George R. Stewart – Sturm

Ein Sturm namens Maria sorgt im Roman von George R. Stewart für Verwüstung und Chaos in Kalifornien. Nicht nur angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe ist Sturm ein moderner Roman, dessen Alter von über 80 Jahren man ihm kaum anmerkt. Nun ist das Buch in einer Neuübersetzung von Jürgen Brôcan und Roberta Harms (wieder) zu entdecken.


1941 war es, dass der Amerikaner George R. Stewart seinen Roman Sturm veröffentlichte. Im selben Jahr, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintreten, erscheint dieses Buch, das zwar vordergründig nichts mit der Zeitgeschichte am Hut hat, das aber trotzdem eine Schlacht zeigt, nämlich die der Natur gegen den Mensch. Lange noch vor Frank Schätzings Der Schwarm oder den Klimathrillern eines Marc Elsbergs oder Wolf Harlanders zeigt Stewart in seinem Roman, was passiert, wenn die Kräfte der Natur demonstrieren, wer die eigentliche Hoheit über den Planeten besitzt.

Dabei beginnt in Stewarts Buch alles noch ganz übersichtlich. Ein junger Meteorologe versieht seinen Dienst, Schiffe schippern über den Ozean, der Aufseher der Straßenverwaltung inspiziert einen Pass zwischen Kalifornien und Nevada. Betriebsamkeit allen Orten – aber noch kein Alarm. Dieser stellt sich erst langsam ein, als sich abzeichnet, dass jenes Tief über dem Pazifik, 300 Meilen vor Yokohama, zu einem stattlichen Sturm heranwächst, den der junge Meteorologe auf den Namen Maria tauft.

Aber der Sturm! Er fühlte, wie ihm ein Kribbeln plötzlich über den Rücken lief. Ein Sturm lebte und wuchs. Keine zwei Stürme glichen einander jemals.

George R. Stewart – Sturm, S. 32

Ein Sturm zieht auf

George R. Stewart - Sturm (Cover)

Zunehmend stärker wird dieser Sturm im Lauf der Tage, der schließlich über Kalifornien herniederfährt und für viel Chaos und Verwüstung sorgt. Das ganze Ausmaß des Schreckens von verschneiten Autos bis hin zu Schiffen und Flugzeugen in Turbulenzen zeichnet Stewart durch die Parallelmontage seines multiperspektivisch erzählten Romans nach. Immer wieder sind wir bei dem jungen Meteorologen, der zusammen mit einem erfahrenen Kollegen Karte um Karte zeichnet und Meldungen vergleicht, um einen Eindruck von der anschwellenden Intensität des Sturms zu bekommen. Schleußen müssen geöffnet werden, ein junges Paar geht im Schneesturm verloren, an einer anderen Stelle befehligt der Inspekteur der Straßenbahnmeisterei derweil Schneepflüge und -fräsen, um die auf dem Pass eingeschneiten Autos zu befreien.

Allein auf menschliche Figuren beschränkt sich der Amerikaner dabei nicht. Auch ein Eber oder eine Schleiereule haben entscheidenden Einfluss auf die Handlung, genauso wie ein Holzbrett und Kuhdung, die in Sturm ebenfalls ihren Platz finden.

Wie Übersetzer Jürgen Brôcan und Roberta Harms in ihrem Nachwort anmerken, wendet Stewart in diesem Roman ein Erzählmuster an, das heute in Katastrophenfilmen und den Klimathrillern der eingangs erwähnten Autoren zur Norm geworden ist. Ein Ensemble ganz unterschiedlicher Figuren ist mit den Auswirkungen der Katastrophe befasst und kämpft an verschiedenen Fronten gegen die Katastrophe, wodurch der Roman Drive und Tempo erhält. Durchbrochen wird das ganze bei George Stewart immer wieder mit etwas faktenhuberischen Diskursen zur Meteorologie und der Entwicklung des Sturms.

Ein zeithistorischer Abdruck des Zweiten Weltkriegs

Apropos Kampf: einen Abdruck der gewalttätigen Ereignisse rund um den Erdball, die zeitgleich zum Erscheinen des Buchs stattfanden, gibt es auch in den gut 380 Seiten des Romans zu entdecken.

Straßen und Markierungsstangen werden hier wie Truppen vor dem Gefecht in Augenschein genommen, manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Natur und Kriegskultur in diesem Roman fast vollständig. Da der General, der über die Isobaren und Konvektionslinien wacht, dort konstatiert der Überwacher des Passes, dass man „die Straße verloren habe“. Telefonistinnen (hier ist eine der wenigen Stellen, die deutlich vom Alter des Romans künden), versuchen unter Hochdruck, Verbindungen herzustellen und Monteure müssen in Schneeschauern ausdrücken, um die Verbindungslinien der Strom- und Telegrafenleitungen wieder zu reparieren.

Der General zuckte mit den Schultern. Als guter Soldat hatte der die Stellung gehalten, bis er sich ehrenvoll zurückziehen konnte. Er gab seine Befehle.

George R. Stewart – Der Sturm, S. 367

Es ist eine Parallele, auf die der Verfasser George R. Stewart auch selbst hinweist, wenn er im Vorwort zu seinem Roman (der sich in den USA laut Verlagsangaben zu einem „Kultroman“ entwickelt habe) schreibt, sein düsterer Roman sei in den ähnlich düsteren Zeiten von Dünkirchen und der Niederlage Frankreichs entstanden.

Ein Roman über die Klimakatastrophe und die Ignoranz

Doch nicht nur zeithistorisch ist Sturm interessant, vor allem in Zeiten, in denen Kalifornien wieder einmal mit Extremwettern zu tun hat, die aktuell Teile von Los Angeles vernichtet haben, in denen sich hierzulande und anderswo Meldungen über Extremwetter – ob im Ahrtal oder in Bayerisch-Schwaben – häufen und in denen die Ausnahme schon zum Normalfall geworden zu sein scheint, hat Sturm eine große Bedeutung.

George R. Stewart zeigt, wie die Natur trotz aller Kenntnisse und technischen Fortschritts über den Mensch triumphiert und wie kurzsichtiges Profithandeln von Farmern und vielen anderen Personen zu den Katastrophen führt, die Sturm eindrücklich bebildert.

Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse und Klarsicht über die Kraft der Natur führen nicht zu größerer Einsicht. Am Ende zieht der Sturm von dannen und lässt die Menschen zurück, die sich in Teilen sogar über die Massen an Schnee, Eis und Regen freuen, wie die die fiktive Schlagzeile zeigt, die Stewart in seinen Roman eingebaut hat. Diese Schlagzeile lobpreist angesichts des abklingenden Sturm den Millionen-Dollar-Regen, der über Kalifornien niedergegangen ist und der der Landwirtschaft geholften hat. Das erscheint so grotesk und verzerrt, dass es schon wieder gut in unsere Zeit passt.

Angesichts der Klimakatastrophe scheint hier jener Fatalismus auf, den zuletzt etwa auch T. C. Boyle in Blue Skies zeigte und der auch in den Äußerungen des von Stewart ersonnenen Bürgermeisters aufblitzt. Dieser erzählt nach dem Schneefall launig, dass er früher Schneegestöber durchaus vergnüglich gefunden habe, nur heute mache er sich Sorgen, wie sich die Schneebeseitigung auf sein Budget auswirke. Es ist ein kurzsichtiges Denken, wie man es dieser Tage aus den USA kennt, wo der wiedergewählte US-Präsident Donald Trump als eine seiner ersten Amtshandlungen aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen ist und mehr Öl und Gas fördern will.

Fazit

Vielleicht ist es das, was am Ende bleibt und was auch Sturm zeigt: die Fragilität unserer Infrastruktur angesichts des Wetters – und die menschliche Ignoranz, mit dem wir alle tieferen Erkenntnisse und daraus folgenden Konsequenzen verdrängen. So wie es zum Schluss des Romans ein Leitartikler in seinem Fazit zu den zwölf Tagen der wütenden Maria formuliert:

Es gab zumindest keine Todesfälle durch Erfrierungen. Der Sturm war aus dem Südwesten gekommen und hatte nur Sturmwinde und Pappschnee gebracht. „Diesen Schnee“, erläuterte ein gebildeter Verfasser von Leitartikeln, „verdanken wir allein der Tatsache dass unsere Ahnen diese Stadt in einem schneereichen Gebiet im schneereichsten alle[r] Kontinente errichtet habe.“

George R. Stewart – Sturm, S. 363

  • George R. Stewart – Sturm
  • Aus dem Englischen von Jürgen Brôcan und Roberta Harms
  • ISBN 978-3-455-01872-1 (Hoffmann und Campe)
  • 382 Seiten. Preis: 26,00 €
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Jennifer Down – Körper aus Licht

Down we go. In ihrem Roman Körper aus Licht führt die australische Autorin Jennifer Down ihre Leser*innen durch emotionale Höhen und Tiefen. Das Buch erzählt vom schmerzenreichen Leben der jungen Maggie und ihrer lebenslangen Odyssee. Vor allem aber zeigt der Roman, wie man sich von seiner Kindheit und den gemachten Erfahrungen kaum mehr lösen kann.


Auch im vergangenen Jahr führte wieder das Buch Das Kind in dir muss Heimat finden von Stefanie Stahl die Liste der meistverkauften Paperback-Bücher des Jahres an. Sage und schreibe 2,1 Millionen Buchkäufer*innen fanden sich bislang für Stahls Thesen, die von den Nachwirkungen der seelischen Verletzungen aus der Kindheit auf Erwachsene handeln.

Für die einen unwissenschaftliche Küchenpsychologie, für die anderen eine augenöffnende Lektüre, um eigene Verhaltensmuster zu erkennen und zu hinterfragen, so hat es das vielrezipierte Buch an die Verkaufsspitze geschafft und den Begriff des inneren Kindes geprägt.

Das innere Kind in Australien

Jennifer Down - Körper aus Licht (Cover)

Liest man nun Jennifer Downs Roman Körper aus Licht, so wirkt das Buch fast wie die literarische Bebilderung von Stahls Begriff des inneren Kindes. Denn Down zeigt in ihrem Roman, wie sich die Kindheit und die darin gemachten Erinnerungen auf das ganze Leben von Maggie auswirken, deren Lebensweg Down in diesem preisgekrönten Roman ausführlich schildert.

Ausgehend von Maggies Kindheit in den 70er Jahren erzählt Maggie aus Ich-Perspektive von ihrem Aufwachsen bei ihrem Vater, das nur von kurzer Dauer ist. Eine Mutter hat Maggie nie kennengelernt, nun sind heruntergekommene Motels, zweifelhafte weibliche Bekanntschaften, der Drogenkonsum ihres Vaters ihre Lebenswelt. Als sie vier Jahre alt ist, wird sie durch einen Bekannten ihres Vaters vergewaltigt und gelangt in der Folge in die Obhut des Staates Australien, als sie fünf ist. Fortan beginnt eine Odyssee durch Pflegefamilien und Pflegeheime, bei der sich nicht nur die steten Ortswechsel als Konstante ihres Lebens erweisen. Auch das Martyrium des Missbrauchs des jungen Mädchens setzt sich fort.

Schmerzen und Missbrauch werden zu lebenslangen Begleitern im Leben der Frau. Denn obschon sich Maggies Lebensbahn durch Schule und Studium zu stabilisieren scheint, ist es ein brüchiger Frieden mit sich selbst, der später wieder aufgekündigt wird.

Dieser Bruch mit allen bürgerlichen Aspekten ihrer Existenz motiviert auch den zweiten Erzählstrang der chronologisch geschilderten Lebensgeschichte Maggies. Dieser durchbricht immer wieder die über vierzig Jahre hinziehenden Chronologie der Schmerzen. Denn darin lernen wir Maggie als Untergetauchte kennen, die sich der Kontaktaufnahme mit einem anderen Pflegekind aus ihrer Kindheit verweigert. Warum sie dies tut und was ihren Status als Untergetauchte verursacht hat, das ist einer der zentralen Schmerzpunkte dieses Romans, den Jennifer Down ausführlich besieht.

Ich war noch keine fünfundzwanzig und hatte mein halbes Leben in Räumen verbracht, die ich mir weder ausgesucht hatte noch verlassen konnte. Zwölf Jahre in staatlicher Obhut. Ein Aufenthalt in der Psychiatrie, die mir damals in ihrer Vertrautheit fast beruhigend vorgekommen war.

Wie sonst ließe sich das erklären.

Jennifer Down – Körper aus Licht, S. 327

Intensiv und emotional

Mit Körper aus Licht gelingt ihr ein Buch, das man mit den Labels „intensiv“ und „emotional“ versehen kann. Tief geht die australische Schriftstellerin in ihrem Roman in den Schmerz hinein, spürt dem nach, was Missbrauch, der Verlust von Liebe und Zuneigung und die immer wiederkehrenden Muster aus Traumata in Maggies Leben anrichten und angerichtet haben.

In diesem tiefen Eindringen in das Innere von Downs Schmerzensfrau erinnert das Ganze tatsächlich an den auf dem Klappentext herangezogenen Vergleich mit Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben. Doch wo dieser Roman dem omnipräsenten Leid des Schmerzenmannes nachspürte, ist Körper aus Licht nuancierter und führt Maggie aus den tiefen Tälern des Schmerzes und der Trauer auch immer wieder zu Glücksmomenten ans Licht hinauf (wenngleich das Dunkel schon manchmal wirklich fast grotesk nachtschwarz wird, und den Titel des Buchs selbst ad absurdum führt).

Dass die 1990 geborene Autorin für diesen Roman den wichtigsten australischen Literaturpreis, den Miles Franklin Literary Award zugesprochen bekam, ist angesichts dieser emotionalen Wucht und der extremen Nahaufnahme Maggies durchaus nachvollziehbar. Zudem richtet der Roman den Blick auf die Schattenseiten des australischen Fürsorgesystems, was im vergangenen Jahrhundert eine halbe Million Kinder durchlaufen mussten und dessen Abgründe erst langsam durch Untersuchungen ans Tageslicht befördert und aufgearbeitet werden. Hier besitzt Körper aus Licht auch eine gesellschaftskritische Relevanz, da es das Thema auf Basis der fiktionalisierten Geschichte in breiteres Bewusstsein bringt.

Fazit

Jennifer Down gelingt ein Parforceritt durch das Leben einer Frau, die immer wieder zurückgeworfen wird, deren Glück nie von langer Dauer ist und der man trotz der schon fast unwahrscheinlichen Häufung an Tiefs gebannt durch diese folgt, da Down ein Roman gelungen ist, der genau beobachtet und tief in das Denken und Wahrnehmen seiner Heldin vordringt.

Auch durch die Montage gewinnt Körper aus Licht, was den Roman zu einem Buch macht, das seine Leser*innen auf eine lange und eindringliche Reise mitnimmt, die auch Stefanie Stahls Thesen des inneren Kindes untermauert und das die Auswüchse des australischen Fürsorgesystems in den Blick nimmt.


  • Jennifer Down – Körper aus Licht
  • Aus dem Englischen von Claudia Voit
  • ISBN 978-3-550-20249-0
  • 536 Seiten. Preis: 24,99 €
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Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen

Menschen im Abwärtsstrudel, eine Zehe zu viel, seltsame Gestalten im Schrank oder der unerwartet komplizierte Kauf einer Mausefalle. In seinem Kurzgeschichtenband Es werden schöne Tage kommen präsentiert der US-amerikanische Autor Zach Williams ganz unterschiedliche Erzählungen, die im Tonfall mitunter realistisch, oft aber auch skurril und fast immer leicht neben die Realität gesetzt sind.


Mitunter fühlt man sich ein wenig wie einer Traumwelt, wenn man sich in die Geschichten von Zach Williams hineinbegibt. Mal umfassen sie über 50 Seiten, mal sind sie nur sieben Seiten kurz wie die von Gedichtzeilen des Kinderbuchautors Richard Scarry inspirierte Geschichte Der neue Zeh. Diese Geschichte erzählt von einem Vater, der an den Füßen seines Sohns eine zusätzliche Zehe ausmacht – und diese kurzerhand amputiert.

So ein neuer Zeh – wie ließ er sich erklären? Es war wichtig, da zu irgendeinem Verständnis zu gelangen. Schließlich würde ich es anderen sagen müssen – dem Kinderarzt, der Kita -, und dann würde man von mir verlangen, dass ich Rechenschaft über diesen neuen Zeh ablegte. Ich würde dafür verantwortlich gemacht werden, so wie ich für jeden Aspekt seines Lebens verantwortlich war, als Sachwalter seines Wachstums und seiner Gesundheit und seines allgemeinen Gedeihens als Organismus. Und der Zeh war gerade erst aufgetaucht, aus heiterem Himmel; ich wusste so gut wie nichts über ihn.

Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen, S. 214

Doch wie sicher der Boden der Realität ist, auf dem sich diese Geschichte bewegt, bleibt fraglich. So ist es auch mit anderen Geschichten in diesem Erzählungsband. Luzider Traum oder Wirklichkeit? Das ist hier die Frage.

Alles in der Schwebe, uneindeutige Stimmung allerorten

Zach Williams - Es werden schöne Tage kommen (Cover)

Schon die Geschichte, der der Titel des Buchs entlehnt ist, wirft da Fragen auf. In der Erzählung Das Sauerkleehaus schickt Zach Williams von einem Paar mit Kind in ein leicht heruntergekommenes Sommerhaus, irgendwo in der Natur an einem Berghang. Wie in einer Zeitschleife durchlebt das Paar die neuen Routinen, die der Mann durch exzessiver werdende Ausflüge in die umgebende Natur von den Bergen bis zum Fluss durchbricht. Seine Frau bleibt zunächst mit dem Kind im Haus, muss dann aber auch eine bestürzende Entdeckung machen.

Was die Familie dorthin gebracht hat, was die Hintergründe für den Aufenthalt dort sind, ob es sich gar um eine Neudeutung des Adam und Eva Mythos im Preppermilieu mit einer Schnappschildkröte anstelle einer Schlange handelt, alles bleibt fraglich und in der Schwebe.

Überhaupt, die Schwebe und die uneindeutige Stimmung, sie sind Motiv in einigen Geschichten. Schon die Erzählung Probelauf, mit der Williams seine Storysammlung eröffnet, ist da ein gutes Beispiel. Ein Mann begibt sich trotz Sturm in sein Großraumbüro. Daheim ist der Strom ausgefallen, und so sitzt er nun im sturmumtosten Gebäude im vierzehnten Stock, wo ihm nur ein eigenwilliger Wachmann und ein ebenso rätselhafter Kollege Gesellschaft leisten – und Spam-Mails unklarer Provenienz.

Oft schwingt etwas Untergründiges in diesen Geschichten mit, in denen mal ein Mann die Wohnung seiner verstorbenen Nachbarin betritt und dort auf eine mysteriöse Gestalt trifft, mit der sich während seines Anrufs bei der Polizei ein Pas-de-deux entwickelt. Mal gerät der Fall eines trauernden Vaters zu einem luziden Fiebertraum auf einem Schiff (Lucca Castle), mal zeichnet seine Erzählung berührend den Abstieg eines Vaters nach, der von seiner Anstellung am American Visionary Art Museum in Baltimore und eigenen künstlerischen Versuchen bis zur Vagabundentum im Auto regrediert. Stets umfangen von der Sehnsucht nach seinem Sohn findet diese Geschichte mit einem gedrehten und gefalteten Zeitbezug statt (Ghost Image).

Die Methode der Realitätskontrolle

Wenn Zach Williams in Lucca Castle, der wohl abgedrehtesten Geschichte des Bandes, eine der Figuren betonen lässt, dass die Gruppe von Menschen, mit denen die Hauptfigur in Kontakt kommt, keine Terroristen seien, aber die Methode der Realitätskontrolle praktizierten, dann lässt sich das ein Stück weit auch auf Williams‘ Schreiben selbst übertragen. So spielt und kontrolliert auch er die Realitäten, die er uns präsentiert. Alles ist schwankend, nicht ganz verlässlich, rätselhaft und bisweilen luzide, im Deutschen übertragen und freigelegt von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz.

Das Talent für besondere Stimmungen zeichnet dieses literarische Debüt aus, bei dem sich Zach Williams auch etwas als writer’s writer zeigt, der von Percival Everett bis zu Jonathan Safran Foer viele Fürsprecher vorweisen kann. In seiner Danksagung zeigt er sich als gutvernetzter Autor (so studierte Zach Williams Creative Writing in New York und nennt in seiner Danksagung unter anderem Hari Kunzru, Joyce Carol Oates, Jeffrey Eugenides und Katie Kitamura als Mentoren und Unterstützer, die seine Entwicklungen als Autor gefördert hätten).

Fazit

Auch fand Es werden schöne Tage kommen Aufnahme in die letztjährige Sommer-Empfehlungsliste von Barack Obama. Es sind Geschichten, die über einen Zeitraum von insgesamt acht Jahre entstanden und die das Talent Zach Williams für Stimmungen und Realitätsschwankungen zeigen. Über allem liegt ein mal dickerer, mal feinerer Schleier, der Williams als wahren Meister der Realitätskontrolle zeigt. Von surrealer Traumlandschaft bis zum Albtraum ist hier alles enthalten, was durchaus neugierig macht auf das Debüt in der großen Form, das von Zach Williams vielleicht dereinst zu erwarten ist.


  • Zach Williams – Es werden schöne Tage kommen
  • Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Clemens J. Setz
  • ISBN 978-3-423-28461-5 (dtv)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit

Treibend im Meer der Erinnerung, vielleicht sogar unter Mordverdacht stehend: in seinem neuen Roman Jenseits aller Zeit taucht der irische Autor Sebastian Barry tief in das Leben eines pensionierten Polizisten ein. Der Besuch zweier Kollegen weckt beim ehemaligen Ermittler Erinnerungen an Geschehnisse aus längst vergangenen Tagen. Was schlummert da alles in den Tiefen des Gedächtnisses von Tom Kettle? Sebastian Barry legt es lesenswert frei.


Dass es stürmt und der Regen fast senkrecht gegen die Scheiben von Tom Kettles Wohnung peitscht, als dieser auf den ersten Seiten von Sebastian Barrys Roman Jenseits aller Zeit Besuch bekommt, ist hochsymbolisch. Denn es sind zwei Kollegen, die vor der Tür des pensionierten Polizisten in Dalkey stehen. Mit sich bringen die beiden Kollegen nicht nur das Unwetter, sondern auch eine Akte, die in Tom Kettle einen Sturm der Erinnerung entfesseln wird.

Ein Sturm der Erinnerung

Was es mit dieser Akte auf sich hat, das erschließt sich erst langsam, denn Sebastian Barry setzt für seinen Roman auf einen Erzählstil, der stark von der Technik des Bewusstseinsstroms beeinflusst ist, wie ihn sein Landsmann James Joyce oder auch seine britische Kollegin Virginia Woolf einsetzten. Immer wieder gleiten die Gedanken von Tom aus der Realität ab, findet sich der mittlerweile Sechsundsechzigjährige in Erinnerungen an sein Leben wieder. Immer tiefer taucht der pensionierte Polizist dabei in das Reich der Vergangenheit ab, wie es auch das vom Steidl-Verlag ersonnene Cover beschreibt.

Es ist ein Reich, in dem der Takt und die Gesetzmäßigkeit anderen Regeln unterliegen.

Wenn genug Zeit vergeht, ist es so, als wären die alten Dinge nie geschehen. Dinge, früher frisch, unmittelbar, erschreckend, entschwinden in eine Zeit jeseits aller Zeit, wie die Wanderer, die am Killiney Strand so weit spazieren, dass sie, wenn man sie lange genug beobachtet, nur noch ein schwarzer Fleck sind, und dann sind die fort. Vielleicht sehnt sich diese Zeit jenseits aller Zeit nach der Zeit, als sie nur Zeit war, so wie die Zeit auf dem Zifferblatt einer Wand- oder Armbanduhr. Aber das bedeutete nicht, dass sie herbeizitiert werden konnte oder sollte. Er war gebeten worden, in seinem Gedächtnis zu wühlen, als ob ein Mensch das wirklich vermochte.

Sebastian Barry – Jenseits der Zeit, S. 180

Langsam legt Sebastian Barry aus den Erinnerungen und Gedankenschleifen den Charakter Tom Kettle frei. Biografische Wegmarken wie sein tödliches Tun einst im Krieg in Malaya, das Schicksal seiner Familie und das aktuelles Leben des Ruheständlers in seiner höhlenartigen Einliegerwohnung im Wohnensensemble einer viktorianischen „Burg“ dort im Süden von Dublin, das schält sich immer klarer im Lauf des Buchs heraus.

Jenseits aller Zeit – und auch jenseits des Rechts?

Sebastian Barry - Jenseits aller Zeit (Cover)

Dabei ist es mit der Klarheit aber so eine Sache. Was ist wahr, was sind Einbildungen und was die Realität? Jenseits aller Zeit lässt Gewissheiten verschwimmen, etwa wenn Tom Kettle den Besuch seiner ehemaligen Kollegen im Polizeirevier in Dublin schildert. Dass sich Ganze sich dann aber als reine Vorstellung jenseits der Realität entpuppt, die der Rentner im Park St. Stephens Green gesponnen hat, ist nur ein Indiz für die Unzuverlässigkeit von Toms Erzählen.

Was aber klar ist, ist dass dieses Buch eine Abrechnung mit dem System des Missbrauchs der katholischen Kirche in Irland im 20. Jahrhundert darstellt. Denn dieses Thema dominiert das ganze Buch und die Erinnerungen Tom Kettles. Nicht nur das Anliegen, das initial die beiden Polizisten inmitten des Sturms die Einliegerwohnung Kettles führt, hat mit diesem Thema zu tun. Auch er selbst und seine Frau haben ihre Erfahrungen mit dem Missbrauch in Kirche und kirchlichen Heimen gemacht, der sich dutzendfach dort abspielte und bei dem Behörden und Kirchenleitung gerne wegsahen und sich weigerten, Fälle des sogenannten Crimen Pessimum nachzuverfolgen. Doch hat Tom eventuell selbst daran einen Anteil, diese Missstände auf Wegen abseits des Rechts zu lösen?

Ein gesellschaftskritisches Werk – und die Fortschreibung von Sebastian Barrys literarischem Kosmos

Jenseits aller Zeit fügt sich ein in die Riege gesellschaftskritischer Werke, mit denen irische Schriftsteller*innen die Auswirkungen des vielfachen Missbrauch der katholischen Kirche und des dahinterliegenden Systems der Deckung dieser Taten aufarbeiten. Autoren wie John Boyne oder Claire Keegan untersuchten dieses Thema bereits auf unterschiedliche Weise – und auch Sebastian Barry reiht sich nun in diese literarische Aufarbeitung des in der Realität immer noch mangelhaft untersuchten Komplexes ein.

Das gelingt ihm überzeugend, verbindet sich das genaue Nachspüren der Auswirkungen dieses Missbrauchs mit einer komplexen und durchaus herausfordernden literarischen Erzählweise. Zugleich schreibt sein Roman auch jenen Kosmos fort, den Sebastian Barry über seine so unterschiedlichen Bücher hinaus entwickelt. Immer wieder berühren sich die Lebenslinien von Figuren über Bücher und Zeiten hinweg. Hier ist es nun eine Ms. McNulty, die mit Tom in dem viktorianischen Wohnungsensemble wohnt, deren Vorfahren Abenteuer in Amerika erlebt haben dürften.

Fazit

Für den Booker Prize 2023 nominiert (übrigens die sage und schreibe bereits fünfte Nominierung für Sebastian Barry) ist Jenseits aller Zeit ein wahrer Strudel an Erinnerungen und Schicksal, der die Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs ebenso zeigt, wie er auch hinabführt in die Seele eines Menschen, in dem sich Verlust und Tod schon zu sedimentieren scheinen. Einmal mehr fabelhaft übersetzt von Hans-Christian Oeser ist dieser Text ein beeindruckendes Dokument jener Zerrüttung, der der systematisierte Missbrauch in Irland (und nicht nur dort) in Menschen angerichtet hat.


  • Sebastian Barry – Jenseits aller Zeit
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-401-6 (Steidl)
  • 288 Seiten. Preis: 28,00 €
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Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern

Einmal quer durch die bundesrepublikanische (Nach)Kriegszeit bis hinein in die Gegenwart reicht der erzählerische Bogen, den Rabea Edel in ihrem Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern spannt. In ihrem Roman beschäftigt sie sich mit den fünf Generationen an Frauen und deren Vaterlosigkeiten.


Es ist ein Signum der Familie der Erzählerin Raisa, das sich durch die Generationen zieht. Seit den Zeiten der Urgroßmutter Dina verschwinden die Männer aus der Familie. Mal sterben sie, mal machen sich die Mütter aus dem Staub, mal heißt es einfach, dass es keinen Vater gebe. Auch Raisa muss das kurz vor den Wendejahren erfahren, als die Frage nach ihrem eigenen Vater immer drängender wird.

Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen.

Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern, S. 20

Mit den einfachen Erklärungen will aber weder Raisa noch die Autorin Rabea Edel begnügen. Denn Edel taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Familie Raisas ein. Es ist ein Roman, der – so das Nachwort- auf wahren Begebenheiten basiert und der zudem die Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen explizit nicht ausschließt, also durchaus als autobiographisch grundiert angesehen werden darf.

Verschwundene Väter als schwarze Löcher im Familiengefüge

Rabea Edel - Portrait meiner Mutter mit Geistern (Cover)

Es ist ein Kellerfund ihres Kindheitsfreundes Mat, der bei der Erzählerin einen ersten Anstoß für eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Herkunft gibt. Jener Mat, der ebenfalls ohne einen sonderlich präsenten Vater in der Nachbarschaft Raisas in Bremerhaven aufwächst, entdeckt nämlich ausgerechnet in einem Buch über schwarze Löcher eine Widmung eines gewissen Pauls, der Raisas Mutter das Buch zueignet.

Doch wer ist dieser Paul? Warum darf Raisa nicht ans Telefon gehen und wer ist der Mann, der eines Abends vor der Tür der beiden Frauen steht und der von Martha brüsk abgewiesen wird?

All das klärt sich im Laufe des knapp 400 Seiten starken Romans, in dem Edel immer wieder in der Zeit zurückgeht und die verschwundenen Väter als eine Art schwarzer Löcher im Familiengefüge zeigt. Vor allem nimmt ihr Buch aber die unterschiedlichen Frauen der Familie in den Blick.

Zurückreichend bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt sie von Nachkriegsgenerationen, von Flucht, von Migration, von gescheiterten Hoffnungen und Träumen und nicht zuletzt auch von der Emanzipation, die zwar jede Generation der Frauen versuchte, deren Erfolg aber zumindest zweifelhaft ist, blickt man auf die intergenerationalen Traumata und Muster, denen sich die Frauen immer wieder gegenüber sahen und sehen.

Wiederholt sich Geschichte oder nicht?

Wiederholt sich Geschichte oder wiederholt sie sich nicht? In diesem im Buch an verschiedenen Stellen aufscheinenden Spannungsfeld bewegt sich Portrait meiner Mutter mit Geistern. Immer wieder beschreibt Rabea Edel unterschiedliche Gründe und Ereignisse, die für die Abwesenheit von Vätern sorgen und die sich aber in ihrer Konsequenz ähneln.

Von Amerika bis nach Bremerhaven, von Kindstoden bis zur Geburt von neuem Leben reicht dieser erzählerische Bogen, der ähnlich wie die Schwarzen Löcher nicht nur als Symbol für die absenten Väter nutzt. Auch sind lassen sich die im geheimnisvollen Buch beschriebenen astronomischen Phänomene auch auf die Figuren und die Erzählweise des Buchs übertragen. Rabea Edel lässt immer wieder Leerstellen in den Biografien setzt und eher auf kurze Schlaglichter denn auf wirklich episches Erzählen.

So gelingt der Autorin, die wie ihre Heldin Raisa ebenfalls 1982 in Bremerhaven geboren wurde, ein berührender Roman, indem sie die vielfachen Belastungen und richtungsweisenden Entscheidungen ihrer Frauen in den Blick nimmt. Vom Erbe des Erlebten und den über Generationen hinweg weitergegebenen Mustern kann man sich eben nicht so leicht lossagen wie vom Eintrag des eigenen Namens im Telefonbuch. Das zeigt Portrait meiner Mutter mit Geistern deutlich.

Fazit

Portrait meiner Mutter mit Geistern ist ein Roman, der über große Zeit hinweg den Parallelen und Motiven in einem familiären Gefüge nachspürt und wirklich interessante Figuren in den erzählerischen Mittelpunkt stellt. Rabea Edel beweist mit diesem Buch ihren Sinn für Zerrissenheit und Hürden sowie die inneren Kämpfe, denen sich (nicht nur) ihre Frauen gegenübersahen. Das ist anrührend komponiert und interessant montiert und lädt zur genauen und sogar mehrmaligen Lektüre ein, um all die sanft eingewebten Fragen und Figuren in all ihren Komplexitäten und Abhängigkeiten wirklich zu erfassen.

Mit Portrait meiner Mutter mit Geistern dürfte Rabea Edel bei der anstehenden Literaturpreissaison sicherlich das ein ums andere Mal eine Rolle spielen!


  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern
  • ISBN 978-3-406-82971-0 (C. H. Beck)
  • 396 Seiten. Preis: 26,00 €
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