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Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras

900 Seiten pralles Leben in Südindien. Über siebzig Jahre hinweg zeichnet der Autor Abraham Verghese in seinem Roman Die Träumenden von Madras Schicksale, gesellschaftliche Entwicklungen und jede Menge Medizingeschichte nach. So liefert der Roman Einsichten in eine Region, die im westlich geprägten Literaturmarkt kaum präsent ist.


Travancore, eine Region in an der Ostküste im Süden Indiens. Hier spielt der Großteil von Abraham Verghese voluminösen Romans Die Träumenden von Madras, der im Jahr 1900 einsetzt. Es ist das Jahr, in dem die Frau verheiratet werden soll, die später als Big Ammachi die Geschicke des Dorfzentrums Parambil leiten soll.

Doch bis es soweit ist, wird noch viel Zeit vergehen – und droht zunächst sogar die Hochzeit zu scheitern. Denn die von Heiratsvermittlern und dem Onkel des jungen Mädchens vorangetriebene Verheiratung steht auf der Kippe, als der künftige Ehemann vor dem Altar flieht, als er des 12-jährigen Mädchens ansichtig wird. Er, der schon einmal verheiratet war und bereits ein Kleinkind zuhause hat, soll nun ein weiteres Kind ehelichen? Diese Hochzeit wird durch viel Zureden trotzdem vollzogen – und soll sich entgegen aller Erwartungen tatsächlich als Glücksfall erweisen.

Denn nach einer langen Zeit der Eingewöhnung und des Kennenlernens finden Big Ammachi und ihr Ehemann zu einem gemeinsam Umgang dort in jenem Haus, das das Zentrum von Parambil bildet. Über 200 Hektar Wald und Anbaufläche umfasst das Gebiet, das von vielen Flüssen durchzogen ist. Fast überall kann man den Spaten in den laterithaltigen Boden stechen , um rostrotes, an Blut erinnerndes Wasser aus dem Boden quellen zu sehen.

Im Süden Indiens

Es ist eine reichhaltige Landschaft, in die Big Ammachi nun eintaucht und in der sie Stück für Stück Wurzeln schlägt.

Das Zuhause der jungen Braut und ihres verwitweten Bräutigams liegt in Tracanvore an der Südspitze Indiens, eingezwängt zwischen dem Arabischen Meer und den Westhats – dem langen Gebirgszug, der parallel zur Küste verläuft. Das Land ist geprägt vom Wasser, und seine Bewohner sind durch eine gemeinsame Sprache vereint: Malayalam. Wo das Meer auf weißen Strand trifft, schiebt es Finger ins Land, um sich mit den Flüssen zu vereinen, die sich die grün bedachten Hänge der Ghats herabwinden. Es ist die Phantasiewelt eines Kindes aus Bächen und Kanälen, ein Gitterwerk aus Seen und Lagunen, ein Labyrinth aus Altwassern und flaschengrünen Lotusteichen: ein riesiger Kreislauf, denn wie ihr Vater immer sagte, alles Wasser ist verbunden.

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 22

Doch das Wasser, es ist nicht nur Paradies, sondern bedeutet vor allem für die männlichen Nachkommen der Familie ihres Ehemanns Gefahr. Immer wieder finden Männern den Tod im Wasser und haben deshalb begonnen, dieses zu meiden.

Familien- und Medizingeschichte

Abraham Verghese - Die Träumenden von Madras (Cover)

Wieso dem so ist, das ist eine der großen erzählerischen Linien, die durch diesen mäandernden Fluss von Buch führt. Denn neben dem Leben und dem Vergehen der Zeit in Parambil macht vor allem die Medizingeschichte einen großen Teil dieses Romans aus.

Wie schon in seinem Bestseller Rückkehr nach Missing ist lässt sich auch hier der medizinische Hintergrund Abraham Verghese nicht leugnen, arbeitet er doch als Arzt und lehrt als Professor am Stanford University Medical School. Wie schon in seinem 2008 erschienen Vorgängerroman stehen auch hier Ärzte und Chirurgen eine große, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.

So gibt es den schottischen Arzt Digby Kilgour, der sich zunächst im Madras der 30er Jahre seine medizinischen Sporen verdient und später in einem Leprosarium seine Berufung finden wird. Sein Schicksal verflicht sich mit der Familie von Big Ammachi, darüber hinaus bekommen es fast alles Figuren im Lauf des Romans mit schwierigen Entbindungen oder anderen medizinischen Notfällen zu tun.

Abraham Verghese trifft Gabriel Garcia Marquez trifft Noah Gordon

So liest sich Die Träumenden von Madras an vielen Stellen, als hätte Abraham Verghese Gabriel Garcia Marquez‚ Dorf Macondo nach Kerala verpflanzt und dazu noch Noah Gordon eingeladen, um die Schilderung von Medizingeschichte einfließen zu lassen.

Das Ganze verbindet sich so zu einem üppigen Roman, der mit vielen Schicksalen und Tiefschlägen, aber auch erhellenden Momenten dort im Süden Indiens aufwarten kann. Und auch wenn das Kastensystem, die Misogynie oder das Ende der britischen Kolonialherrschaft an einigen Stellen aufblitzen, hätte Die Träumenden von Madras tatsächlich in meinen Augen noch etwas mehr Zeitgeschichte und Kolorit vertragen.

Mahatma Ghandi etwa spielt fast überhaupt keine Rolle und grüßt nur einmal aus der Ferne. Stattdessen konzentriert sich Verghese eher auf das Schicksal des Ammachi-Clans mitsamt sämtlichen Volten und medizinischen Ereignissen. Erst ganz am Ende der fast 900 Seiten Saga aus der indischen Provinz rundet sich dann alles und erklärt auch die Konstruktion dieses Romans, die schlussendlich noch einmal für viel Wucht und familiäres Drama sorgt.

Fazit

Die Träumenden von Madras ist ein Roman, der eine Familie über verschiedene Generationen nachverfolgt, der zeigt, wie sich innerhalb von knapp achtzig Jahren die Gesellschaft und das Leben in Indien wandelten, welche Probleme das Land umtreiben und wie sehr auch die Medizin im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazugelernt hat.

„Das ist Literatur! Literatur ist die große Lüge, die die Wahrheit darüber spricht, wie die Welt lebt!“

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 295

Abraham Verghese erweist sich nach diesen Worten, die eine der Figuren im Gespräch über Moby Dick und die Frage nach dessen Fiktionalität ausruft, als großer Lügner. Mit seiner fiktiven Geschichte aus dem Süden Indiens erzählt er uns viel Wahrheit über ein Land, das trotz seiner immensen Größe und seines wachsenden Einflusses uns noch immer fern ist. Auch wenn sein Epos noch etwas mehr geschichtliche Wahrheit und an der ein oder anderen Stelle etwas mehr Subtext vertragen hätte, ist Die Träumenden von Madras doch auch große Unterhaltung, die die Höhen und Tiefen des Familienclans von Big Ammachi mit Sinn für die Brüche im Leben der Figuren nachzeichnet.


  • Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras
  • Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
  • 978-3-458-64393-7 (Insel-Verlag)
  • 894 Seiten. Preis: 28,00 €
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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €
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T. C. Boyle – Blue Skies

Erst gibt es Häppchen und Hochzeit, dann kommt die Apokalypse. T.C. Boyle exerziert in Blue Skies die Auswirkungen der Klimakatastrophe im Privaten durch – und erzählt so auch von der großen gesellschaftlichen Ignoranz, mit der wir diesem Thema nur zu gerne begegnen.


Es ist ein Gefühl, das der Filmemacher Adam McKay im vergangenen Jahr mit seinem vielbesprochenen Werk Don’t look up adressierte. Da nähert sich ein Asteroid mit zerstörerischer Kraft unaufhaltsam der Erde – doch die Menschen ignorieren die Warnungen der Wissenschaftler, flüchten sich in Ignoranz, lassen sich von der Politik in trügerische Sicherheit wiegen und stecken den Kopf in den Sand. McKays Werk wurde vielfach als Allegorie auf den Klimawandel gelesen – und unseren Umgang mit der Katastrophe, in die wir sehenden Auges steuern und doch unser Verhalten nicht ändern wollen.

Auch der amerikanische Bestsellerautor T.C. Boyle widmet sich in seinem neuesten Roman Blue Skies diesem Thema, obschon der Beginn seines Roman noch nicht wirklich in diese Richtung weist.

Influencerinnen und Insektenmehl

T. C. Boyle - Blue Skies (Cover)

Da ist die junge Cat, die sich aus Langeweile und einem spontanen Impuls heraus eine Schlange zulegt. 300 Dollar bezahlt sie für ein Python, dazu noch ein Terrarium und „Flauschies“ genannte tiefgefrorene Mäuse als Nahrung. Wirkliche Erfahrung hat sie mit Tieren bislang noch nicht gesammelt und doch erscheint ihr die Schlange als adäquater Gefährte, die sie auch ihrem Karriereziel als Influencerin näherbringen könnte. Zusammen mit ihrem Freund Todd lebt sie in Florida. Dieser scheint sich mehr für sein Auto als für Cat zu interessieren und ist als Markenbotschafter eines Rumherstellers immer unterwegs, um Partys zu schmeißen und für einen florierenden Absatz der Marke zu sorgen.

Zwei weitere Figuren stellt T. C. Boyle neben diesen recht oberflächlichen Millenials in den Mittelpunkt von Blue Skies, deren familiäre Verknüpfungen erst langsam zutage treten. Da ist Cooper, der als Entomologe arbeitet und sich der Erforschung der Insekten und der klimawandelbedingten Veränderungen untersucht. Er hat seine Mutter Ottilie für eine nachhaltige Lebensweise sensibilisiert – und so hat sich diese nun ein Grillenfarm bestellt und versucht im Stil einer aufgeklärten und naturbewussten Arztgattin, die sie tatsächlich ist, ihr gesamtes Umfeld missionarisch vom Verzehr von Insekten zu überzeugen. Während sowohl Mutter als auch Sohn in Kalifornien zahlreiche Rückschläge im Kampf für Naturschutz und den Arterhalt hinnehmen müssen, beharrt die Tochter Cat stoisch auf einem Verbleib im Hochrisikogebiet Florida.

Hochzeit und Klimakatastrophe

Als sich alle Familienmitglieder nun zur Hochzeit von Cat und Todd im elterlichen Haus in Kalifornien versammeln, wird die vorher nur punktuell angedeutete Klimakatastrophe dann aber in ihrer ganzen Wucht erfahrbar. Denn der eigentlich als Traumhochzeit geplante Termin entwickelt sich schnell zum veritablen Desaster.

Sie standen dicht gedrängt im Flur, in der Küche und in den drei Zimmern im Erdgeschoss, umklammerten Sektflöten und Cocktailgläser, fragten sich, wo das Essen war, und versuchten, sich einzureden, dass sie eine großartige Hochzeit erlebten. Die Leute saßen auf Sofa- und Sessellehnen und auf der Treppe in den ersten Stock, umarmten ihre Knie oder hatten die Beine sittsam untergeschlagen. Der Wind war allgegenwärtig und fegte zischend und brausend wie eine einfahrende U-Bahn über das Haus hinweg.

Ein Hagel aus kleinen Partikeln prasselte gegen die Fenster, und hin und wieder schlug etwas Schweres mit einem dumpfen Poltern auf das Dach. Cat war aufgelöst, verzweifelt, drei viertel betrunken und der zerflossene Mittelpunkt des Ganzen. Sie sagte immer wieder, es sei wie ein Hurrikan, dabei hatte sie, soviel er wusste, noch nie einen erlebt – noch nicht jedenfalls. Die Fenster erbebten. Alle schwitzten.

T. C. Boyle – Blue Skies, S. 143

Der Räucherlachs fliegt von den knusprigen Kartoffelküchlein, die Caterin weigert sich „in einem Windkanal“ Essen zu servieren und dann drohen auch noch Buschfeuer das elterliche Haus zu vernichten. Es bleibt nicht die einzige Katastrophe, die T. C. Boyle in Blue Skies inszeniert.

Grün ist die Hoffnung nicht mehr

Später wird Ottilie der kurz vor ihrer Niederkunft stehenden Cat zur Seite eilen, wobei dieser Kampf gegen Zeit und Naturkräfte fast dem in Friedrich Schillers Ballade Die Bürgschaft gleicht. Überschwemmung, Unwetter mit Flugzeugturbulenzen, Insekten die zur lebensbedrohlichen Gefahr werden – die Gefahren für alle Beteiligten nehmen immer mehr zu. Und doch ändern die Figuren ihr Verhalten nicht. Das Wegschauen und ein wenig grünes Bewusstsein, damit wird man auch durch diese Krise kommen, so das Gefühl, das über Blue Skies schwebt und mit dem die reihum oberflächlichen Figuren der Katastrophe eben auch in aller Oberflächlichkeit begegnen, denn Klima wandelt sich halt irgendwie immer, so scheint die schulterzuckende Antwort der Figuren auf die Katastrophen zwischen den Zeilen auf.

Damit trifft T. C. Boyle sehr gut einen aktuellen Zeitgeist, der trotz klarer Datenlage und spürbarer Auswirkungen des Klimawandels auch hierzulande lieber auf Bequemlichkeit und ein Weiter so statt auf notwendiges und schnelles Umsteuern setzt. Im Gewand eines Familienromans macht Boyle die bevorstehenden Veränderungen spürbar – und doch setzen ihm seine Figuren nichts entgegen. Allen voran die Möchtegern-Influencerin Cat und ihr „Rumtreiber“ Todd sind Figuren, die man am liebsten einmal kräftig schütteln möchte und die man in dieser charakterlichen Anlage von anderen Werken T. C. Boyles wie etwa Grün ist die Hoffnung kennt.

Nur gibt es knapp 40 Jahre seit diesem Werk Boyles nun eben keine große Hoffnung mehr, weder fürs Grün noch für Grüne. Denn ein bisschen Grillenmehl oder ein Bienenvolk im eigenen Garten werden die Katastrophe so nicht aufhalten – auch wenn es sich gut anfühlt, das vermeintlich Richtige zu tun. Ohne mehr Radikalität wird das alles nichts. Das zeigt T. C. Boyle in Blue Skies sehr deutlich, besonders da er durch die Form des Familienromans seine (ökologische) Botschaft besonders deutlich hervortreten lässt, in dem er durch das Private zum gesellschaftlichen großen Ganzen vorstößt. Climate Fiction ohne viel Hoffnung oder: Apokalypse ahoi!


  • T. C. Boyle – Blue Skies
  • Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
  • ISBN 978-3-446-27689-5 (Hanser)
  • 400 Seiten. Preis: 28,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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