Aus kleinen Handlungen entsteht das Leben, aus vielen Leben entsteht die Welt, so heißt es in Cho Nam-Joos neuem Roman Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe. Doch was ist, wenn diese Handlungen immer nur negative Auswirkungen haben und man sich auf einer schiefen Ebene wiederzufinden meint, auf der es immer nur nach unten geht? Davon erzählt die südkoreanische Autorin anschaulich und zeigt eine kleine Familie, der das Scheitern in den Genen zu liegen scheint.
Dass unser Viertel zu den ärmsten in Seoul gehörte, konnte man sich an fünf Fingern ausrechnen. Die Quote von Jugendlichen, die von zu Hause ausrissen, war hier am höchsten, die derjenigen Schüler, die auf die Oberstufe gingen, am niedrigsten. Und auch wenn es hierzu keine Statistiken gab, stand doch fest, dass die Vielfalt der Beilagen auf dem abendlichen Essenstisch, die Anzahl der Schuhpaare pro Person und die Häufigkeit, mit der man ein Bad nahm, hier am geringsten waren. Das Viertel S-dong, ein typisches Seouler „Mondviertel“, kleine Häuschen auf steilen Hügeln, „dem Mond nahe“, mein Zuhause.
Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe, S. 25
Sie, die hier so schonungslos über ihr Zuhause spricht, ist Mani, die zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einem dieser Mondviertel in einer Wohnung in erbarmungswürdigem Zustand lebt oder besser gesagt haust.
Eine offene Toilette in Form eines Lochs im Boden wurde zwar einmal durch ein Sitzklo ersetzt, für die allgemeinen Zustände ist aber der vorherige Zustand der Toilette bezeichnend. Fernab der pulsierenden Stadtviertel lebt die kleine Familie in einer zu kleinen Wohnung mit schlechter Isolierung, heruntergekommenem Äußeren und gesperrten Zugangswegen, was im Gesamteindruck eher einem Slum aus dem Mittelalter denn einer wirklichen Wohnung in einer Großstadt Ende der 2000er-Jahre gleicht.
Ein Leben wie in einem Slum
Zwar wird immer wieder eine Aufwertung der Wohnungen in Aussicht gestellt, gar von einem Neubau und einer damit einhergehenden Entschädigung der Bewohner des Wohnviertels ist die Rede – konkret ändert sich aber nichts an den defizitären Zuständen.
Doch nicht nur die Wohnung der Familie Manis ist heruntergekommen, auch die restlichen Faktoren ihres Lebens sind alles andere als glücksbegünstigt. Ihre Arbeitsstelle hat sie verloren, ihr Traum einer Karriere als Kunstturnerin nach Vorbild der rumänischen Kunstturnerin Nadia Comaneci hat sich längst zerschlagen, Beziehungen sind auch gescheitert und so wohnt sie nun mit 37 Jahren als eine Art alter Jungfer, so ihre kritische Selbstbetrachtung, noch immer mit ihren Eltern unter dem durchlässigen Dach der Wohnung in S-dong.
Mit der Ehe ihrer Eltern steht es nicht viel besser. Für ihre Tochter hatten sich Manis Großeltern eigentlich einen Sprössling aus gutem Hause vorgestellt, den Absolventen einer höheren Schule – stattdessen wurde es einer der Arbeiter, der die höhere Schule baute. Statt einem Studium an einer Fachhochschule wurde Manis Mutter noch im ersten Semester schwanger und brach den vorgesehenen Bildungsweg ab. Die Karriere ihres Vaters sieht auch nicht besser aus. Er arbeitete in einer Brikettfabrik, gab diese Arbeit aber zugunsten seines Traums von einem eigenen Schnellimbiss auf, der allerdings immer konkreter vom Ruin bedroht wird.
Gescheiterte Lebensentwürfe, gescheiterte Leben?
Die Konsequenz der lebensplanerischen Fehlschläge der südkoreanische Kleinfamilie am Übergang zu gescheiterten Leben zeigt Cho Nam-Joo mit großer Genauigkeit, wofür sie immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden hin und herwechselt. So beschreibt sie die Kämpfe um besseres Wohnen dort im „Mondviertel“, die Wahlkämpfe und Bestechungen der Bauträger, geht aber auch zurück in die Schulzeit Manis und zeigt den Wunsch der Schülerin nach einer Karriere im Kunstturnen, der aber auch durch Mobbing und das mangelnde Geld ihrer Eltern vereitelt wurde.
Betrachtet man Nam-Joos Erzählung hinsichtlich des eingangs benannten Zitats, lässt sich auf Hinblick der Familie konstatieren, dass die meisten Handlungen der Familie gescheitert sind. Auch das Leben der drei, das aus diesen Handlungen erwuchs, kann man – zumindest bis zum Zeitpunkt der Handlung von Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah – nach gewöhnlichen Maßstäben als gescheitert ansehen. Nun bleibt in letzter Konsequenz dann die Frage nach der Welt, die aus den kleineren Schicksalsschlägen und Ausgrenzungen solcher Menschen wie der Familie Manis erwächst.
Diese schwingt in Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah immer mit, in dem sich Cho Nam-Joo als wahrhaft sozialkritische und genau beobachtende Autorin präsentiert, die auch vor Beschreibung sanitärer Ausnahmesituationen und der damit verbunden fäkalen Zustände oder anderer hygienisch heikler Themen nicht zurückschreckt.
Eine sozialkritische Autorin mit genauem Blick
Es ist eine Genauigkeit und Schonungslosigkeit, die sie auch schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Kim Jiyoung, geboren 1982 unter Beweis stellte und den sie hier nach dem Thema der Benachteiligung von Frauen nun auf die gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen in den Slums der „Mondviertel“ erweitert.
Ihre Schilderungen des Lebens dort in den Vierteln und die Erbarmungslosigkeit, mit der das Leben Menschen wie der prototypischen Kleinfamilie mitspielt, lässt nichts Gutes für die Gesellschaft in Südkorea erahnen. Der Mond mag zwar nah sein, wo diese Familien wohnen, die Sonnenseite des Lebens bekommen sie allerdings nicht zu sehen.
Dieses Thema der Sozialkritik und der Anklage herrschender Verhältnisse führt auch in einer klaren Linie von Cho Nam-Joos eigener Kindheit in Armut über ihren Überraschungserfolg Kim Jiyoung, geboren 1982, den vor drei Jahren erschienen Roman Miss Kim weiß Bescheid bis hin zu dem diesem Buch, das zeigt, dass Cho Nam-Joo über diese Jahre nichts von ihrer Sozialkritik eingebüßt hat. Im Gegenteil.
Fazit
Hier erzählt eine engagierte und genau beobachtende Autorin, die ihre Wut über die herrschenden Zustände in wuchtige und zugleich fein ausbalancierte Prosa zu überführen weiß. Schriebe die Autorin auf Deutsch, sie wäre eine geradezu prädestinierte Aspirantin für den Brecht-Preis, die Sozialkritik mit spannenden Plots und großer erzählerischer Genauigkeit verbindet.
Ein spannender Titel, der Einblicke in südkoreanische Milieus und Zustände erlaubt, die man hierzulande so gar nicht auf dem Schirm hat, obgleich natürlich auch die Hoffnung besteht, dass sich nun einige Jahre nach der beschriebenen Handlung auch in den Mondvierteln alles zum Besseren gewendet hat. Liest man Wo ich wohne, da ist der Mond ganz nah, darf man daran aber durchaus so seine Zweifel haben…
- Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
- Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks
- ISBN 978-3-462-00583-7 (Kiepenheuer & Witsch)
- 288 Seiten. Preis: 22,00 €
[…] haben die langen Buchtitel Hochkonjunktur. Nach Owen Booth im vergangenen Jahr fordern heuer etwa Cho Nam-Joo , Saša Stanišić oder Slata Roschal die Tippfähigkeiten von Buchhändlern und Bibliothekarinnen […]
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