wünschst oder das du dir als Schriftsteller wünschst?

Dieses Buch allein in den Händen zu halten, ist der größte Erfolg, den ich feiern darf. Das habe ich mirmehr als 17 Jahre lang ausgemalt. Natürlich wünscht man sich als Autor, dass die Werke auch gelesen werden, dass sie Gefallen finden und Aufmerksamkeit erregen. Aber darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Ich habe dieses Kind nach 17 Jahren Schwangerschaft zur Welt gebracht, mehr kann ich nicht verlangen – außer natürlich wie Friedrich den Deutschen Buchpreis zu gewinnen und mir dann ein Strandhaus in der Toskana zu kaufen, um mich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. Das natürlich schon, aber mehr nicht 🙂

Als Schriftsteller wünsche ich mir die Zeit und Freiheit, weiterschreiben zu können. Im meist hektischen Alltag ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden und vom Schreiben leben zu können, ist ein Privileg, in dessen Genuss nur sehr wenige gelangen. Da mache ich mir keine Illusionen. Deswegen hoffe ich, dass es nicht wieder 17 Jahre zum nächsten Roman dauern wird. Aber glücklicherweise habe ich bereits vor 14 Jahren einen zweiten Roman geschrieben. Blieben also noch 3-4 Jahre übrig, bis er komplett überarbeitet und geschliffen in den Buchhandlungen steht. Das wäre doch toll!

Yannick Dreßen - Meravigliosa Creatura (Cover)

Dafür drücke ich die Daumen und bedanke mich für das Interview! Dir viel Erfolg mit deinem Buch und allem, was da noch so kommt. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen, mir das Manuskript einst zuzusenden und freue mich über alle Entdeckungen, die die Literaturwelt noch für dich bereithält!

Wer jetzt neugierig geworden ist auf Yannicks doppelbödige Geschichte – hier die Daten zum Buch:

  • Yannick Dreßen – Meraviligiosa Creatura
  • ISBN 978-3-949260-39-1 (kul-ja! Publishing)
  • 220 Seiten. Preis: 17,00 €
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Geovani Martins – Via Apia

Gibt es Hoffnung in den Favelas? Liest man Via Apia, den Romanerstling des brasilianischen Schriftstellers Geovani Martins, dann ist man geneigt, diese Frage mit Nein zu beantworten. Denn mögen sich auch die Herrschaftsverhältnisse ändern, die Polizei in den Slums in Rio einrücken – viel Veränderung oder gar Besserung bringt all das nicht. Mag zwar die Versorgung mit bewusstseinserweiternden Substanzen reibungslos funktionieren, so mangelt es aber entscheidend an Hoffnung. Starke Lektüre, die Elemente des Kriminalromans und der Gesellschaftsanalyse vereint und in der Tradition der Romane eines Richard Price steht.


Bei Via Apia handelt es sich um eines jener Bücher, bei denen man während der Lektüre nicht zu tief einatmen sollte. Denn die Gefahr von passivem Kiffen oder anderweitigem Drogenkonsum ist hier durchaus gegeben. Martins Protagonisten rauchen den Tag Cannabis oder konsumieren Kokain. Die Drogen sind überall und allezeit verfügbar. Das ist aber auch schon so ziemlich das einzige, was in den Favelas reibungslos funktioniert. Deutlich schlechter sieht es aus, wenn es um die Frage von Perspektiven und Hoffnungen für die Bewohner von Rocinha geht.

Perspektivlosigkeit in Rocinha

Geovani Martins - Via Ápia (Cover)

Diese in Rio de Janeiro gelegene Favela ist die größte ihrer Art in ganz Lateinamerika, wie es in einer Stelle im Roman heißt. Sie bildet den Hintergrund (oder vielmehr fast den Vordergrund) von Martins Geschichte, mit der er sich nach seiner Kurzgeschichtensammlung erstmals an die Langform eines Romans wagt.

Mehrere Figuren stehen im Mittelpunkt seines Romans, die sich in Rocinha immer wieder über den Weg laufen und miteinander interagieren. Sie machen gemeinsam Party, konsumieren haufenweise Drogen leben überwiegend in den Tag hinein. Denn so etwas wie wirkliche Perspektiven für die jungen Männer gibt es kaum. Man verdingt sich im Betreuungsservice für Kindergeburtstage von Oberschichtenkids, dient im Militär, versucht sich als Tätowierer oder findet eine Anstellung im Service eines Restaurants. Solche Momente zur Verbesserung der eigenen Lebenssituation sind aber rar gesät.

Denn auch wenn der Roman im Sommer 2011 spielt und die Stadtregierung darum bemüht ist, das Treiben in Rocinha und den anderen Favelas der Stadt angesichts der bevorstehenden olympischen Spiele zu disziplinieren, um ein positives Bild der Stadt zu zeichnen – es mag alles nicht fruchten. Zwar ziehen sich die eigentlichen Machthaber im Viertel zurück, das Militär rückt ein, um die Favela zu „säubern“ – die Hoffnungslosigkeit bleibt, allzu tief ist doch sie doch auch schon in die jungen Menschen dort eingeschrieben. Seine Herkunft kann man nicht verleugnen, egal wie viel Haschisch oder Kokain man auch konsumieren mag.

Drogen als verbindendes Element der Favela-Gesellschaft

Ähnlich wie in seinen zuvor erschienenen Kurzgeschichten oder Martins Landmann José Falero in seinem Roman Supermarkt zeigt auch Martins in Via Ápia wieder die Drogen als verbindendes Element der Gesellschaft, gegen die jeglicher Kampf aussichtslos scheint. Die Drogen als Währung und System, das vom organisierten Verbrechen schon längst auf die Zivilbevölkerung übergegriffen hat und die Favela durchsetzt hat, das erinnert auch stark an die Romane von Ryan Gattis und insbesondere an die Werke von Richard Price, die wiederum stark die Entstehung von Serien wie The Wire beeinflussten.

Liest man Geovani Martins Roman, so wirkt dieser an vielen Stellen wie die brasilianische Entsprechung dieser Art großstädtischer Milieustudie, nur dass es hier eben die schmutzigen Gassen der Favela sind, vor deren Hintergrund sich die großen und kleinen Deals des Lebens abspielen. Und ebenso mitreißend wie gutes Serienfernsehen ist auch die Erzählweise Martins, der immer wieder von einem der jungen brasilianischen Männer zum nächsten wechselt und so die Handlung in Via Ápia vorantreibt.

Fazit

Konnten mich seine Kurzgeschichten nicht wirklich für sich einnehmen, kommt Martins Talent für Milieuschilderungen und Hoffnungslosigkeit hier deutlich besser zum Tragen. Sein Roman drängt voran, schildert glaubhaft die Ausweglosigkeit des Lebens dort in Rocinha ebenso wie die ubiquitären Drogen, gegen die kein Kampf zu fruchten scheint.

Übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner ist Via Ápia ein starkes Buch, das hineinblickt in die Favelas und so neben Zuckerhut-Klischees und den politischen Volten einem Teil des täglichen Lebens in der brasilianischen Hauptstadt mit viel literarischem Drive Raum gibt.


  • Geovani Martins – Via Ápia
  • Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-518-43142-9 (Suhrkamp)
  • 333 Seiten. Preis: 25,00 €
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Penelope Lively – Nachtglimmen

Während ihr eigenes Lebenslicht zusehends schwächer wird, versetzt sich Claudia Hampton in Penelope Livelys Roman Nachtglimmen von einem Krankenhausbett aus noch einmal an zentrale Punkte ihres Lebens. Mal aus der eigenen Geschichte heraustretend, mal ganz präsent entsteht das vielgestaltiges Bild eines Lebens, das für Claudia von der Kriegsreporterin bis hin zur Mutter viele Rollen kannte.


Moon Tiger, so heißt jenes brennbare Material, dessen Verglimmen Moskitos fernhalten soll und das auch Penelope Livelys Buch im Original von 1987 und den bisher erschienenen deutschen Ausgaben des Romans (1994 als deutsche Erstausgabe, 1997 als Neuauflage) seinen Titel gibt. Auch Claudia Hampton diente der Moon Tiger als Schutz vor Moskitos, führte sie ihr Leben von England aus doch an entlegene Schauplätze wie Kairo, wo man Moon Tiger einsetzte, um des Nachts die Gefahr durch die Insekten zu mildern.

Auch andere Ländern wie Indien oder Spanien zählten zu den Stationen ihres Lebens, ehe Claudia zurück in ihre britische Heimat kam. Dort liegt sie im Alter von 76 Jahren nun abermals in einem Bett – nur Moon Tiger verglimmt nicht mehr neben ihr.

Schichten eines Lebens

Stattdessen ist es ihr Lebenslicht, das zusehends schwächer wird und nur noch flackert, womit der Titel des Nachtglimmens ebenso metaphorisch wie konkret zu lesen ist. Wechselnd zwischen realen Momenten dort im Krankenhaus und dem überwiegenden Abtauchen in die eigenen Erinnerungen entsteht langsam ein Bild, das die Schichten von Claudia Hampton freilegt. Denn nicht umsonst ist sie seit Kindertagen von fossilen Ablagerungen wie Ammoniten fasziniert und zählt den Bauingenieur William Smith zu ihren Vorbildern. Dieser nutzte seine Kanal-Baustellen, um nebenher Studien über die unterschiedlichen Schichten im Gestein zu betreiben.

William Smith bezog seine Inspiration durch die Schichtenbildung. Meine Schichten sind nicht so leicht zu erkennen wie die der Felsen von Warwickshire, und im Kopf sind sie nicht einmal in Folgen angeordnet, sondern ein Wirbel aus Worten und Bildern.

Penelope Lively – Nachtglimmen, S. 29

In diesen Wirbel taucht man im Folgenden mit Claudia ein und widmet sich den unterschiedlichen Schichten und Stadien ihres Lebens, die sich zu dem Menschen sedimentiert haben, der nun im Krankenbett zwischen persönlichen Erinnerungen in Ich-Form und Außenbetrachtungen hin und herwechselt.

Die vielen Facetten der Claudia Hampton

Penelope Lively

Die Kindheit, die im Zeichen von Konkurrenz und Anziehung zu ihrem Bruder Gordon bestand, die Zeit als Kriegsreporterin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kairo, eine große Liebe und eine weniger liebende Partnerschaft, die Erfahrungen als Mutter und ihre eigene Karriere, all diese Aspekte ihres Leben scheinen in den Erinnerungen auf, die zwar an manchen Stellen durcheinanderwirbeln und sich gegenseitig überlagern, dennoch aber ein klares und ja – vielschichtiges Bild von Claudia und ihrem fast acht Jahrzehnte währendem Leben ergeben.

Das ist neben dem Inhalt des Romans insbesondere aufgrund der schon erwähnten stilistischen Besonderheit des Buchs besonders prägnant. Denn immer wieder tritt Claudia aus ihrer eigenen Geschichte, betrachtet durch die personale Erzählweise sich selbst und ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber aus der Distanz, um dann wieder in das eigene Erleben und die Kontakte mit ihren Lebensmenschen im Krankenhaus zurückzuwechseln.

Ein Frauenleben unter herausfordernden Bedingungen, das Schwanken zwischen Vergessen und Erinnern, das ist souverän erzählt und steht in der Tradition anderer großer britischer Autor*innen wie Graham Swift, Michael Ondaatje oder Jane Gardam. Dass die 1933 in Kairo geborene und 2012 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannte Penelope Lively hierzulande nicht bekannter ist, ist angesichts der literarischen Klasse dieses Buchs bedauerlich – schließlich errang sie für Nachtglimmen 1997 den Booker Prize.

Ein neuer Blick auf eine bisweilen verkannte Autorin

Dass der Dörlemann-Verlag sich nun daran macht, Penelope Lively mit dieser Neuausgabe ihres Romans wieder ins öffentliche Interesse zu rücken, ist begrüßenswert. Alte, bei dtv erschienene Auflagen ihres Buchs sind im Buchhandel allenfalls noch antiquarisch erhältlich – und auch die damalige Kritik scheint veraltet, wie Eli Shafak in ihrem neuen Vorwort für den Roman schreibt.

Herablassend und bestenfalls gönnerhaft sei im englischsprachigen das damalige Urteil der Kritik ausgefallen, so die Autorin in ihrem Vorwort (hierzulande reicht das Archiv des Perlentauchers nur 25 Jahre zurück, sodass sich das deutsche Echo auf Livelys Roman nicht mehr wirklich nachvollziehen lässt).

Die Vielschichtigkeit im Charakter von Livelys Heldin, die Anerkennung der Komplexität und Widersprüchlichkeit und deren Anspruch, sich selbst zu ermächtigen, um ihre eigene Lebensgeschichte und damit verbunden die der Welt zu erzählen, all das sei von der männlich geprägten Literaturkritik nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen worden.

Auch wenn sich manche dieser Verhaltensmuster in der professionellen Kritik auch hierzulande noch immer beobachten lassen, erlaubt die Neuauflage doch nun einen freieren Blick auf die Qualitäten und den Anspruch von Livelys Erzählen. Schade nur, dass die Übersetzung nicht – oder noch immer nicht – mit diesem Anspruch Schritt hält.

Eine begrüßenswerte Neuausgaben – mit Mängeln in der Übersetzung

Denn der einst von Ulrike Budde und nun laut Verlagsangaben von Ulrike Miller aus dem britischen Englischen übersetzte Roman krankt an der in Teilen mangelhaften Übersetzung.

So liest sich der Roman, als sei er nur in groben Zügen der neuen Rechtschreibung angepasst worden. Fehler wie der Begriff des “ Torpedobeschußss“ (S. 231) weisen in diese Richtung. Auch gibt es manche Eigentümlichkeiten wie das eine Seite zuvor auftauchende und im Deutschen nicht gebräuchliche Adjektiv „handsam“. Ob hier „handsome“ kreativ übertragen wurde oder von „handzahm“ die Rede sein sollte, bleibt ein Rätsel.

Zudem erscheint die Übersetzung von Begriffen an einigen Stellen erratisch. Während die einzelnen Regimenter genannt mit ihren originalen Titeln genannt werden, gibt es plötzlich ein Hochländer-Regiment, das in einer konsistenten Übersetzung als Highlander-Regiment Bestandsschutz hätte genießen müsste.

Neben einigen unnötig komplizierten und wenig idiomatischen Wendungen und der Verwendung von problematischen Begriffen wie „Rassen“ bleibt hier der Eindruck, dass mit einer präziseren Übersetzung im Deutschen noch einige zusätzliche Schärfegrade von Penelope Livelys Prosa hätten freigelegt werden können.

Fazit

Von diesem Wermutstropfen abgesehen bietet Nachtglimmen die Chance, eine ambitionierte und literarisch versierte Autorin (wiederzu)entdecken, die mit Claudia Hampton eine vielschichtige und widersprüchliche Figur mit einer faszinierenden Lebensgeschichte in den Mittelpunkt rückt.

Hier glimmt nichts, das ist ein literarisches Leuchten!


  • Penelope Lively – Nachtglimmen
  • Mit einem Vorwort von Eli Shafak
  • Aus dem britischen Englisch von Ulrike Miller
  • ISBN 978 3 03820 153 3 (Dörlemann)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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