Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu

Wenn es um die literarische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit geht, dann kommt man an ihr nicht vorbei: die Gruppe 47. Prominente Autoren wie Günter Grass, Martin Walser, Johannes Bobrowski, Peter Handke, Heinrich Böll, Günter Kunert oder Wolfdietrich Schnurre waren Teil der einflussreichen und stilprägenden Gemeinschaft, die von Hans Werner Richter nach ganz eigenen Regeln geführt wurde. Nur eines fehlt, blickt man näher auf das Bild der Gruppe – nämlich die Frauen.

Die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert hat sich darangemacht, das Bild um diesen entscheidenden Faktor zu korrigieren und zeigt dabei auf, was der deutschen Literaturgeschichte entgangen ist, indem man Autorinnen wie Gisela Elsner, Ilse Schneider-Lengyel oder Griseldis L. Flemming dem Vergessen preisgegeben hat. Denn die weibliche Geschichte der Gruppe 47 ist weit mehr als „nur“ Ingeborg Bachmann oder Ilse Aichinger. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu eine wirkliche Entdeckungsreise, die zur Beschäftigung mit hochinteressanten Autorinnen einlädt.


Wie schon in ihrem ersten bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch FrauenLiteratur nimmt auch Einige Herren sagten etwas dazu von Nicole Seifert wieder die weibliche Literaturgeschichte in den Blick. Diesmal konzentriert sie sich auf die Gruppe 47, bei der sie die gleichen Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen findet, wie sie sie schon in ihrem ersten Sachbuch in Sachen Buchmarkt und männlich-hegemonialer Kanonbildung benannt hat. Auch macht ihre alternative Geschichtsschreibung über die Gruppe 47 klar, was diesem Land entgangen ist, da man – durchgehend bis heute – die Frauen an den Rand drängte und sich lieber in Fantasien über ihr Aussehen und ihren Charakter erging, statt sich ernsthaft mit ihrem Werk zu beschäftigen.

Die Autorinnen der Gruppe 47

Gegliedert in elf Hauptkapitel zeichnet Seifert in ihrem Buch chronologisch die Geschichte der Gruppe 47 seit einem der ersten Treffen im Allgäuer Großholzleute bis zum Zerfall der Gruppe nach der Tagung im oberfränkischen Waischenfeld 1967 nach.

Nicole Seifert - Einige Herren sagten etwas dazu (Cover)

In jedem der Kapitel stehen Frauen im Mittelpunkt, die auf den jeweiligen Tagungen lasen und die sich über die Jahrzehnte hinweig immer wieder den gleichen männlicher Verhaltensmuster ausgesetzt sahen. Abwertung und Unverständnis für das weibliche Schreiben, dafür umso mehr Interesse an den Frauen selbst. Interesse, das sich von übergriffigen Avancen bis zu abschätzigen Urteilen über ihr Erscheinungsbild äußerte. Dazu die immergleichen Unterstellungen, dass es ganz andere Gründe denn ihr literarisches Wirken waren, die für die Einladungen zu den Tagungen gesorgt hatten.

All das erlebten Frauen ab Beginn der Zusammenkünfte der Gruppe, wie etwa Ruth Rehmann, der bescheinigt wurde, sie sei auf der Tagung eine Frau fürs Feuer, bis hin zu Ilse Aichinger, in deren Bett sich auf einer Tagung der Gruppe 47 ein nackter Poet fand.

Frauen fürs Feuer und nackte Lyriker im Bett

Was als anstößige Übergriffigkeit eigentlich eine klare Verurteilung bräuchte, nimmt sich für die Männer vor Ort damals als nonchalante Schnurre aus, so zumindest in den Erinnerungen des Spiritus Rector der Gruppe 47, Hans Werner Richter.

„Bevor ich sie kennenlernte, sagte mir jemand, sie [Ilse Aichinger] sei ein „Pummelchen““, beginnt Richter seine Beschreibung Ilse Aichingers. Tatsächlich habe er dann „eine schöne Frau“ vor sich gehabt, „die einige meiner Tagungsteilnehmer so stark anzog, daß sie ganz außer sich gerieten und für meine Begriffe ein wenig die Contenance verloren“. (…)

Richter geht dann dazu über zu schildern, wie Ilse Aichinger während des Festes der Herbsttagung 1951 zu späterer Stunde zu ihm in den Saal kam und ihn bat, sie auf ihr Zimmer zu begleiten, in ihrem Bett liege ein nackter Mann. Er beschreibt, wie er in Aichingers Zimmer den inzwischen wieder bekleideten Mann vorfand, „einen hoffnungsvollen jungen Lyriker“, dessen Namen er für sich behält. Auf der Couch in der Ecke fand er außerdem den sich schlafend stellenden Heinrich Böll vor. Richter kommentiert, solche „Scherze“ seien üblich gewesen in den ersten Nachkriegsjahren, niemand habe sie übel genommen, bat Aichinger aber im Gehen, nun abzuschließen.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 65

Wenn Frauen bei den Tagungen anwesend waren, dann waren sie meist in Begleitung ihrer Männer vor Ort. Lesende Frauen waren (auch in der Dokumentation der folgenden Jahrzehnte) stets in der Minderheit und sahen sich einer Vielzahl von Männern gegenüber, die sich dann herabließen, auch etwas zu den Texten zu sagen, wie es Ingeborg Bachmann in ihren Erinnerungen formuliert.

Unverständnis und Abwertung bis zum Tod

Oftmals trafen die vorgetragenen Texte aber auf Unverständnis und wurden von den Männern in ihrer Hermeneutik und Bildwelt nicht wirklich erschlossen. Ein Faktor, den die öffentliche Berichterstattung fortführte und potenzierte, in dem man sich in prominenten Publikationsorganen wie dem Spiegel zumeist lieber über das Äußere von Schriftstellerinnen erging, wie im Falle der Titelstory über Ingeborg Bachmann. Selbst im Falle des Todes scheute man sich nicht, in Nachrufen die Leistungen der Frauen zu schmälern, indem man ihr Werk in Frage stellte oder ihre Erfolgslosigkeit herausstellte.

In ihrer Verschmelzung aus Biografie, Werkschau und Werkinterpretation zeigt Nicole Seifert die lesenden Frauen als Autorinnen im Spiegel der Kritik und im Spiegel der damaligen Zeit, weist aber auch darauf hin, was die Werke über das einst artikulierte Unverständnis der Rezipienten hinaus heute noch so lesenswert und aktuell macht. Einige Herren sagten etwas dazu lädt ein, sich selbst auf jene Spuren der Autorinnen zu begeben, die Nicole Seifert mit viel Engagement und Akribie freigelegt hat.

Faszinierend die rätselhafte Sprachwelt Christine Koschels, die spielerische Lyrik Elisabeth Borchers oder das frühe autofiktionale Erzählen Elisabeth Plessens. Spannend die Wahl der Mittel der Groteske im Werk Gisela Elsners, mit denen sie die Nachkriegsgesellschaft und die Institution Ehe seziert und durch ihre weibliche Perspektive erkenntnisreiche Einblicke verschafft.

Genaue Blicke auf patriarchale Funktionsweisen, auf die Negierung und Abwertung der Erfahrungswelt der Frau – im Werk vieler Autorinnen der Gruppe 47 lässt sich das ausmachen, genauso wie im Umgang mit diesen Frauen, was Nicole Seifert eindrücklich belegt.

Nicole Seiferts Korrektur der literarischen Geschichtsschreibung

So löst Seifert vollumfänglich das ein, was sie zu Beginn des Buchs als Vorhaben von Einige Frauen sagten etwas dazu wie folgt umreißt:

Ilse Schneider-Lengyel ist die erste in einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn Frauen nicht aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, ähnliches geschah bei Ilse Aichinger.

Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu, S. 56 f.

Diese Befreiung und Freistellung des Blicks gelingt Nicole Seifert bravourös, sodass man zwar einerseits den teilweise schon fast misogynen Umgang mit dem Werk und den Personen der Autorinnen der Gruppe 47 bedauert (ein Ende der beschriebenen Wirkmechanismen erscheint nicht nur aufgrund von Seiferts vorhergehendem FrauenLiteratur höchst fraglich).

Andererseits gibt das Werk aber auch so viel Orientierungspunkte und Einstiegspunkte in diese Welt weiblichen Schreibens, das man am liebsten gleich loslegen möchte mit dem Lesen und Entdecken – wo es die bedauerlich spärliche Verfügbarkeit der Werke der Autorinnen überhaupt erlaubt. Aber vielleicht findet ja der ein oder andere Text bald auch den Weg in die von Magda Birkmann und Nicole Seifert herausgegebene Reihe der vergessenen Autorinnen – ich würde es sehr begrüßen!

Fazit

Nicole Seiferts Buch führt eindringlich vor, um was wir uns sehenden Auges und ganz freiwillig in Sachen Nachkriegsliteratur beraubt haben. Ihr gelingt mit Einige Herren sagten etwas dazu ein Buch, das sowohl die Geschichtsschreibung der Gruppe 47 um einen entscheidenden Faktor korrigiert, als auch Autorinnen wieder ans Tageslicht holt und nicht zuletzt auch eine Geschichte der deutschen Nachkriegsgesellschaft aus weiblicher Sicht erzählt.

All das macht aus diesem Buch eine notwendige und augenöffnende Lektüre, die künftig fortan die männerzentrierte Geschichtsschreibung der Gruppe 47 von Hans Werner Richter bis Jörg Magenau korrigieren und ergänzen sollte.


  • Nicole Seifert – Einige Herren sagten etwas dazu: die Autorinnen der Gruppe 47
  • ISBN 978-3-462-00353-6 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Margret Hövermann-Mittelhaus

Ich stimme deiner Rezension in vielen Aussagen zu, so habe ich mich gleich auf den Weg gemacht, um Literatur von Ruth Rehmann oder Barbara König antiquarisch zu besorgen. Nicole Seifert holt tatsächlich eine ganze Reihe weiblicher Schriftstellerinnen wieder ans Tageslicht und damit die weibliche Sicht auf die Nachkriegsgesellschaft. Ganz freiwillig hätten wir Leserinnen und Leser uns das bieten lassen, dass uns diese weibliche Sicht vorenthalten wurde. Dem würde ich so nicht zustimmen, denn die Werke der Schriftstellerinnen wurden nicht verlegt, weil der Einfluss der Gruppe 47 sehr stark war, hier vor allem Hans Werner Richter. Was ihm nicht passte, wurde… Weiterlesen »