Category Archives: Kurzgeschichten

Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand

Kuba, das ist dieses pittoresk verfallene Eiland, auf dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Liebevoll handgedrehte Zigarren, Zuckerrohr, Caipirinha und Sonnenschein den ganzen Tag und dazu die Musik des Buena Vista Social Club. So kuschelig kann man es sich in seinen Klischees über die sozialistisch regierte Insel eingerichtet haben. Wie grundfalsch diese Bilder allerdings sind, das beweisen die stilistisch vielfältigen Erzählungen von Ángel Santiesteban, die es nun unter dem Titel Stadt aus Sand in der Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg zu entdecken gibt.


Bei den vorliegenden Erzählungen kann man wirklich von einer Entdeckung sprechen, denn auf dem deutschen Buchmarkt ist Ángel Santiesteban so gut wie unbekannt. Zwar erschien im Jahr 2017 eine Sammlung von sechzehn Kurzgeschichten unter dem Titel Wölfe in der Nacht, die in den Medien auch etwas Widerhall fand. Davon abgesehen aber ist der Name Ángel Santiesteban wohl nur großen Kennern der kubanischen Literatur ein Begriff. Das gilt aber auch für Kuba selbst, wo der 1966 geborene Schriftsteller mit einem Publikationsverbot belegt ist und sogar schon einmal im Gefängnis saß, woraus er erst auf öffentlichen Druck wieder freikam.

Dass die Prosa Santiestebans den Machthabern in Kuba nicht recht sein kann, das zeigt sich schon nach kurzer Zeit, beginnt man in den Erzählungen des Kubaners zu lesen. Denn das Bild, das seine Geschichten von der Insel zeichnen, ist wenig schmeichelhaft. Und erst recht hat es nichts mit den eingangs genannten Klischees zu tun, die Santiesteban hier kraftvoll zerschlägt.

Politischer Druck, Überwachung und Unterdrückung

Er erzählt von politischem Druck, bei dem Menschen schon einmal im Gefängnis landen, nur weil sie in der Nähe des Ortes aufgegriffen wurden, wo sich der Comandante kurzfristig erleichtern musste. Ein doppeldeutiges Verhör genügt, um einen unbescholtenen Köhler hierbei ohne Prozess ins Gefängnis zu bringen (Selbstmordwalzer).

Ángel Santiesteban - Stadt aus Sand (Cover)

Er zeichnet das Bild eines Systems, in dem Menschen verzweifelt aufsteigen möchten und sich durch einen unbewussten Griff an die Nase selbst in die Psychiatrie bringen (Der bedeutendste Popel der Geschichte), in der ein zufälliger Kontakt mit einem Jugendfreund einen zum Verdächtigen macht, dem Misshandlungen wiederfahren (Richelieus Männer) oder in dem man die eigene innerfamiliäre konfessionelle Prägung nicht einmal geschützt innerhalb der eigenen vier Wänden ausleben kann und so ganz eigene Wege finden muss, um sich dem Überwachungssystem wenigstens etwas zu entziehen (Der Äquilibrist).

Überhaupt, die Überwachung und Unterdrückung, sie ist in vielen von Santiestebans Geschichten höchst anschaulich beschrieben. Die Paranoia, die dieses System erzeugt, in dem Menschen von einem auf den anderen Tag verschwinden (Auf der Suche nach Benny) und in dem man nicht einmal im Ausland vor den Behörden und Zensoren geschützt ist (Dolce Vita), sie wird nachvollziehbar und setzt sich dann in jenen Geschichten fort, die den feinen Grat erkunden, der zwischen Normalität und dem allzu schnellen Abgleiten in die Kriminalität oder psychiatrischen Anstalten des Inselstaates verläuft.

So ist es in der Geschichte Das Skelett des Herrn Morales das verzweifelte Streben eines Büroangestellten, der vor der Überführung der sterblichen Überreste seines Vaters diese wieder vervollständigen möchte oder in der schon erwähnten Erzählung Der bedeutendste Popel der Geschichte der Wunsch nach Aufstieg im politischen System, der für Santiestebans Protagonisten geradewegs in die Psychiatrie führen, obschon sie auf dem Grat zwischen Normalität und Kriminalität nur einmal kurz gestrauchelt sind.

Die Unbarmherzigkeit des politischen und gesellschaftlichen System Kubas, sie werden in diesen Geschichten in ihrer ganzen Abgründigkeit offenbar.

Unterschiedliche Erzählungen

Wenn diese Geschichten etwas eint, dann ist es ihre Einheit in Sachen Unterschiedlichkeit. Denn es ein stilistischer und thematischer Strauß an Stilen und Umfang, den die dreizehn von Thomas Brovot ins Deutsche übertragenen Erzählungen kennzeichnen.

So gibt es die gnadenlose Selbsterklärung einer Schwarzen, die sich selbst verleugnet und dem Rassismus zuneigt. Ein Mann in einer parabelhaften Geschichte, der in der sandigen Wüste eine Stadt errichtet, um dort am Steg der Ankunft eines Schiffes zu harren oder die Erzählung einer Mietergemeinschaft in einem dystopischen Setting, das die Leiche einer Verstorbenen im Wettlauf gegen das Unwetter, das gegen ihr Haus anbrandet, in Sicherheit bringen wollen. Aber auch für Spielereien mit der Metaebene von Texten bleibt bei Ángel Santiesteban noch Platz.

Und obschon diese Erzählungen wirklich divers und nicht wirklich einordenbar sind, so gibt es doch ein entscheidendes verbindendes Element. Das ist die Hoffnungslosigkeit, die fast allen Erzählungen innewohnt. Die Träume, die politischen Karrieren, die Hoffnungen, sie alle sind in diesen Geschichten auf Sand gebaut. Zwar kann man sich in Tagträume flüchten, wie dies die Prostituierten in der titelgebenden Eingangsgeschichte Stadt aus Sand tun. Viel bringen wird es allerdings nicht. Das ist die bittere Erkenntnis, die diesen Erzählungen innewohnt.

Ein willensstarker Autor

Schön, dass es die Büchergilde im Rahmen des Weltempfängers möglich gemacht hat, sechs Jahre nach dem ersten Erzählungsband auf Deutsch nun auch diese dreizehn Geschichten aus Kuba erlesbar zu machen. So bekommt man den Eindruck eines Staates, der auf Unterdrückung und Strafe setzt, um seine System am Laufen zu erhalten. Ein System, dem der oder die normale Kuba-Besucher*in nicht ansichtig werden dürfte, und das deshalb umso spannender zu lesen ist, setzt der Kubaner mit seinen Geschichten doch nicht bloß auf Agitation, sondern weiß auch literarisch durch Varianz zu überzeugen.

Und nicht zuletzt rückt diese Veröffentlichung mit Ángel Santiesteban einen unerbittlichen Schreiber ins öffentliche Interesse, der radikal für seine Prosa einsteht und dafür auch Gefängnis in Kauf nimmt. Oder um es mit den Worten von Paul Ingeenday zu sagen, der das Nachwort zu Stadt aus Sand liefert:

In den Jahre zuvor hatte ich einige Autoren und Autorinnen des Inselstaates kennengelernt, hier Kompromissler, dort Protestnaturen, aber so radikal wie Santiesteban war niemand von ihnen aufgetreten; manche waren entnervt ins Exil gegangen wie so viele vor ihnen, um ihr Glück in der wachsenden kubanischen Diaspora von Miami, Madrid, Paris oder Berlin zu versuchen.

Und nun dieser: ein sanfter Trotzkopf, der vor innerer Energie zu bersten schien. Der geschworen hatte, sich aus seiner Heimat nie vertreiben zu lassen und – das Undenkbare – die Castros zu überleben, Gefängnis hin oder her. Der sagte, es sei ihm egal, ob seine Literatur überhaupt erscheinen dürfe, er schreibe sie so oder so, mit Geld, ohne Geld, oft übrigens in der Nacht. Seine Geschichten drängten aufs Papier, damit sie ihn im Innersten nicht verbrannten. „Das ist der einzige Sinn, den ich in meinem Leben entdecken kann“, sagte er mir. „Dafür bin ich auf der Welt. Um zu schreiben“.

Paul Ingeenday in seinem Nachwort zu Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand, S. 248

Schön, dass der Weltempfänger diese vielseitige und so willensstarke Stimme für uns europäische Leser*innen einfängt!


  • Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 173670
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension

Käthe Beauchamp-Bowden, Schriftstellerin. Unter diesem Namen trug sich im Mai 1909 ein Gast ins Gästebuch einer Unterkunft in Bad Wörishofen ein, der später unter ihrem eigentlichen Namen Katherine Mansfield zu großer Bekanntheit gelangen sollte. Von jenem Ruhm war Mansfield zu jener Zeit allerdings weit entfernt. Nach einer überstürzten Heirat sollte sie schwanger eigentlich in einem bayerischen Kloster untergebracht werden. Doch die Neuseeländerin reiste weiter und bezog im Kurort Bad Wörishofen ein Zimmer, wo sie sich den Anwendungen von Pfarrer Kneipp unterzog und sich als genaue Beobachterin ihrer Umwelt erwies, wie die Kurzgeschichten zeigen, die nun unter dem Titel In einer deutschen Pension noch einmal in der Büchergilde Gutenberg aufgelegt wurden.


Dabei durchweht die Kurzgeschichten von Katherine Mansfield gerade in den ersten Geschichten ein starker Anklang an den Zauberberg von Thomas Mann. Sieche Kurgäste versammeln sich da zum Verspeisen von Kartoffeln und Sauerkraut, parlieren über deutsche und englische Gepflogenheiten, pflegen Vorurteile und prahlen oder bemitleiden sich wahlweise für die Anzahl ihrer Kinder. Ein Baron perfektioniert das asketische Knabbern an Salatblättern und die Schwester einer Adeligen tritt auf. Die Erzählerin ist dabei mitten im Geschehen und blickt mit Ironie und Distanz einer Engländerin auf das Treiben dort im Kurort, wo man auch schon einmal einen Professor beobachten kann, der auf der Posaune vor seinem Publikum brillieren möchte, was wirklich komisch dargeboten wird. Überhaupt der Humor, er verbindet Mansfield auch deutlich mit Thomas Mann, dessen Zauberberg in vielen Passagen ebenso witzig ist wie das Treiben in der deutschen Pension.

In diesem Augenblick kam der Briefträger, der wie ein deutscher Offizier aussah, und brachte die Post. Meine Briefe warf er in meinen Milchpudding, und dann wandte er sich an die Kellnerin und flüsterte. Sie verzog sich eilfertig. Der Geschäftsführer der Pension erschien mit einem kleinen Tablett, auf dem eine Ansichtskarte lag. Er trug sie zum Baron und verbeugte sich dabei ehrerbietig.

Was mich betrifft, war ich enttäuscht, dass nicht aus fünfundzwanzig Kanon Salut geschossen wurde.

Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension, S. 20 f.

Studien ganz unterschiedlicher Menschen

Katherine Mansfield - In einer deutschen Pension (Cover)

Unter die komischen Beschreibungen des Treibens dort im Kurort sind aber auch einzelne Studien von ganz unterschiedlichen Menschen gemischt. Da ist Frau Brechenmacher, die an einer Hochzeit teilnimmt, welche wirklich nicht als fröhliches Fest bezeichnet werden kann (was die Illustrationen von Joe Villion gekonnt verdeutlicht). Da ist Andreas Binzer, der der Geburt seines Kindes entgegensieht (hoffentlich ein Junge, wie er sich erhofft) und dabei zwischen seiner Verachtung für Frauen und der eigenen Unruhe sowie jeder Menge Selbstmitleid munter changiert.

Vom Humor bleibt dann nichts mehr zurück, wenn man die Geschichte Das KIND-DAS-MÜDE-WAR liest, in dem von Überforderung, dem Nicht-Genügen der Mutterrolle und einer potentiellen Kindstötung liest. Hier zeigen sich auch nur wenig kaschiert die Themen, die Katherine Mansfield während jenes Aufenthaltes als Käthe Beauchamp-Bowden in Bad Wörishofen 1909 umgetrieben haben müssen.

Das macht aus den im Buch beschriebenen Themen eine Lektüre, die auch über 110 Jahre später noch nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Die Last der Mutterschaft, die ungleich verteilten Rollen in der Gesellschaft, die Überforderung und mangelnde Anerkennung, das alles schwingt in Mansfields Geschichten mit und zeigt die Entwicklungen der Autorin weg von den Humoresken und spöttischen Betrachtungen hin zu einem fast schmerzlichen Realismus.

Kurzgeschichten und eine biographische Skizze

Illustration aus "In einer deutschen Pension" von Katherine Mansfield
Illustration von Joe Villion aus dem Inneren des Buchs

Das Ganze wird von einer biographischen Skizze von Elisabeth Schnack ergänzt, die auch die Übersetzung aus dem Englischen besorgte. Darin erzählt sie vom Leben Katherine Mansfields, ihren Themen und Konflikten und bettet so die zuvor gelesenen Kurzgeschichten in einen größeren Kontext ein.

Dabei merkt man sowohl in der Übersetzung in einigen Formulierungen (beispielsweise jemanden an die Kandare nehmen) als auch in der biographischen Skizze selbst, dass diese Ausgabe der Deutschen Pension nicht mehr ganz taufrisch ist und sich seit dem erstmaligen Erscheinen dieser Ausgabe im Jahr 2013 und der jetzigen Auflage hinsichtlich der Sensibilisierung für weibliches Schreiben und der Nicht-Kanonisierung einiges passiert ist, etwa durch Nicole Seiferts Buch Frauen Literatur oder Prosaische Passionen, dem Kanonisierungsversuch weiblicher Short-Story-Autorinnen aus diesem Jahr, in dem sich auch Katherine Mansfield wiederfindet.

So oder so leistet der Band aber gute Arbeit, um eine der prägenden weiblichen Stimmen aus den Anfangstagen des 20. Jahrhundert erneut literarisch und auch künstlicher zu entdecken. Schön, dass das Buch noch einmal neu aufgelegt wurde und gerade in dieser Zeit, in der das öffentliche Interesse auch verstärkt dem (vergessenen) weiblichen Schreiben gilt, hoffentlich für Aufmerksamkeit sorgt.

Fazit

All die Themen, die die feministisch geprägte Literatur in diesen Tagen verhandelt, sie finden sich auch schon in Katherine Mansfields Kurzgeschichten angelegt. So bieten die Erzählungen einen großen Bogen von ironischen Kurbeschreibungen und einem heiteren Blick auf das schrullige Kurpersonal bis hin zu abgründigen Erzählungen von Mutterschaft und Überforderung in der Gesellschaft. Das alles macht in Verbindung mit den künstlerisch gelungenen Illustrationen Joe Villions aus In einer deutschen Pension eine spannende Lektüreerfahrung, die Mansfields künstlerisches Schaffen noch einmal neu oder wiederentdecken lässt.


  • Katherine Mansfield – In einer deutschen Pension
  • Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Elisabeth Schnack
  • Büchergilde Gutenberg. Artikelnummer 174162
  • 280 Seiten, 21 Illustrationen. Preis: 26,00 €

Titelbild: Via Openverse von Kaïopai°, lizenziert unter CC BY-NC 2.0

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Sh*t oder große Show?

Richard Russo – Sh*tshow

Richard Russo ist einer der großten Analytiker der amerikanischen Seele. Seine Romane sind immer zugleich Vermessungen Amerikas und dessen Befindlichkeiten. Mithilfe seiner Durchschnitts-Protagonisten gelingt ihm ein genauer Blick auf Milieus und deren Themen. Nun erscheint nur wenigen Monate nach seinem Roman Jenseits der Erwartungen gleich noch ein Buch. Es trägt den schönen Titel Sh*tshow und ist der Gattung Kurzgeschichte zuzuschlagen. Auf knapp 70 großzügig gesetzten Seiten (übersetzt von Monika Köpfer) erzählt Russo darin von einem Akademikerpärchen, bei dem nicht nur der häusliche Frieden in Schieflage gerät. Es bleibt die Frage: Sh*t oder große Show?

Enttäuschte Akademiker*innen und ein Shitstorm

Alles beginnt mit einem Abendessen. Drei Paare befreundeter Akademiker*innen wollen sich nach dem Wahlsiegs des „orangefarbenen“ Präsidenten Donald Trumps zum geselligen Austausch treffen.

Da wir, noch immer fassungslos, das Bedürfnis nach tröstender Gesellschaft hatten, luden Ellie und ich am Morgen nach den Wahlen die Schuulmans und die Millers zum Abendessen ein.

Russo, Richard: Sh*tshow, S. 7

Doch bei aller Verbundenheit müssen die drei Paare feststellen, dass sie sich über die Jahre doch etwas auseinandergelebt haben. Man versteht sich noch, die Sympathien für die vermeintlich gute und anständige Seite ist aber nicht mehr bei allen Freund*innen ungeteilt da. Am selben Abend macht dann Ich-Erzähler David, der uns die kurze Geschichte erzählt, eine äußerst unappetitliche Entdeckung. Im hauseigenen Pool schwimmen menschliche Ausscheidungen. Und bei der einen Attacke bleibt es nicht. Aus unerfindlichen Gründen finden sich David und seine Frau Ellie im Zentrum eines wirklichen Shitstorms wieder, der sich nicht nur auf ihren Pool beschränkt. Ihr Privatleben und die Balance zwischen ihnen beiden gerät zunehmend in Schieflage.

Auch Richard Russo schreibt sich den Frust von der Seele

Es ist eine hochinteressante Entwicklung, die sich auf dem Buchmarkt seit einiger Zeit beobachten lässt. Es scheint, als hätten die zumeist männlichen Autoren meinen vor einiger Zeit hier publizierten Aufruf, mehr Politik zu wagen, zu Herzen genommen. So schreiben sie sich ihren Frust über gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends zumeist in satirischer Form von der Seele. Ian McEwan tat dies zuletzt betreffend den Brexit (und scheiterte auf ganzer Linie), Howard Jacobson nahm sich in Form einer Satire Donald Trump zur Brust. Auch in Richard Russo muss es gegärt haben, weshalb er 2019 diesen Text publizierte.

Richard Russo - Sh*tshow (Cover)

Allerdings scheitert auch Russo an der monströsen Realität und an einem Präsidenten, der Politik konsequent in eine Art TV-Show der Absurditäten überführt hat. Was angesichts der Laufzeit der knapp 70 Seiten zu befürchten war, bewahrheitet sich im Lauf der Geschichte. Russo schafft es in Sh*tshow nicht, einen neuen Blick auf den Komplex Donald Trump und die amerikanische Gesellschaft anzubieten. Die (von mir) erhoffte Analyse der Gesellschaft bleibt aus.

Dass Trump auch aus akademischen Milieus Unterstützung erfuhr oder dass Hillary Clinton eher als kleineres Problem denn wirkliche demokratische Wunschkandidatin angesehen wurde, das sind doch inzwischen eher Gemeinplätze. Auch Russos Stärke der Auslotung von Milieus und Gesellschaftsschichten greift hier nicht wirklich. Seinen Charakteren fehlt die Plastizität, die seine Roman sonst so besonders macht. Das verwundert nicht, umfassen seine Bücher doch ansonsten auch schon gerne einmal deutlich über 700 Seiten. Ein bisschen enttäuscht hat es mich aber dann doch. Auch die Auflösung des Geheimnisses hinter dem Shitstorm bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück.

Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück

Richard Russo hat es sicher gut gemeint mit seiner Kurzgeschichte. Hier wird aber lediglich eine etwas banale Story, die ansonsten in einem Kurzgeschichtenband erschienen wäre, auch durch das Marketing mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie nicht hat. Es wäre spannend zu lesen gewesen, was etwa Yasmina Reza oder Jonathan Coe aus dieser Ausgangslage gemacht hätten. Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück. Und so liegt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einmal mehr dazwischen: Kein Shit, aber leider auch keine große Show.


  • Richard Russo – Sh*tshow
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8144-4 (Dumont)
  • 80 Seiten, 10,00 €
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Drei Kurze (Kritiken)

Schon länger gab es in dieser Kategorie keinen neuen Beitrag mehr. Nun also Nachschub mit drei Büchern, die mich in völlig unterschiedliche Regionen der Welt führten. Durch den Klick auf die Cover gelangt man wie immer zur den Verlagspräsenzen der Bücher.

Chigozie Obioma – Das Weinen der Vögel

Chigozie Obioma - Das Weinen der Vögel (Cover)

Einen ganz besonderen Erzähler präsentiert der Nigerianer Chigozie Obioma in seinem Roman Das Weinen der Vögel. Hier erzählt kein Mensch, sondern ein Schutzgeist, ein Chi. Dieser hält vor dem Gericht der Geister sein Plädoyer für die Unschuld seines Klienten. Denn dieser hat schwere Schuld auf sich geladen, wie wir schon zu Beginn des Romans erfahren. Allmählich erzählt der redegewandte Schutzgeist die Lebengeschichte des nigerianischen Hühnerzüchters Chinonso. Einst in Liebe zu einer gesellschaftlich höherstehenden Frau entbrannt, setzte diese Liebe eine verhängnisvolle Ereigniskette in Gang.

Der Wunsch nach Bildung und sozialem Aufstieg trieb Chinsonso um, der seiner Angebeteten auf Augenhöhe begegnen wollte. Sozial ausgegrenzt warf er sein gesamtes Vermögen in die Wagschale, um auf Zypern zu studieren. Doch ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen – sein Streben nach sozialem Aufstieg nahm kein gutes Ende. Und so sind wir dabei, wie der Chi sein Plädoyer hält, eng verwurzelt in der mündlichen Erzähltradition Nigerias und der Theologie der Igbu.

Ein Buch, das durch seine außergewöhnliche Erzählinstanz besticht und das von einem Schicksal erzählt, das exemplarisch für viele andere steht. Erzählkunst, die für den Booker Prize 2019 nominiert und jüngst mit dem Internationalen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet wurde (übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner)

Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

Alles andere als ein typischer Sommerroman ist das Buch Der Sommer mit Ellen von Agnete Friis. 2018 als bester dänischer Roman des Jahres nominiert kann man das spannende Buch nun in der deutschen Übersetzung von Thorsten Alms entdecken.

Sommer in der Provinz von Jütland 2018. Da entstehen Bilder in Kopf, von wogendem Weizen, Fahrradfahrten durch die heißen Nachmittage zum nächsten See. Wache Nächte, strahlender Himmel und Tage, die nie zu enden scheinen. Eben ganz so, wie es das Cover dieses Romans suggeriert. Aber dem ist hier mitnichten so. Vielmehr gleicht dieser Sommer, den Agnete Friis in ihrem Roman schildert, der drückenden Schwüle kurz vor einem Gewitter. Vor vierzig Jahren verlebte Jakob Errbo einen Sommer in der jütländischen Provinz, der ein prägender werden sollte. Er lernte Ellen kennen, die zunächst in einer benachbarten Kommune und dann auf dem Bauernhof seiner Familie lebte. Die Schwester seines Freundes verschwand. Ein Mord ereignete sich. Und nun ist Jakob auf Bitten seiner Onkel vierzig Jahre später zurück auf dem Hof. Die Onkel wollen wissen – was mit Ellen passiert ist. Und Jakob macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, die Jahrzehnte verborgen blieb.

Düster, dräuend, hypnotisch, machmal etwas zu gewollt, aber insgesamt wirklich gekonnt. Agnete Friis liefert in Der Sommer mit Ellen einen Anti-Sommerroman ab, der die Brüchigkeit der eigenen Erinnerung thematisiert.

Sasha Filipenko – Rote Kreuze

Diogenes wagt den Blick nach Osten. Nachdem früher die russischsprachige Belletristik fester Bestandteil des Verlags war, geriet sie in letzter Zeit etwas aus dem Fokus. Nun hat man mit Sasha Filipenko wieder einen jungen weißrussischen Autor unter Vertrag genommen. Dieser erzählt in Rote Kreuze zwei sich – kreuzende – Lebensgeschichten (übersetzt von Ruth Altenhofer).

Da ist zum Einen die des jungen Vaters Alexander, der eine Wohnung in einem weitestgehend leerstehenden Haus bezieht. Nachdem im Treppenhaus und an anderen Stellen rote Kreuze auftauchen, macht Alexander zum Anderen die Bekanntschaft mit der Frau, die für die Kreuze verantwortlich ist. Es handelt sich um Tatjana Alexejewna. Die Erinnerungen der hochbetagten Dame drohen dem Vergessen anheim zu fallen. Die Demenz greift um sich – und so erzählt dem zunächst noch recht widerwilligen Alexander ihre Lebensgeschichte. Und diese ist nicht anders als spektakulär zu nennen. Schließlich hat Tatjana einen Großteil des vergangenen Jahrhunderts erlebt.

Leider ist diese Fülle an Erlebtem auch ein Problem dieses Textes. Denn um sich sorgfältig diesem Jahrhundertleben mit all seinen Bildern und Schrecken zu widmen, ist mehr als nur eine oberflächliche Erzählung über gerade einmal 288 Seiten notwendig. Alle Wegmarken ihres Lebens touchiert Filipenko nur, ohne ihnen den gebührenden Raum zum Wirken zu geben. So bleibt am Ende leider ein etwas gehetztes und eben auch – oberflächliches – Buch, von dem ich mir mehr Tiefe gewünscht hätte. Gewiss, keine schlechte Lektüre – aber eben auch kein Buch, das mir länger im Gedächtnis bleiben wird.

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Zu Gast in Königin-Maud-Land

Line Madsen Simenstad – Königin Maud-Land ist geheim

Was ist es denn nun, dieses geheime Königin-Maud-Land, von dem schon im Titel der Kurzgeschichtensammlung von Line Madsen Simenstad die Rede ist? Das erklärt die längste der ingesamt fünf im Buch enthaltenen Stories. Daneben erzählt die junge norwegische Autorin von unbeschwerten Sommern in der norwegischen Einöde oder von ziellosen Taxifahrten durch die Nächte Oslos. Ein Beitrag der Reihe #norwegenerlesen.

Line Madsen Simenstad ist eine junge norwegische Autorin (Jahrgang 1985), die bereits einige Kurzgeschichten publiziert hat. Sie arbeitet als Journalistin und ist am Berliner Verlag bzw. dem übergreifenden Begegnungsprojekt Broken Dimanche Press beteiligt. Ihr literatisches Debüt erschien aber nicht in diesem Verlag, sondern bei Mare (Übersetzung durch Ilona Zuber).

Gar nicht so einfach ist es, wenn man einen gemeinsamen Nenner der fünf Geschichten finden will. Denn allzu unterschiedlich sind die Themen und Sounds, die sie in ihren Geschichten verwendet.

Das beginnt schon in der ersten Geschichte (Über die Liebe), die einen hellen Sommer in den norwegischen Schären beschreibt. Zwei Schwestern, ein Steg, Naturidylle á la Tove Jansson. Das könnte nicht krasser mit der folgenden Erzählung Roter Riese kollidieren. Darin erzählt Line Madsen Simenstad vom Sterben eines Familienvaters und seiner Suche nach dem perfekten Song für ein Begräbnis.

Erzählungen im Spannungsfeld

Tod und Glück, Trauer und Lebensfreude – es liegt bei Simenstads Stories immer denkbar dicht beeinander. Auch in der mittleren Geschichte Königin-Maud-Land ist geheim sind es die Pole der Bedrohung und der unbeschwerten Kindheit, die in ihrer Geschichte ein Spannungsfeld bilden.

In der längsten Erzählung des Buchs beschreibt die Norwegerin in zwanzig Kapiteln das Leben einer offenbar alleinerziehenden Mutter und das ihres Sohnes. Geplagt von Schulden und der Erziehung ihres Kindes übt sich die Mutter in einem Rückzug von der Welt da draußen. Die Wohnung wird für ihr Kind zum Spielplatz, das Klingeln an der Haustür wird zur Bedrohung.

Des Weiteren gibt es noch zwei kurze Geschichten (auch mit jener eingangs erwähnten Taxifahrt), ehe der Band dann nach 122 Seiten am Ende ist. Das liest sich alles wirklich sehr schnell weg und stellt eine gute Art von nordischem Literatur-Häppchen dar.

Einzig und allein die Frage, warum man dem Buch kein attraktiveres Cover spendiert hat, bleibt für mich am Ende bestehen. Aber anderseits: vorbildlich, wie Mare die Übersetzerin ebenfalls aufs Cover hebt. Damit schafft man Aufmerksamkeit für diesen so wichtigen Job.

Fazit

Ideal für alle, die eine junge, weibliche Stimme aus Norwegen kennenlernen wollen und die mal wieder keine Zeit für lange Erzählungen haben. In Königin-Maud-Land kann man auch einmal kurz eintauchen!

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