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Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Bewusstseinsstrom im Takt des Big Ben. In ihrem vor hundert Jahren erschienenen Roman Mrs. Dalloway erprobt Virginia Woolf die Möglichkeiten des modernen Erzählens und erschafft so einen Roman, der dem Fluss der Gedanken, der Zeit und des Lebens Raum gibt. Literatur, deren Ästhetik auch heute noch verblüfft.


Nein, eine inhaltliche Zusammenfassung von Virginia Woolf Mrs. Dalloway muss eigentlich scheitern. Denn obschon der zeitliche Rahmen eines Tages eigentlich ganz klar umrissen ist, herrscht im Inneren dieses Rahmens ein wildes Durcheinander. So beginnt zwar alles mit Clarissa Dalloway, die sich zum Blumenkauf außer Haus begibt und durch die Straßen von London wandert. Damit lösen sich aber auch rasch sämtliche konkreten Bezüge auf. Schon nach wenigen Seiten hat Virginia Woolf die Leserinnen und Leser in einem wilden Literaturdschungel verstrickt, bei dem von den anfänglichen Gewissheiten rasch nicht mehr viel übrigbleibt.

Denn es war Mitte Juni. Der Krieg war vorbei, außer für jemanden wie Mrs. Foxcroft gestern Abend in der Botschaft, die sich zu Tode grämte, weil dieser nette Junge umgekommen war und das alte Herrenhaus jetzt einem Cousin zufallen musste; oder Lady Bexborough, die, wie es hieß, einen Wohltätigkeitsbazar eröffnet hatte mit dem Telegramm in der Hand, John, ihr Liebling, tot; aber es war vorbei; Gott sei Dank – vorbei. Es war Juni. Königin und Königin waren in ihrem Palast.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway, S 2 f.

Die anfänglich genauen Koordinaten leiten schon wenige Seiten später nicht mehr zielführend durch das Buch. Denn Virginia Woolf experimentiert unerschrocken mit Satzperioden, Perspektiven, wörtlicher und indirekter Rede, verschneidet innerer mit äußerer Handlung. So webt sie einen herausfordernden Sprachteppich, den Melanie Walz mindestens ebenso unerschrocken ins Deutsche übertragen hat.

Sie strich die Ecken der Papiere glatt, legte sie zusammen und verschnürte das Päckchen, fast ohne hinzusehen, saß nah bei ihm, neben ihm, als wären all ihre Blütenblätter um sie herum, dachte er. Sie war ein Baum in voller Blüte; und aus ihren Zweigen blickte das Gesicht eines Gesetzgebers, der eine Zuflucht gefunden hatte, wo sie niemanden fürchtete, weder Holmes noch Bradshaw – ein Wunder, ein Triumph, der letzte und größte.

Virginia Woolf – Mrs. Dalloway

Ein Tag im Juni in London

Virginia Woolf - Mrs. Dalloway (Cover)

Das Personal bildet einen Reigen, der von Clarissa Dalloway als Mitglied der gehobenen englischen Mittelschicht angeführt wird. Sie durchmisst Straßen und Plätze von Westminster und plant in Gedanken den abendlichen Empfang, zu dem sich kein geringerer als der Premierminister angesagt hat. Dann wiederum springt Virginia Woolf zu Peter Walsh, der Clarissa einst anbetete und es eigentlich noch immer tut.

Ärzte, Kriegsheimkehrer, Eheleute, alles wechselt sich ab, geht ineinander über und bildet das assoziative Grundrauschen dieses Romans, bei dem schnell nur noch die kontinuierlichen Schläge des Big Ben Indiz für das Verstreichen des Tages sind, den Woolf schildert. Diese Schläge sind einer der wenigen verlässlichen Bezüge auf die Außenwelt, die hier zugunsten der reichen Gedankenwelt von Woolfs Figuren in den Hintergrund tritt (und aufgrund derer der eigentlich geplante Titel The hours der treffendere gewesen wäre, ist doch der Personenreigen im Stundentakt das eigentliche Thema).

Ähnlich wie ihr irischer Schriftstellerkollege James Joyce nutzt auch Virginia Woolf in ihrem Roman ausgiebig die Erzähltechnik des Gedankenstroms, der durch den Roman leitet und in dem immer wieder einzelne Motive wie der Suizid oder die unerfüllte Liebe auftauchen und Figuren miteinander verbinden.

Ein Paradebeispiel der literarischen Moderne

Mrs. Dalloway fügt sich passgenau in die Moderne ein, die auf ganz unterschiedlichen Kunstfeldern vor hundert Jahren Blüten trieb. In Deutschland etwa verfasste Alexander Döblin sein bahnbrechendes Werk Berlin Alexanderplatz, das eine Ahnung vom Durcheinander im modernen Berlin der Zwischenkriegszeit gab. In der Kunst experimentierten Lyonel Feininger, Georges Braque oder Ernst Ludwig Kirchner mit Formen und deren Auflösung, Verfremdung und malerischem Ausdruck. In Wien brachen Arnold Schönberg und seine Schüler wie etwa Alexander von Zemlinsky das herkömmliche Tonsystem auf und entwickelten die Zwölftontechnik, die die bisher eingeübte harmonische Praxis vollends auf den Kopf stellte.

Virginia Woolfs Text ist das literarische Gegenstück zu diesen Entwicklungen in den anderen Kunstsparten. Ihr gelingt es mit Worten, herkömmliche Perspektiven und Lesegewohnheiten aufzubrechen und Leserinnen und Leser vor eine literarische Herausforderung zu stellen. Ihr fiebriges, unermüdlich in den Gedanken ihrer Figuren herumirrendes Werk ist eines, von dem auch heute noch Kreative zehren.

Wie dies aussehen kann, das zeigt auch die vorliegende Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, die mit dem diesjährigen Gestalterpreis der Buchgenossenschaft ausgezeichnet wurde. So lieferten 26 Studierende und Alumni der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle Illustrationen zu diesem Werk, die ebenso polyphon und vielgestaltig sind, wie es die Prosa von Virginia Woolf ist.

Leicht unterschiedliche Schrifttypen und eine Uhr anstelle von herkömmlichen Seitenzählungen unterstreichen den Fluss des Textes, der durch die Schläge des Big Ben strukturiert wird. Zahlreiche Fußnoten mit hilfreichen Erläuterungen zu Bezügen und Anspielungen in Woolfs Text runden das Lese- und Kunsterlebnis dieser Ausgabe ab. So zeigt sich wieder einmal, welche Kraft noch immer von dieser Mrs. Dalloway ausgeht und wie sie Kunst und Künstler inspiriert. Ein eindrucksvoller Beweis für die Modernität dieses Werks!


  • Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
  • Aus dem Englischen von Melanie Walz
  • Artikelnummer 174707 (Büchergilde Gutenberg)
  • 368 Seiten. Preis: 32,00 €
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Bora Chung – Der Fluch des Hasen

Wenn plötzlich sprechende Köpfe in der Toilette auftauchen, Der Fluch des Hasen zuschlägt oder ein junger Mensch in einer archaischen Umgebung Prometheus-gleich malträtiert wird, dann befinden wir uns in der Welt von Bora Chung. Der Kurzgeschichtenband der südkoreanischen Autorin versammelt kurze Episoden, die von Horror bis Science Fiction reichen und von Schattenkindern, invertierten Schwangerschaften und mehr Kreativ-Monströsem erzählen.


Völlig baff und glückstränenüberströmt stand sie plötzlich auf der Bühne unter der Glaskuppel der Messe Leipzig, Ky-Hyang Lee. Soeben war am Nachmittag des 21. März ihr Name gefallen, als es um den Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ging.

Eine Rede habe sie nicht vorbereitet, so Ky-Hyang Lee, die sich in einer sponaten Danksagung dann für den Preis auch als Zeichen ihrer langjährigen Arbeit im Hintergrund der Texte bedankte.

Übersetzerin Ki-Hyang Lee bei ihrer Dankesrede.
Quelle: Leipziger Messe GmbH / Stefan Hoyer

Das Unheimliche und Monströse laufen bei der gesellschaftskritisch versierten Koreanerin Bora Chung zu großer Form auf. Ki-Hyang Lee ist es zu verdanken, dass ihre Geschichten auch auf Deutsch abgründig funkeln. In der pointierten und leicht neben die Norm gesetzten Sprache, die Ki-Hyang Lee den Texten von Bora Chung verleiht, haben sie eine zitternde Offenheit für das Neue und Unerwartete. Das Niedliche und das Widerliche kommen uns daraus entgegen.

Jurybegründung zum Preis der Leizpziger Buchmesse an Ki-Hyang Lee

Damit war an diesem Nachmittag in Leipzig der Auftakt gemacht zu einer Preisverleihung, bei der allesamt Bücher ausgezeichnet wurden, die den Horror und das Finstere im ganz normalen Alltag beleuchten. Auch der Blogger Thomas Hummitzsch fasst das auf seinem Blog Intellecutres noch einmal treffend zusammen:

Nun aber Der Fluch des Hasen. Was kennzeichnet das Buch? Es sind allesamt disparate Erzählungen, was Länge, Setting und die Themen anbelangt. Und doch kristallisiert sich im Lauf des Buchs ein genauer Blick auf das Abseitige, den Schrecken im Alltag heraus, der sich auf oftmals aus dem Zusammenleben zwischen Paaren speist. So eröffnet Bora Chung ihren Reigen des kleineren und größeren Horrors mit der Erzählung einer Frau, der nach dem Gang auf die Toilette an ebenjenem Ort ein sprechender Kopf entgegenblickt. Dieser verfertigt sich einem Golem gleich zwar nicht aus Lehm, dafür aus den Ausscheidungen der Frau zunehmend zu einem Körper.

Eine bemerkenswerte Koinzidenz zur Chungs Landsfrau Cho-Nam Joo, die bereits ebenfalls von Ki-Hyang Lee übersetzt wurde und die in ihrem letzten Werk ebenfalls das Wohlbefinden einer Frau entscheidend mit der sanitären Situation der heimischen Toilette korrelieren ließ.

Ekel und Abstoßung

Bora Chung - Der Fluch des Hasen (Cover)

Das Thema des Ekels und der Abstoßung setzt sich auch in den folgenden Geschichten fort. Eine verfluchte Hasenlampe sorgt für den Niedergang mehrerer Menschen. Ein Junge wird in der umfangreichsten Erzählung in einer archaischen Umgebung in einer Höhle gefangen gehalten, wo ihm ein mythologisches Flugwesen immer wieder Stücke aus seinem Körper reißt, ehe ihm die Flucht gelingt. Eine Prinzessin in einer Wüstenwelt soll statt der Märchenhochzeit mit ihrem Prinzen den Tod oder eine junge Frau nach der plötzlichen Schwangerschaft durch die Einnahme einer Antibabypille einen Partner finden, der das Ergebnis der Jungfrauengeburt akzeptiert.

Immer wieder scheint feministische Kritik an Gesellschafts- und Herrschaftssystemen in den Geschichten auf, die zwischen Fantasy und Horror, Ekel und Komik pendeln. Insofern liegt die Jury richtig, wenn sie die Ambivalenz zwischen Niedlichem und Widerlichen in der Laudatio als besonderes Merkmal rühmt.

Eine preiswürdige Übersetzung?

Einzig die Übersetzungsleistung wird außerhalb der Floskeln von der leicht neben die Norm gesetzten Sprache und der Offenheit für das Neue nicht unbedingt klar. Fast scheint es mir so, als wurde der Preis der Leipziger Buchmesse eher für Ki-Hyangs Lee übersetzerisches Lebenswerk denn genau für diesen Band zugesprochen. Die unbedingte Notwendigkeit, dieses Buch aus translatorischer Sicht auszuzeichnen, konnte ich beim Lesen nicht unbedingt nachvollziehen.

Sicher, alles ist rund übersetzt, es stört wenig, alles wirkt solide und sauber – aber es ist doch in meinen Augen eine recht konventionelle Sprache, die Der Fluch des Hasen kennzeichnet. Macht es das gleich preiswürdig?

Dass mein laienhafter Leseeindruck dahingehend doch etwas zu einfach und unpräzise ist, das zeigt nicht nur die Auszeichnung durch die Fachjury des Preises der Leipziger Buchmesse, auch der auf Übersetzungsarbeit spezialisierte Blog Tralalit seziert die Übersetzungsarbeit Ki-Hyang Lees und die Unterschiede in der deutschen und englischen Übersetzung des Buchs genauer, weshalb ich gerne auf die Analyse von Theresa Rüger verweise.

Fazit

So ist Bora Chungs Buch eines, das mit viel Verve und Freude auch am Monströsen und Ekel in den insgesamt zehn Geschichten zumeist Frauen zeigt, die mit den herrschenden männlich geprägten System hadern. Es sind Menschen, denen schier Unglaubliches passiert und die irgendwie in den Welten überleben müssen, in die sie Bora Chung stürzt. Horror aus Südkorea, in kleinen, aber durchaus heftigen Dosen, dazu noch in einer preisgekrönten Übersetzung, das ist Der Fluch des Hasen, der nun nach der Originalausgabe bei Culturbooks in der Reihe Büchergilde Weltempfänger vorliegt.


  • Bora Chung – Der Fluch des Hasen
  • Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
  • Büchergilde Weltempfänger, Artikelnummer 175215
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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Claire Keegan – Reichlich spät

Wie prägen einen Menschen erlernte Verhaltensmuster? Claire Keegan untersucht es in ihrer kurzen Erzählung Reichlich spät auf eindringliche Art und Weise – und legt auf gerade einmal gut 50 Seiten Misogynie im Charakter eines Menschen und Frauenfeindlichkeit in einer ganzen Gesellschaft offen.


Achte auf deine Gedanken, denn sie formen deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie formen deine Taten. Achte auf deine Taten, denn sie formen deinen Charakter.

Diese Weisheit aus dem Talmud könnte man im Falle von Claire Keegans Erzählung Reichlich spät noch eine Dimension weiter fassen. Denn aus dem Charakter formt sich nicht nur ein Mensch alleine, auch formen die Charaktere die ganze Gesellschaft.

Das, was man hierzulande in Form von Gewaltexzessen gegen Wahlkämpfende und Politiker als Konsequenz einer Verrohung der politischen Sprache und des Diskurses beobachten kann, es ist auch im Text Keegans eine mitschwingende Dimension, die sich allerdings erst spät im Text offenbart.

Charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild eines durchschnittlichen Iren

Zunächst beginnt alles höchst alltäglich und wenig aufsehenerregend. Ein Mann names Cathal sitzt in einem Büro und geht seiner buchhalterischen Tätigkeit nach. Es ist kurz vor drei Uhr an diesem 29. Juli und der Feierabend steht bevor.

Vom Merrion Square im Zentrum Dublins aus nimmt er den Bus, um nach Hause in Richtung Arklow zu fahren. Alles ist eigentlich so unscheinbar wie die übliche Bürokluft aus Hemd, Anzug und Krawatte, die ihn kleidet. Doch nicht nur die Schuhe des Mannes sind ungeputzt – es gibt auch charakterliche Fehlstellen im Erscheinungsbild dieses so durchschnittlichen Iren.

Es war ein ereignisarmer Tag gewesen, fast ein Tag wie jeder andere. Dann kam, nach der Haltestelle Jack White’s Inn, eine junge Frau den Gang entlang und setzte sich auf den freien Platz ihm gegenüber. Er saß da und atmete ihren Duft ein, bis ihm der Gedanke kam, dass es Tausende, wenn nicht Hundertausende von Frauen geben musste, die genauso dufteten.

Claire Keegan – Reichlich spät. S. 17

Von der Bewunderung bis zu Abfälligkeit und Abwertung von Frauen ist es nur ein kleiner Schritt bei Cathal, wie sich nicht nur bei dieser Busfahrt zeigt. Denn die Prägung durch einen misogynen Haushalts, in dem seiner Mutter eigentlich nur eine Rolle als Essensproduzentin und als Opfer von Spott und Erniedrigung durch die Männer der Familie zukam, sie ist eine, die bei Claire Keegan auch für einen Teil der irischen Gesellschaft gilt.

Ein Kennenlernen, die wenig Schmeichelndes offenlegt

Dies wird besonders deutlich in Cathals Gegenpart, seiner Partnerin Sabine, die Cathals Verhalten und seine Äußerungen hinterfragt.

Claire Keegan - Reichlich spät (Cover)

Über ein Kennenlernen bei einer Konferenz, folgende Dates und ein gemeinsames Zusammenziehen bis hin zum wenig romantischen, mit der Frage „Warum heiraten wir nicht?“ halbgar eingeleiteten Hochzeitsantrag, sind sich die beiden immer nähergekommen. Diese Annäherung legt aber auch die wenig schönen Seiten von Cathal offen, bei denen der Geiz noch zu den geringeren Problemen zählt.

Bis zur Pointe des Textes hin schält Claire Keegan in diesem wieder äußerst fein, mit Nuancen und Andeutungen spielenden Text immer stärker den wahren Charakter Cathals heraus. Das gelingt ihr – ganz im Sinne des Talmud-Zitats – indem sie die Worte und Taten dieses vordergründig so durchschnittlichen Büroarbeiters zeigt, die seinen Charakter formten – und nicht nur seinen, wie die Französin Sabine durch ihre Außenperspektive im Gespräch mit einer Bekannten feststellt:

„Sie hat gesagt, dass die Dinge sich jetzt vielleicht ändern, aber dass gut die Hälfte der Männer in deinem Alter einfach nur will, dass wir den Mund halten und euch geben, was ihr verlangt, dass ihr verzogen seid und verachtenswert werdet, wenn die Dinge nicht so laufen, wie ihr es wollt.“

„Ist das so?“

Er wollte es leugnen, aber was sie gesagt hatte, kam einer Wahrheit, die er bis dahin kein einziges Mal in Erwägung gezogen hatte, unangenehm nahe. Ihm ging durch den Sinn, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie in diesem Moment den Mund hielte und ihm gäbe, was er verlangte.

Claire Keegan – Reichlich spät, S. 40f.

So hat dieser Text neben der beobachtenden Bestandsaufnahme von Cathals Charakter auch wieder eine gesellschaftliche Dimension, die hier angedacht und angedeutet ist.

Knappe Erzählung, großer Raum dahinter

Mit nicht einmal fünfzig, äußert großzügig gesetzten Textseiten, öffnet Reichlich spät einen großen Raum, der sich mit den Mechanismen von Zusammenleben und erlernter Misogynie (so auch der Originaltitel der im vergangenen Jahr erstmals veröffentlichten Erzählung) beschäftigt.

Obschon noch einmal knapper als die letzten beiden vom Steidlverlag veröffentlichten und ebenfalls von Hans-Christian Oeser übersetzten Erzählungen Kleine Dinge wie diese und Das dritte Licht zeigt auch dieser Text Keegans erzählerische Kunst. Nicht ohne Grund wurde die Autorin jüngst mit dem 6. Internationalen Siegfried Lenz-Preis ausgezeichnet, dessen Jury Keegan vor allem für die Knappheit und Dichte ihrer Prosa rühmte. Das Ausgesparte sei bei ihr mindestens ebenso von Bedeutung wie das Gesagt, so du Jury in ihrer Urteilsbegründung zur Preisvergabe.

Das lässt sich zweifelsohne auch über Reichlich spät sagen, auch wenn diese Entzauberung einer Beziehung und eines Mannes in Sachen Verknappung und Reduzierung noch einmal ganz neue Höhen erklimmt.


  • Claire Keegan – Reichlich spät
  • Aus dem Irischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-325-5 (Steidl)
  • 64 Seiten. Preis: 16,00 €
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Richard Russo – Von guten Eltern

Zurück in North Bath. In seinem mittlerweile dritten Roman, der in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt angesiedelt ist, lässt Richard Russo Kinder sich mit ihren Eltern auseinandersetzen, treffen ganz unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner von North Bath aufeinander und zerplatzen manch große Erwartungen. Wieder gelingt Russo mit Von guten Eltern eine tolle Sezierung des Kleinstadt-Bürgertums und damit auch der amerikanischen Seele, die diesmal allerdings etwas braucht, bevor sie in Fahrt kommt.


Nachdem der Kölner Dumont-Verlag zuletzt Backlist-Pflege betrieb und mit Mohawk den Debütroman aus dem Schaffen Richard Russos veröffentlichte, gibt es nun mit Von guten Eltern wieder einen neuen Roman zu lesen, den das Thema des Kleinstadtromans mit dem Frühwerk aus dem Jahr 1986 verbindet.

Auch wenn mit knapp vierzig Jahren viel Zeit zwischen den Romanen vergangen ist, so teilen das erste und das neueste Werk über die Zeit hinweg viele Dinge miteinander. So ist es die Form des Kleinstadtromans, die Russo auch hier wieder aufgreift und mit der er zum inzwischen dritten Mal zurückkehrt in das kleine fiktive Städtchen North Bath, das sich weiterhin im Niedergang befindet.

Bekannte Figuren in bekannter Umgebung

Mittlerweile ist das Städtchen sogar soweit heruntergewirtschaftet, dass es vor der Eingemeindung mit ewigen Rivalen, dem ungleich prosperierenderen Schuyler Springs, steht. Allen voran Charice Bond, die Freundin des im zweiten North-Bath-Romans Ein Mann der Tat im Mittelpunkt stehende Polizeichef Douglas Raymer, ist von diesen Neuerungen betroffen, soll sie doch neue Polizeichefin in Schuyler Springs werden.

Richard Russo - Von guten Eltern (Cover)

Sie ist wie auch Douglas Raymer eine der zentralen Figuren, die Russo hier über vier Tage hinweg aufeinander treffen, sich verstehen und missverstehen lässt. Daneben gesellt sich eine weitere Riege typischer Russo-Figuren zu dem Ganzen, etwa der aus dem ersten North Bath-Roman Ein grundzufriedener Mann bekannte Donald „Sully“ Sullivan, der aber schon kurz nach Beginn des Romans stirbt, woraufhin sein Sohn Peter den Platz seines Vaters einnimmt.

Auch ein Dinner als Bühne der großen und kleinen Dramen des Lebens spielt wieder eine Rolle, das hier allerdings nicht auf den Namen Mohawk-Dinner hört. Geführt wird es von Janey, die wiederum mit einem Polizisten liiert ist, über den diesmal auch das Thema der Polizeigewalt in den Roman hineinfindet.

Von Kindern und ihren Eltern

Neben solchen Themen ist es vor allem das Thema der generationalen Konflikte und Verhaltensmuster, das Richard Russo in diesem Roman interessiert. Denn nicht nur Peter Sullivan kämpft darum, sich von dem väterlichen Erbe zu emanzipieren, um dann dem Schicksal doch nicht wirklich entkommen zu können.

Die Diner-Besitzerin Janey findet sich gleich in Sandwich-Position zwischen Sorgen um ihre Tochter Tina und ihre Mutter Ruth. Und selbst, wenn da keine Eltern präsent sind wie im Falle des nun abdankenden Polizeichefs Douglas Raymer, dann sind auch da Prägungen, die dieser dann eben durch die mittlerweile verstorbene Lehrerin Miss Beryl erfährt. Ihrer Erziehung und einem programmatischen Buchgeschenk in Form von Charles DickensGroße Erwartungen wird dem Polizeichef an diesem besonderen Wochenenden nicht entkommen können.

Prägungen

Prägungen, vorgelebte Rollenmuster und vergebliche Versuche der Emanzipierung durchziehen Von guten Eltern. Bis diese Muster dann so wirklich zur Geltung kommen, vergeht hier einige Zeit, die Russo für seine Exposition benötigt. Und statt sich auf eine Figur zu konzentrieren, entscheidet sich Russo diesmal für einen multiperspektivischen Erzählansatz, in dem ein halbes Dutzend an Figuren gleichberechtigt nebeneinandersteht und immer wieder die Handlung der anderen Kapitel unterbricht, ehe zu Interferenzen zwischen den Erzählungen kommt.

Da gerät der zu untersuchende Suizid, der sich in einem heruntergekommenen Hotel zugetragen hat, das auf den schön ironischen Namen Sans Souci hört, fast zur Nebensache.

Alles das sind erzählerische Entscheidungen, die mich nicht so einfach durch die Seiten fliegen ließen, wie es Russo bei seinen anderen Bücher durchaus schon gelungen ist. Natürlich ist auch hier viel Wärme für seine schrulligen Figuren, guter Sinn für Humor und Skurrilität, aber durch die Fülle an Personal fehlt Von guten Eltern manchmal etwas von dieser Leichtigkeit, die Richard Russos Schreiben sonst kennzeichnet.

Fazit

Als Fortführung seines North-Bath-Zyklus ist Von guten Eltern auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände sehr gut zu lesen, gibt es doch innerhalb der vier Tage viel Abwechslung, Chaos und Turbulenzen. Aber über das Niveau der ersten beiden, ganz großartigen Bände, kommt Russos dritte Stippvisite in der fiktiven Kleinstadt nicht hinaus. So haben sich meine großen Erwartungen an das Buch ein Stück weit zerschlagen.

Das ist überhaupt nicht schlimm, sind diese vorher genannten Werke von Richard Russo doch in der oberen Liga amerikanischer Gegenwartsliteratur angesiedelt. Und auch dieser Roman bewegt sich wieder im Spannungsfeld der üblichen Figuren und Kleinstadtdramen – aber wirklich Überraschendes für seine Fans und Afficionados weiß Richard Russo hier leider nicht aufzubieten.


  • Richard Russo – Von guten Eltern
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-6813-1 (Dumont)
  • 576 Seiten. Preis: 28,00 €
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Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe

Aus kleinen Handlungen entsteht das Leben, aus vielen Leben entsteht die Welt, so heißt es in Cho Nam-Joos neuem Roman Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe. Doch was ist, wenn diese Handlungen immer nur negative Auswirkungen haben und man sich auf einer schiefen Ebene wiederzufinden meint, auf der es immer nur nach unten geht? Davon erzählt die südkoreanische Autorin anschaulich und zeigt eine kleine Familie, der das Scheitern in den Genen zu liegen scheint.


Dass unser Viertel zu den ärmsten in Seoul gehörte, konnte man sich an fünf Fingern ausrechnen. Die Quote von Jugendlichen, die von zu Hause ausrissen, war hier am höchsten, die derjenigen Schüler, die auf die Oberstufe gingen, am niedrigsten. Und auch wenn es hierzu keine Statistiken gab, stand doch fest, dass die Vielfalt der Beilagen auf dem abendlichen Essenstisch, die Anzahl der Schuhpaare pro Person und die Häufigkeit, mit der man ein Bad nahm, hier am geringsten waren. Das Viertel S-dong, ein typisches Seouler „Mondviertel“, kleine Häuschen auf steilen Hügeln, „dem Mond nahe“, mein Zuhause.

Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe, S. 25

Sie, die hier so schonungslos über ihr Zuhause spricht, ist Mani, die zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einem dieser Mondviertel in einer Wohnung in erbarmungswürdigem Zustand lebt oder besser gesagt haust.

Eine offene Toilette in Form eines Lochs im Boden wurde zwar einmal durch ein Sitzklo ersetzt, für die allgemeinen Zustände ist aber der vorherige Zustand der Toilette bezeichnend. Fernab der pulsierenden Stadtviertel lebt die kleine Familie in einer zu kleinen Wohnung mit schlechter Isolierung, heruntergekommenem Äußeren und gesperrten Zugangswegen, was im Gesamteindruck eher einem Slum aus dem Mittelalter denn einer wirklichen Wohnung in einer Großstadt Ende der 2000er-Jahre gleicht.

Ein Leben wie in einem Slum

Zwar wird immer wieder eine Aufwertung der Wohnungen in Aussicht gestellt, gar von einem Neubau und einer damit einhergehenden Entschädigung der Bewohner des Wohnviertels ist die Rede – konkret ändert sich aber nichts an den defizitären Zuständen.

Cho Nam-Joo - Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah (Cover)

Doch nicht nur die Wohnung der Familie Manis ist heruntergekommen, auch die restlichen Faktoren ihres Lebens sind alles andere als glücksbegünstigt. Ihre Arbeitsstelle hat sie verloren, ihr Traum einer Karriere als Kunstturnerin nach Vorbild der rumänischen Kunstturnerin Nadia Comaneci hat sich längst zerschlagen, Beziehungen sind auch gescheitert und so wohnt sie nun mit 37 Jahren als eine Art alter Jungfer, so ihre kritische Selbstbetrachtung, noch immer mit ihren Eltern unter dem durchlässigen Dach der Wohnung in S-dong.

Mit der Ehe ihrer Eltern steht es nicht viel besser. Für ihre Tochter hatten sich Manis Großeltern eigentlich einen Sprössling aus gutem Hause vorgestellt, den Absolventen einer höheren Schule – stattdessen wurde es einer der Arbeiter, der die höhere Schule baute. Statt einem Studium an einer Fachhochschule wurde Manis Mutter noch im ersten Semester schwanger und brach den vorgesehenen Bildungsweg ab. Die Karriere ihres Vaters sieht auch nicht besser aus. Er arbeitete in einer Brikettfabrik, gab diese Arbeit aber zugunsten seines Traums von einem eigenen Schnellimbiss auf, der allerdings immer konkreter vom Ruin bedroht wird.

Gescheiterte Lebensentwürfe, gescheiterte Leben?

Die Konsequenz der lebensplanerischen Fehlschläge der südkoreanische Kleinfamilie am Übergang zu gescheiterten Leben zeigt Cho Nam-Joo mit großer Genauigkeit, wofür sie immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden hin und herwechselt. So beschreibt sie die Kämpfe um besseres Wohnen dort im „Mondviertel“, die Wahlkämpfe und Bestechungen der Bauträger, geht aber auch zurück in die Schulzeit Manis und zeigt den Wunsch der Schülerin nach einer Karriere im Kunstturnen, der aber auch durch Mobbing und das mangelnde Geld ihrer Eltern vereitelt wurde.

Betrachtet man Nam-Joos Erzählung hinsichtlich des eingangs benannten Zitats, lässt sich auf Hinblick der Familie konstatieren, dass die meisten Handlungen der Familie gescheitert sind. Auch das Leben der drei, das aus diesen Handlungen erwuchs, kann man – zumindest bis zum Zeitpunkt der Handlung von Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah – nach gewöhnlichen Maßstäben als gescheitert ansehen. Nun bleibt in letzter Konsequenz dann die Frage nach der Welt, die aus den kleineren Schicksalsschlägen und Ausgrenzungen solcher Menschen wie der Familie Manis erwächst.

Diese schwingt in Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah immer mit, in dem sich Cho Nam-Joo als wahrhaft sozialkritische und genau beobachtende Autorin präsentiert, die auch vor Beschreibung sanitärer Ausnahmesituationen und der damit verbunden fäkalen Zustände oder anderer hygienisch heikler Themen nicht zurückschreckt.

Eine sozialkritische Autorin mit genauem Blick

Es ist eine Genauigkeit und Schonungslosigkeit, die sie auch schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Kim Jiyoung, geboren 1982 unter Beweis stellte und den sie hier nach dem Thema der Benachteiligung von Frauen nun auf die gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen in den Slums der „Mondviertel“ erweitert.

Ihre Schilderungen des Lebens dort in den Vierteln und die Erbarmungslosigkeit, mit der das Leben Menschen wie der prototypischen Kleinfamilie mitspielt, lässt nichts Gutes für die Gesellschaft in Südkorea erahnen. Der Mond mag zwar nah sein, wo diese Familien wohnen, die Sonnenseite des Lebens bekommen sie allerdings nicht zu sehen.

Dieses Thema der Sozialkritik und der Anklage herrschender Verhältnisse führt auch in einer klaren Linie von Cho Nam-Joos eigener Kindheit in Armut über ihren Überraschungserfolg Kim Jiyoung, geboren 1982, den vor drei Jahren erschienen Roman Miss Kim weiß Bescheid bis hin zu dem diesem Buch, das zeigt, dass Cho Nam-Joo über diese Jahre nichts von ihrer Sozialkritik eingebüßt hat. Im Gegenteil.

Fazit

Hier erzählt eine engagierte und genau beobachtende Autorin, die ihre Wut über die herrschenden Zustände in wuchtige und zugleich fein ausbalancierte Prosa zu überführen weiß. Schriebe die Autorin auf Deutsch, sie wäre eine geradezu prädestinierte Aspirantin für den Brecht-Preis, die Sozialkritik mit spannenden Plots und großer erzählerischer Genauigkeit verbindet.

Ein spannender Titel, der Einblicke in südkoreanische Milieus und Zustände erlaubt, die man hierzulande so gar nicht auf dem Schirm hat, obgleich natürlich auch die Hoffnung besteht, dass sich nun einige Jahre nach der beschriebenen Handlung auch in den Mondvierteln alles zum Besseren gewendet hat. Liest man Wo ich wohne, da ist der Mond ganz nah, darf man daran aber durchaus so seine Zweifel haben…


  • Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
  • Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks
  • ISBN 978-3-462-00583-7 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
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