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Von entsorgten Büchern und Bibliotheken in Gefahr

Seit einigen Wochen stehen Bibliothek vermehrt unter Beschuss. Sie sie in den Fokus der russischen Trollarmeen gerückt – und auch auf Twitter werden munter Ressentiments gepflegt. Zeit für eine Entgegnung.


Dass sich auf Twitter Debatten entspinnen und Diskussionen heißlaufen, das gehört ja zum guten Ton auf der Plattform und sollte nicht verwundern. Die folgende Debatte hingegen hat mich aber wirklich überrascht – und das nicht im positiven Sinne.

So nahm alles mit folgendem Tweet am 29.09.2022 seinen Ausgang:

Makulatur von Büchern aus Bibliotheksbeständen - Twitter Screenshot
Screenshot: Twitter

Der Nutzer zeigte hier Bilder entsorgter Bücher, sie sich neben einem Baucontainer fanden. Mit seinem Tweet rückt er die Entsorgung dieser Bücher in die Nähe der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten und insinuiert eine Parallele von den Gräuel der Nazizeit hin zum Vorgang der Aussonderung von Bibliotheksbestand in unseren Tagen. Ich halte diesen Vergleich für infam und beleidigend, ist er doch ebenso falsch wie uninformiert und kränkt mich durchaus etwas in meiner Berufsehre.

Vermeintlich frevelhafter Umgang mit Büchern

Was auf die geposteten Bilder folgen sollten, waren die plattformtypischen Erregungsmechanismen, die logischerweise einsetzten. Nutzer beklagten den hier begangenen Frevel, da die Bibliothek hier achtlos wichtige und unwiederbringliche Wissensschätze fortwürfe und zeige, was ihr Bücher bedeuten würden – nämlich nichts. Richtigstellungen wie die des Instituts für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldtuni, die erklärten, dass es sich hier um Dubletten handeln würde, die im Zuge der Renovierung von Fachschaftsräumen erst zur Mitnahme angeboten und die Reste dann entsorgt worden seien, kamen gegen das Twitter-Tribunal nicht wirklich an.

Jedes Antiquariat hätte die Bestände mit Kusshand genommen, als Student wäre man froh über diese Bücher gewesen, das Bild der Humboldt-Universität erlitte Schaden und überhaupt: Lieben Bibliothekar*innen Bücher überhaupt, da sie doch so offensichtlich derart barbarisch mit den ihnen anvertrauten Büchern umspringen? Das waren nur ein paar alarmistischen Fragen, denen viele Twitteruser*innen aus dem bibliothekarischen Umfeld entgegentraten.

Und auch ich möchte das tun, ist diese Debatte für mich doch nicht nur ein typischer Sturm im Twitter-Wasserglas, sondern symptomatisch für grassierende Vorurteile Bibliotheken gegenüber. Und noch wichtiger: auch ein Ausdruck für besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklungen in diesen Tagen.

Die Makulatur als daily business

Zunächst muss ich ein vielleicht romantisiertes Bild von Bibliotheken und deren Arbeit geraderücken. Denn ja – es gibt Archivbibliotheken, die sämtliches Schriftgut einer Region oder eines Fachbereichs archivieren und für die Nachwelt aufbewahren. Aber der Großteil von Bibliotheken und Büchereien sind Gebrauchsbibliotheken, deren Bestände für aktuelle Forschung und ein Studium auf dem neuesten Stand der Wissenschaft ausgelegt sind. Makulatur von Beständen gehört daher zum unabdingbaren Tätigkeitsbereich dieser Häuser, deren Regalplatz eh meist zu knapp bemessen ist, als dass man größere überkommene Bestände archivieren und diese neben dem ständigen Neuzugang an Literatur ebenfalls aufzubewahren könnte.

Dabei kann ich beruflich bedingt sowohl von wissenschaftlicher als auch öffentlicher Bibliotheksseite berichten. Der Platz ist endlich, der Zustrom an neuen Medien reißt nicht ab – und das Interesse für ältere Titel ist beschränkt. Das war in der Stadtbücherei so, in der ich arbeitete, und das gilt auch jetzt für meinen aktuellen Arbeitgeber, eine Studienbibliothek.

Vorsicht bei Buchspenden

Immer wenn jemand „gut erhaltene“ und „ganz neue“ Bücher spenden wollte, war Vorsicht geboten, ist dieser Begriffe doch ein sehr subjektiver mit viel Ermessensspielraum, wie sich spätestens bei Eintreffen der Bücher zeigte. Viele Büchereien nehmen aus diesem Grund gar keine Buchspenden mehr an, sind die als nagelneu angepriesenen Medien doch zumeist eher ein Fall fürs Altpapier denn Anlass für eine aufwendige Einarbeitung in den Bibliotheksbestand bei geringer Personaldecke.

Ephraim Kishon, ein Duden von 1993, Simmel, Konsalik, May, Readers Digest aus den 80ern, dazwischen noch ein Medicus von Noah Gordon oder die hundertste Ausgabe eines seelenlosen Flughafenbestellers (Shades of Grey, Follett, Fitzek, Lorentz oder Grisham, tbc). Das, was tausendfach verkauft wurde und heute schon Bücherschränke landauf landab verstopft und weder auf Medimops noch im Antiquariat ein paar Cent bringt, es soll plötzlich von Bibliotheken mit Kusshand angenommen werden.

Das soll nicht undankbar klingen – auch ich weiß um den ideellen Wert mitunter auch älterer Titel, mit denen man viel Lesezeit verbracht hat und mit denen man vielleicht lange den Wohnraum teilte. So leid es mir aber tut, diese Illusion jetzt zerstören: das Gros der Lesenden interessiert all das nicht wirklich. Die Nachfrage geht zu möglichst aktueller Literatur in neuwertigen Ausgaben.

Dementsprechend haben die meisten öffentliche Büchereien schon rigorose Annahmerichtlinien erlassen, sollten sie dies überhaupt noch tun oder nicht schon die Annahme solcher Spenden komplett zu verweigern. Der Arbeitsaufwand in Form des Sichtens von Bücherkisten, des Herausfischen genau jenes relevanten Titels, der Katalogisierung und Einarbeitung, erst steht zumeist in keinem Verhältnis, auch wenn die Spenden lieb gemeint sind.

Wissen erneuert sich – Buchbestände auch

Und auch wissenschaftliche Bibliotheken kämpfen mit Büchermassen und zu wenig Platz, als dass man sich viel Sentimentalitäten erlauben könnte, was die Aufbewahrung des Bestands angeht.

In dem Maße, in dem die Wissenschaft voranschreitet, sich Sachstände überholen und neue Erkenntnisse publiziert werden, muss sich auch der Bestand erneuern. Alte Lehrbücher vor zwanzig Jahren sind da kein wirklicher Ausleihrenner mehr und müssen immer wieder ersetzt werden. Alte Standardwerke gibt es in neuen Auflagen – und vieles, das früher noch aufwendig in teuren mehrbändigen Werken präsentiert wurde (Stichwort Duden) ist heute schon längst im Netz zu finden und über Bibliotheken digital zugänglich.

Das bedeutet natürlich keinesfalls, wie auch im Falle in Berlin nicht geschehen, dass man konzeptlos einfach ein paar Regalmeter Bücher wahllos in die nächste Tonne wirft, um Platz zu schaffen. Vielmehr werden die auszusondernden Bücher hinsichtlich ihrer Aktualität geprüft und auch die restliche Verfügbarkeit der Titel gecheckt, ehe sie makuliert werden. Somit ist auch stets die Möglichkeit gegeben, über Fernleihe ein Buch zu beziehen, das sich vielleicht nicht mehr in der gegenwärtigen Bibliothek befindet.

Das hat nichts mit der Liebe zu Büchern zu tun – es ist schlicht und ergreifend unser Job, durch kluges Management in Form von Erwerbung und Aussondern den Bestand aktuell zu halten und so den Nutzer*innen den aktuellen wissenschaftlichen Sachstand zur Verfügung zu stellen. Das macht Aufwand und mag manchem auch geradezu barbarbarisch erscheinen (insbesondere wenn man etwa Bücher als Grundnahrungsmittel mystifiziert und diese nicht als Ware, sondern als sakrosankte Heiligtümer betrachtet).

Aber man sollte Polemiken unterlassen und gerade Vergleiche mit der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten verbieten sich von selbst.

Die wahre Gefahr droht von außen

Die wirkliche Gefahr droht dieser Tage von außen. Sie sollte man eher in den Blick nehmen, anstatt die wichtige Arbeit von Bibliotheken mit substanzlosen Anwürfen zu schwächen. Gerade Bibliotheken stehen für die Bewahrung von Wissen und leisten wichtige Arbeit für das kulturelle Gedächtnis von Nationen.

Dass ihre Arbeit rund um den uneingeschränkten Zugang zu Wissen und informatorischer Selbstbestimmung etwa in Amerika momentan beschnitten wird und sich das Bibliothekspersonal zunehmenden Angriffen gegenübersieht, dies wäre ein wirklicher Anlass für eine kritische Diskussion über die herrschenden Zustände.

Angriffe auf Bibliotheken aus Russland und in Amerika

Aber auch von russischer Seite sieht es gerade nicht besser aus. So sind die Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden und die Bücherhallen Hamburg ins Visier einer von Russland gesteuerten Fakenews-Kampagne geraten. Es wird behauptet, dass die Bibliotheken russischer und andere Buchspenden sammeln, um diese als Wärmegewinnung zu verbrennen.

Eine groteske Unterstellung, die auch hier wieder Bibliotheken in eine direkte Linie mit der Bücherverbrennung der Nationalsozialisten stellt und die Arbeit von Bibliotheken sabotieren soll, was auf schnellen und auf Erregung ausgelegten Plattformen natürlich besonders gut verfängt.

Hier zeigt sich eindrucksvoll, dass Bibliotheken in ihrem Eintreten für Bildung, kritisches Denken und vollumfängliche Information tatsächlich zu Feindbildern geworden sind, die mit gezielten Kampagnen und neuen Gesetzgebungen angegriffen und mundtot gemacht werden sollen.

Würden viele der Kommentator*innen in den nationalen Debatten ihre Energie auf die Kritik dieser internationale Zustände richten und diese adressieren, so wäre schon viel gewonnen.

Fazit

Schließen möchte ich diese kleine Einlassung meinerseits mit einem Appell:

Bibliotheken sind wichtig für freie Gesellschaften und für freies Denken. Ihre Arbeit sollte geschützt und geachtet werden – und nicht Ziel von anlasslosen Shitstorms sein. Ihr wollt moderne Bibliotheken mit einem modernen Bestand – das wollen wir auch. Dazu gehört eben auch das aktive Aussondern von Beständen und die aktive Arbeit mit den uns anvertrauten Medien. Wir erklären das gerne, helfen euch bei Fragen weiter, recherchieren und schulen auch Medienkompetenz, mithilfe derer sich durchsichtige Kampagnen wie die aktuellen Angriffe gegen unsere Häuser schnell enttarnen lassen.

Nehmt diese Angebote wahr, besucht uns, sprecht mit uns, bleibt kritisch – aber richtet euren Blick auch auf die Zustände, die wirklich Kritik verdienen. Kleiner Tipp: die Aussonderung von überholten und alten Büchern durch uns Bibliotheken ist es nicht.

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Mithu Sanyal – Identitti

Was für ein Buch. Bericht aus dem Inneren eines Shitstorms, Soziologie-Gender-Idenitäts-Proseminar, (über)forderndes Gedankenexperiment, Roman-Twitter-Medien-Schnittstelle und noch so viel mehr. Das alles steckt im literarischen Debüt Identitti von Mithu Sanyal. Ein Buch auf Höhe der Zeit und auf Höhe so ziemlich aller gegenwärtiger Diskurse.


Die Welt ist kompliziert geworden. Nichts darf man mehr sagen, Cancel-Culture, Sprechverbote, Toiletten für das Dritte Geschlecht, die Political Correctness greift um sich. So ruft es von der einen Seite. Die andere Seite entgegnet, Geschlecht sei nur ein Konstrukt, Sprache formt die Realität, deshalb brauche es mehr Rücksichtnahme, Inklusivität, Überprüfung der eigenen Privilegien. Der Diskurs wird energisch geführt, wie immer gilt: so einfach wie es sich oft anhört, ist alles nicht. Und dann kommt jetzt auch noch dieser Roman daher. Ein Buch, das mit großer Lust und viel Verve wie ein Kind in die Wasserpfütze springt und das auf die Debatten zielt, die das gesellschaftliche und universitäre Leben momentan dominieren.

Auslöser des Ganzen ist dabei ein Schwindel. Denn die Professorin Saraswati ist nicht das, was sie scheint. Sie, die sich in publikumswirksamen Streitgesprächen mit Jordan Peterson duelliert und deren Engagement für die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität ein echter Coup war, ist nämlich gar keine Person of Color, kurz PoC. Stattdessen hieß Professorin Sarawasati eigentlich Sara Vera Thielmann, ehe sie sich entschloss, eine neue Identität anzunehmen.

Der Fall, der an den ähnlich gelagerten Fall von Rachel Dolezal in den USA erinnert, ruft einen Shitstorm hervor. Wie kann es eine weiße, privilegierte Frau wagen, sich die Identität einer Person of Color aneignen? Wie kann sie auf Kosten marginalisierter Gesellschaftsgruppen ihre eigene Karriere aufbauen und sich als Schwarze produzieren? Und überhaupt, warum spielte sie jahrelang den Menschen und ihren Student*innen eine Rolle vor, die sie qua Geburt nicht besitzt?

Im Auge des Shitstorms

Diese und andere Fragen treiben die Öffentlichkeit um. Schnell greift die Empörung um sich. Ein Shitstorm nimmt seinen Lauf. Nicht nur an der Uni wird diskutiert und gestritten, auch im digitalen Raum findet der Fall viel Echo. Auf Twitter streiten sich die Wortführer, vom Spiegel bis zur taz wollen alle ein Interview oder eine Story ergattern. Und wenn schon Saraswati nicht zur Verfügung steht, dann versuchen die Medien und sozialen Netzwerken über Nivedita einen Zugang zur Professorin zu finden.

Mithu Sanyal - Identitti (Cover)

Denn Nivedita studiert bei Saraswati und vergöttert diese. In ihrem Blog „Identitti“ schreibt sie über ihr Leben, Identitätsfragen und ihre Bewunderung für Saraswati. In Unkenntnis der folgenden Enthüllungen hat sie dem Deutschlandfunk ein Interview gegeben, in dem sie den Kritiker*innen Saraswatis vorhielt, sie wissen nichts, was Weißsein für Saraswati bedeutet.

Und so steht Nivedita als Ich-Erzählerin nun inmitten des Shitstorms, der sich immer bedrohlicher auflädt. Die Uni will von Saraswati eine Erklärung, die AfD hetzt und auch im linken (digitalen) Milieu weiß man nicht so richtig, Antworten auf die Causa Saraswati zu finden.

Und tatäschlich sind die Fragen und Antworten im Falle der täuschenden Professorin alles andere als leicht. Das müssen Nivedita und auch wir als Leser*innen schon bald erfahren. Die junge Studentin konfrontiert Saraswati in ihrer Düsseldorfer Wohnung mit den Vorwürfen. In der Folge entspinnt sich ein Gedanken- und Thesenstreit zwischen den beiden Figuren.

Was bedeutet das überhaupt, race? Gibt es so etwas wie Rassen überhaupt, wer darf bestimmen, wozu man sich zugehörig fühlt? Wer definiert die Grenzen von Weiß- und Schwarzsein, wie wirkt sich unser koloniales Erbe auf unser Denken aus?

Ein Füllhorn an Ideen und Theorien

Manchmal wirkt Identitti, als wäre man gerade noch draußen vor dem Club Rauchen gewesen und hätte danach seinen Kopf wieder durch die Eingangstür ins Innere gesteckt. So blinkend, so lärmend, so schweißgetränkt und so ohrenbetäubend laut ist auch dieses Buch – im positiven Sinne.

Hier fliegen die Gedanken hin und her. Saraswati ist eine Professorin, gegen die man in einer Debatte schlechte Karten hätte. Immer hat sie eine Antwort, weiß ihren Kopf aus einer argumentativen Schlinge zu ziehen und überfordert mit ihren Gedanken und Thesen das ein ums andere Mal. Mithu Sanyals Herkunft als Sachbuchautorin und schnelle Denkerin kann und will Identitti dabei nicht verhehlen. Sieben Seiten Literaturliste mit Inspirationen und Zitaten ergänzen den Band (gefolgt vom Hinweis „und viele, viele mehr“). Sie gießt ein ganzes Füllhorn an Themen und Ideen aus.

Mithu Sanyal bespielt in ihrem Romandebüt den Dreiklang der aktuelle so heiß diskutierten Themen race, class und gender. Sie erzählt von Bewunderung, Liebeskummer und davon, warum man in außerafroamerikanischem Bereich nicht von Soul Food sprechen sollte.

Sie plädiert für Ambivalenz in Fragen der Identität und des Selbstverständnisses und führt in die Themenkomplexe der Dekolonialisierung, Identitätspolitik und Postkolonialismus ein.

Der Ton, in dem sie dies tut, ist durchaus auch anstrengend, etwa wenn Nivedita mit ihrer aus Birmingham stammenden Cousine Priti in deutsch-englischem Kauderwelch konversiert. Auch sind die Zwiegspräche und Auftritte der Göttin Kali etwas gewöhnungsbedürftig.

Oftmals ähnelt das Buch in den Dialogen eher einer akademischen Denkschrift oder Erörterung denn einem nach vorne erzählenden Roman. Auch ist das Vokabular in seiner Begriffsfülle von BiPoC bis hin zu BAME nicht immer leicht zu lesen, wenngleich Sanyal auch klar macht, weshalb so eine präzise Benennung not tut.

Ein Erzähl- und Denkabenteuer

Wer sich auf das Erzähl- und Denkabenteuer namens Identitti einlässt, bekommt einen Roman, der den eigenen Blick auf die Welt hinterfragt (und zumindest in meinem Falle damit auch Erfolg hatte). Ähnlich wie Zinzi Clemmons interessiert sich Mithu Sanyal auch für das Dazwischen, das Ambivalente und die Übergänge. Ihr Buch steckt voller Anregungen und ist durch seine Einbindung von gespendeten Tweets, Gastauftritten und Anküpfungspunkte an Realien wie den Fall Rachel Dolezal sehr aktuell.

Schön ist auch, dass Mithu Sanyal für ihr erzählerisches Debüt solche Aufmerksamkeit aus den Medien und der Literaturblase zuteil wird. Schließlich weist auch Saraswati im Buch selbst auf den Umstand hin. Der erste Roman eines Mixed-Race-Autors, in die eigenen Erfahrungen thematisiert wurden, datiert gerade einmal zurück ins Jahr 1990. Der Titel damals: Der Buddha aus der Vorstadt von Hanif Kureishi. Dass diese Erzählperspektiven zu lange ausgeblendet und marginalisiert wurden, wirft kein gutes Licht auf den Literaturbetrieb. Umso wichtiger nun, dass sich der Literaturmarkt für dieses Erzählen öffnet. Spannender und wichtiger als noch ein Walser oder Mosebach ist das auf alle Fälle!

Weitere Meinungen zum Roman gibt es unter anderem bei Letteratura und bei Seitenhinweis.


  • Mithu Sanyal – Identitti
  • ISBN 978-3-446-26921-7 (Hanser)
  • 430 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sh*t oder große Show?

Richard Russo – Sh*tshow

Richard Russo ist einer der großten Analytiker der amerikanischen Seele. Seine Romane sind immer zugleich Vermessungen Amerikas und dessen Befindlichkeiten. Mithilfe seiner Durchschnitts-Protagonisten gelingt ihm ein genauer Blick auf Milieus und deren Themen. Nun erscheint nur wenigen Monate nach seinem Roman Jenseits der Erwartungen gleich noch ein Buch. Es trägt den schönen Titel Sh*tshow und ist der Gattung Kurzgeschichte zuzuschlagen. Auf knapp 70 großzügig gesetzten Seiten (übersetzt von Monika Köpfer) erzählt Russo darin von einem Akademikerpärchen, bei dem nicht nur der häusliche Frieden in Schieflage gerät. Es bleibt die Frage: Sh*t oder große Show?

Enttäuschte Akademiker*innen und ein Shitstorm

Alles beginnt mit einem Abendessen. Drei Paare befreundeter Akademiker*innen wollen sich nach dem Wahlsiegs des „orangefarbenen“ Präsidenten Donald Trumps zum geselligen Austausch treffen.

Da wir, noch immer fassungslos, das Bedürfnis nach tröstender Gesellschaft hatten, luden Ellie und ich am Morgen nach den Wahlen die Schuulmans und die Millers zum Abendessen ein.

Russo, Richard: Sh*tshow, S. 7

Doch bei aller Verbundenheit müssen die drei Paare feststellen, dass sie sich über die Jahre doch etwas auseinandergelebt haben. Man versteht sich noch, die Sympathien für die vermeintlich gute und anständige Seite ist aber nicht mehr bei allen Freund*innen ungeteilt da. Am selben Abend macht dann Ich-Erzähler David, der uns die kurze Geschichte erzählt, eine äußerst unappetitliche Entdeckung. Im hauseigenen Pool schwimmen menschliche Ausscheidungen. Und bei der einen Attacke bleibt es nicht. Aus unerfindlichen Gründen finden sich David und seine Frau Ellie im Zentrum eines wirklichen Shitstorms wieder, der sich nicht nur auf ihren Pool beschränkt. Ihr Privatleben und die Balance zwischen ihnen beiden gerät zunehmend in Schieflage.

Auch Richard Russo schreibt sich den Frust von der Seele

Es ist eine hochinteressante Entwicklung, die sich auf dem Buchmarkt seit einiger Zeit beobachten lässt. Es scheint, als hätten die zumeist männlichen Autoren meinen vor einiger Zeit hier publizierten Aufruf, mehr Politik zu wagen, zu Herzen genommen. So schreiben sie sich ihren Frust über gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends zumeist in satirischer Form von der Seele. Ian McEwan tat dies zuletzt betreffend den Brexit (und scheiterte auf ganzer Linie), Howard Jacobson nahm sich in Form einer Satire Donald Trump zur Brust. Auch in Richard Russo muss es gegärt haben, weshalb er 2019 diesen Text publizierte.

Richard Russo - Sh*tshow (Cover)

Allerdings scheitert auch Russo an der monströsen Realität und an einem Präsidenten, der Politik konsequent in eine Art TV-Show der Absurditäten überführt hat. Was angesichts der Laufzeit der knapp 70 Seiten zu befürchten war, bewahrheitet sich im Lauf der Geschichte. Russo schafft es in Sh*tshow nicht, einen neuen Blick auf den Komplex Donald Trump und die amerikanische Gesellschaft anzubieten. Die (von mir) erhoffte Analyse der Gesellschaft bleibt aus.

Dass Trump auch aus akademischen Milieus Unterstützung erfuhr oder dass Hillary Clinton eher als kleineres Problem denn wirkliche demokratische Wunschkandidatin angesehen wurde, das sind doch inzwischen eher Gemeinplätze. Auch Russos Stärke der Auslotung von Milieus und Gesellschaftsschichten greift hier nicht wirklich. Seinen Charakteren fehlt die Plastizität, die seine Roman sonst so besonders macht. Das verwundert nicht, umfassen seine Bücher doch ansonsten auch schon gerne einmal deutlich über 700 Seiten. Ein bisschen enttäuscht hat es mich aber dann doch. Auch die Auflösung des Geheimnisses hinter dem Shitstorm bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück.

Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück

Richard Russo hat es sicher gut gemeint mit seiner Kurzgeschichte. Hier wird aber lediglich eine etwas banale Story, die ansonsten in einem Kurzgeschichtenband erschienen wäre, auch durch das Marketing mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie nicht hat. Es wäre spannend zu lesen gewesen, was etwa Yasmina Reza oder Jonathan Coe aus dieser Ausgangslage gemacht hätten. Diese Sh*tshow bleibt hinter den Erwartungen zurück. Und so liegt die Antwort auf die eingangs gestellte Frage einmal mehr dazwischen: Kein Shit, aber leider auch keine große Show.


  • Richard Russo – Sh*tshow
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8144-4 (Dumont)
  • 80 Seiten, 10,00 €
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