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Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält

Vom Schlachthaus des Ersten Weltkrieges bis hinein in die Wirren des Japanisch-Chinesischen Kriegs, von Sarajevo bis nach Manila. In seinem Roman Die Welt und alles, was sie enthält wagt Aleksandar Hemon den ganz großen Wurf und schickt einen jüdischen Apotheker auf eine weltumspannende Schmerzensreise. Erträglich wird all das erfahrene Leid nur durch die Liebe zu einem Mann.


Es ist nur ein kleiner Moment, der den Apotheker Rafael Pinto hineinkatapultiert in einen der entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts. Eigentlich müsst er in der familieneigenen Apotheke in Sarajevo hinter dem Tresen stehen, Pulver mischen und Kunden beraten. Doch wir schreiben den 28. Juni 1914 und die ganze Stadt ist auf den Beinen und vibriert vor Erregung. Der Grund dafür ist der bevorstehende Besuch des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand.

Rafael Pinto interessiert das allerdings überhaupt nicht. Vielmehr ist es ein Rittmeister, der sein Interesse auf sich zieht. Der im militärischen Dienst der Monarchie stehende Mann sucht den sephardischen Juden Pinto in dessen Apotheke auf, um von ihm ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen zu erhalten.

Doch es ist nicht nur ein Mittel gegen die Kopfschmerzen, das der Rittmeister vom Apotheker erhält. Es kommt zu einem Kuss zwischen Pinto und dem Rittmeister. Ein kleiner Moment, der sich fast anfühlt, als würde die Welt kurz stillstehen.

Ein Kuss, ein Schuss und der Krieg

Ganz betört vom gerade Erlebten folgt Pinto dem Rittmeister hinaus auf die Straßen der bosnischen Hauptstadt, als sich die gerade noch stillzustehende Welt geradezu explosiv beschleunigt. Denn Pinto wird unmittelbar Zeuge des Attentats auf den zu Besuch weilenden Thronfolger, das zugleich den Beginn des Ersten Weltkriegs markiert. Vom Kuss zum verheerenden Schuss in nur wenigen Momenten – und kurz darauf hinein in das, was später als Großer Krieg und noch etwas später als Erster Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Schnell geht es in Hemons Romans zur Sache – ein Merkmal, das auch die weiteren Lebensstationen Pintos kennzeichnen wird.

Aleksandar Hemon - Die Welt und alles, was sie enthält (Cover)

Als Soldat findet Pinto sich auf den Schlachtfeldern des Krieges wieder, als er in Galizien als eingezogener Soldat Dienst tut. Die Schrecken, die inkommensurable Gewalt, die Hoffnungslosigkeit in den Schützengräben erfährt er am eigenen Leib. Doch wo die Gefahr ist, da wächst auch das Rettende. Im Falle von Pinto hört jenes Rettende auf den Namen Osman Karišik . Er ein Muslim, Rafael Pinto ein sephardischer Jude, und zusammen ein Liebespaar, das in der gegenseitigen Liebe ein Mittel gegen la gran eskuridad – die große Leere – findet.

Zusammen überleben sie auf den Schlachtfeldern und schlagen sich von Galizien und der Bukowina bis nach Taschkent durch. Es ist nur eine Station auf einer wahren Schmerzensreise, die Pinto und Karišik immer weiter weg führt von Zuhause. Sie begegnen Bolschewiken, blutrünstige Banden, trennen sich in den Bergen Turkestans, Pinto schlägt sich schließlich durch die Wüste Taklamakan bis nach Schanghai durch, wo er aber, wie immer wieder auf seiner Reise, mit Krieg und Gewalt konfrontiert ist.

Die Schmerzen des 20. Jahrhunderts

Aleksandar Hemon erzählt vom allgegenwärtigen Leid des 20. Jahrhunderts, das Pinto bei so gut wie allen Lebensstationen, egal wo auf dem Erdball begegnet. Zwar kommt es immer wieder zu Umbrüchen, folgen neue Schauplätze oder neue Figuren, gleich aber bleiben stets die zugrundeliegenden Themen der Flucht, Vertreibung und des Gefühls, nie wirklich anzukommen.

Themen, die nur diesen Roman bestimmen, sondern auch in der Biografie ihres Autors eingeschrieben sind. So gab dieser nach der Belagerung Sarajevos 1992 ähnlich wie sein Held Rafael Pinto gezwungenermaßen die Heimat auf, um fortan in den USA zu leben und auf Englisch zu schreiben.

Diese Erfahrung des fremdbestimmt Getriebenen merkt man Die Welt und alles, was sie enthält unmittelbar an. Genauso ist sein Roman aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die alles erträgt, alles hoffet und die alles duldet, selbst als Osman Pinto verlassen muss und ihm die Verantwortung für sein Kind überträgt.

Schmerzen und Liebe, es ist nur eines von vielen Komplementärbeziehungen in diesem Roman, der mit seiner queeren Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwas an Alice Wills Durch das große Feuer erinnert. Dort wo sich Will allerdings auf den Großen Krieg konzentriert, geht Hemon noch deutlich weiter, indem er die Gewalterfahrungen und Vertreibung seines Helden bis ins Jahr 1949 dehnt und so das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Brutalität eindrücklich schildert.

Fazit

Die Welt und alles, was sie enthält ist die herausfordernde, wirklich globale Reise eines Helden, der über alle Grenzen hinausgeht, der Stürme überlebt und der angetrieben von seiner Liebe zu Osman und zu seinem Kind immer weiter geht. Nicht immer einfach zu lesen, mit vielen fremdsprachigen Wortfetzen, harten Schnitten und Umbrüchen gestaltet bereist dieser Roman eine Vielzahl an Schauplätzen, thematisiert die Gewalt im Chinesisch-Japanischen Krieg 1937 ebenso wie die Entbehrungen während der Durchquerung der Taklamakan-Wüste oder die Verzweiflung in den nassen und kalten Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Mag Hemons Roman auch nicht die ganze Welt enthalten, so steckt doch ein ganzes Stück der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman. Eine herausfordernde Lektüre, gewiss nichts für Nebenbei, aber voller Intensität, Vielsprachigkeit und queerer Liebe (übersetzt von Henning Ahrens).


  • Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-546-10047-2 (Claassen)
  • 400 Seiten. 26,00 €
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Lisa Weeda – Aleksandra

Eine Frau mit Mission unterwegs in Richtung Volksrepublik Lugansk. Doch statt im Schoß der Familie findet sie sich plötzlich wieder in einem ominösen Gebäude voller Erinnerungen, das auf den Namen Palast des verlorenen Donkosaken hört und in dem die ganze wechsel- und leidvolle Geschichte der Ukraine anhand einer Familie offenbar wird. Aleksandra von Lisa Weeda (übersetzt von Birgit Erdmann).


Nein, der Soldat am Checkpoint in Richtung der sogenannten Volksrepublik Lugansk am Übergang von der Ukraine zum von Russland annektierten Gebiet der Krim will die junge Erzählerin im August 2018 partout nicht passieren lassen. Dabei hat sie eine wichtige Fracht und Aufgabe im Gepäck, für die sie den Checkpoint passieren möchte.

Mit ernster Miene hole ich ein längliches Leinentuch aus der Tasche und zeige es dem Soldaten.

„Dieses Tuch ist fast ein Jahrhundert alt. Es hat Tausende Kilometer zurückgelegt. Sie dürfen ihm nicht seine letzte Reise nach Hause verwehren.“

Das weiße Tuch ist mit schwarzen und roten Linien bestickt, die Ränder mit blauen, roten und schwarzen Blumenmustern. Ich deute mit dem Zeigefinger auf das Tuch. „Sie Sie diese Linie hier, über der der Name Kolja steht, die Linie, die 2015 endet? Meine Oma Plemplem hat mich gebeten, das Tuch zu seinem Grab zu bringen, um die Zeit zu flicken. Sonst ist er verloren.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 15

Doch trotz der Erklärung ist der Soldat nicht zu erweichen – und so setzt die Erzählerin Lisa auf die normative Kraft des Faktischen und sprintet einfach kurzerhand durch den Checkpoint und schlägt sich trotz Minenwarnung ins dahinterliegende Getreidefeld, um auf diesem Wege zum Grab ihres Großonkels zu gelangen.

Im Palast des verlorenen Donkosaken

Doch statt eines Weges oder Minen findet sich mitten im Getreidefeld plötzlich die Tür zu einem hohen Turm, den Lisa kurzerhand betritt. Dadurch findet sie sich im sogenannten Palast des verlorenen Donkosaken wieder, wie ihr ihr Urgroßvater Nikolaj erklärt, der sie in diesem rätselhaften Haus willkommen heißt, das auf Lisa wie eine hysterische Geburtstagstorte oder eine schlanke Version des Turmbaus zu Babel wirkt. Sowjetische Kunst mit Lenin-Porträts oder Arbeitern und Bauern an den Wänden – und dazu noch verschiedenste Räume und Zeitebenen, in denen man sich schon einmal verirren kann, wie auch Lisa im Lauf des Romans feststellen muss.

Lisa Weeda - Alesandra (Cover)

Gemeinsam durchwandert sie mit Nikolaj die verschiedenen Räume des Palastes – und damit auch die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Großfamilie, in der sich alle Verwerfungen und Schmerzen des 19. und 20. Jahrhunderts abbilden und wiederspiegeln. Denn ausgehend von Lisa als jüngstem Spross der Großfamilie Krasnov entwirft Lisa Weeda in Aleksandra einen Familienstammbaum, der sich über ganze fünf Generationen erstreckt.

Das Leitmotiv ist dabei das eingangs erwähnte Tuch, das als eine Art gewebtes Familienstammbuch die verschiedenen Linien und Generationen des Krasnovs zusammenführt und von Aleksandra, der Großmutter der Ich-Erzählerin, im Geheimen bestickt wurde. Schwarze und rote Fäden stehen dabei für Glück und Leid, das die Familie in mannigfaltiger Form erfahren musste. Und schwarz und rot ist nicht nur das Tuch, sondern die ganze Ukraine, wie der in den Niederlanden lebenden Ich-Erzählerin vermittelt wurde.

Das Land ist immer schwarz und rot, brachte Baba Mari mir bei. Schwarz steht dabei nicht nur für unsere Erde, es steht auch für den Tod. Unser Landstrich mag zwar launisch sein, aber er ist immerhin unser Land, sagte sie häufig. All unsere Geschichten liegen hier begraben und alle Geschichten sind hier letztendlich zu Hause, auf diesen Feldern. Die Linien auf diesem Tuch sind schöne und schaurige Geschichte, und es kommen immer mehr hinzu. Weißt du, was meine Baba Mari zu mir gesagt hat, Lisa?

Dieses Stück Land kriegt man nicht aus uns heraus, es steckt in unserem Blut.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 101 f.

Leider zu viel Themen und Personen für zu wenig Seiten

Ja, die Erinnerungen stecken im Boden – und auch in jeder Seite des Romans. Und das ist in meinen Augen auch das Kernproblem dieses Romans, der an seiner völligen Überfrachtung laboriert. Denn jede Seite und jeder Raum im Palast des verlorenen Donkosaken ist mit Erinnerungen aufgeladen, die die wechselvolle Geschichte der Ukraine zwischen der Teilannektion durch Russland, die Befreiung aus dem russischen Großreich und die Zeiten der Weltkriege und der der Sowjetunion zeigen sollen.

Lisa Weeda erzählt von der bitteren Armut, der sich die Familie nicht einmal mit dem Verstecken von Getreidesäcken entziehen konnte, sie erzählt vom ebenso absurden wie fanatischen Stalinismus und Leninismus, von grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung (die Erinnerungen an die Massaker in Butscha und anderen Orten wecken), sie schildert die Deportationen während des „Dritten Reichs“, die Revolution, die sich am Maidanplatz entspann, die Zerrissenheit, der sich die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Besetzung ihrer Krim ausgesetzt sahen.

Das und noch viel mehr sind die Themen, die Lisa Weeda auf gerade einmal knapp 290 Seiten in sehr verknappter und verdichteter Form abhandelt und die sie neben der realistischen Schilderung der historischen Begebenheiten noch um eine zweite, magische Ebene in Form des Palastes und der immer wieder auftretenden leuchtender Hirsche, die auch stellenweise als Erzähler agieren, ergänzt.

Dabei wirkt das Ganze an manchen Stellen so, als wenn eine Entscheidung für die Form eines erzählenden Sachbuch die klügere Wahl für die Bearbeitung ihres Stoffs gewesen wäre. Und auch wenn ihr Palast des verlorenen Donkosaken in ihrer Schilderung unermesslich hohe Decken und unendlich viele Räume aufweist, so ist es ebenjener große Raum, der im Handlungsüberschwang dieses Buchs auf der Strecke bleibt.

Vieles, das die niederländisch-ukrainische Autorin und Filmemacherin hier vorbringt, ist in meinen Augen zu gehetzt und schnell aneinandergereiht, als das es wirklich Wirkung entfalten könnte. So bräuchte der „Jahrhundertroman der Ukraine“ (so der Verlag in seiner Werbung) eben mehr Zeit und Raum, um genauer auf Figuren und ihr Erleben eingehen zu können. Aber durch die thematische Überfrachtung und unübersichtliche Personalführung geht der erzählerische Fokus verloren, selbst wenn dem Roman der große Stammbaum vorangestellt ist

Der Familienstammbaum der Krasnovs

Die fünf Generationen und ihr Erleben in Schlaglichtern rasen einfach am Leser vorbei – und werden durch fehlende literarische Gestaltungsmittel auch nicht wirklich unterscheidbar, was insbesondere durch die Namensgleichheit vieler Aleksandras oder Nikolajs dann wirklich zu einem Problem wird (zumindest bei meiner Lektüre).

Fazit

Auch wenn das Ansinnen der Autorin (die, so viel darf man auch aufgrund des Vorworts spekulieren, als relativ deckungsgleich mit der im Buch geschilderten Familie anzusehen sein dürfte) mehr als ehrenwert ist: vielleicht braucht Literatur doch einfach mehr Zeit, als sie sich Lisa Weeda wahrscheinlich unter Eindruck der jüngsten Ereignisse des letzten Jahres gegeben hat. Mehr Raum für die Figuren, weniger Hatz durch die wechselvolle ukrainische Geschichte und mehr Fokus auf weniger Episoden, das wäre hier vielleicht der Schlüssel zum Erfolg gewesen. So bleibt zumindest bei mir der Eindruck eines überfrachteten Familienromans, zu dessen Personal und Erlebnissen ich leider zu keinem Zeitpunkt eine Bindung aufbauen konnte.


Eine weitere spannende Perspektive auf den Roman gibt es auch auf dem Blog Tralalit, der sich insbesondere mit Übersetzungen beschäftigt. So auch hier mit der Übertragung von Aleksandra ins Deutsche durch Birgit Erdmann. Klare Leseempfehlung!


  • Lisa Weeda – Aleksandra
  • Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
  • ISBN 978-3-98568-058-0 (Kanon-Verlag)
  • 290 Seiten. Preis: 25,00 €
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Hans Pleschinski – Wiesenstein

Da liegt es also, dieses Haus namens Wiesenstein: tief im Riesengebirge verborgen, die Schneekoppe in Sichtweite, abgelegen an einem Berghang befindlich. Erker, Türmchen, im Keller sogar ein Schwimmbad – und der Bewohner dieser mondänen Villa im Schlesischen ist kein Geringerer als Gerhart Hauptmann. Jener Gerhart Hauptmann, der 1912 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, Erschaffer von Dramen wie Vor Sonnenaufgang, Die Weber oder Bahnwärter Thiel. Seine letzten Jahre wird er umgeben von seiner Entourage in diesem Häuschen leben, das ihm zum Refugium vor Krieg und Bedrohung wird. Wie er diese Jahre verbringt, das zeigt Hans Pleschinski eindringlich in seinem neuesten Roman, der nach des Dichters Wohnstätte benannt ist.

Schon hochbetagt weilt Gerhart Hauptmann mit seiner Frau Margarete 1945 in einem Sanatorium in Dresden, als das Bombardement der Alliierten die Stadt in Schutt und Asche legt. Unter größten Mühen wird der Dichter mitsamt seiner Frau, Sekretärin und dem fahnenflüchtigen Masseur Metzkow aus der Stadt evakuiert und zurück in sein Haus in Agnetendorf gebracht. Fortan harrt ganz Wiesenstein der Dinge, die da kommen. Könnte man anfänglich Hauptmanns Haus für das Paradebeispiel eines weltfernen Gelehrten in seinem Elfenbeinturm halten (der Dichter pflegte sich nächtens zum Dichten und Philosophieren in sein Turmzimmer zurückzuziehen, gewandet in eine Mönchskutte), so lässt Pleschinski aber sehr schnell die grausame Realität in Wiesenstein einbrechen. Die Alliierten erobern langsam die deutschen Gebiete im Westen, der Volkssturm wirft mit Kindern und Greisen dem Feind sein letztes Aufgebot entgegen. Die Rote Armee nähert sich von Osten und schiebt panisch flüchtende Menschenströme vor sich her. Inmitten dieses Orkans liegt Wiesenstein zunächst noch relativ geschützt. Doch schon bald dringen die fatalen Nachrichten von der Kapitulation der Deutschen und den nahenden Truppen auch bis ins Haus zu Hauptmann und seinem Gefolge. Ängste und Panik erfassen auch Wiesenstein.

Wie werden die russischen Besatzer mit Hauptmann verfahren? Während die Rote Armee brandschatzt, vergewaltigt, Deutsche aus ihren Häusern vertreibt und ihre Besitztümer akquiriert, bangt man in Wiesenstein um das Leben und wirft alles in die Wagschale. Hat man doch an des Dichters Tafel Kommunisten genauso wie Gauleiter beherbergt, sich einst für Frieden mit Russland eingesetzt und unauffällig die von Hauptmann kommentierte Ausgabe von Mein Kampf verschwinden lassen. Pleschinski zeigt über dieses Bangen und Warten sehr geschickt die schwankende moralische Haltung Hauptmanns selbst. Er zeichnet einen widersprüchlichen Menschen, dessen Sympathien und Unterstützung nicht weniger verworfen sind, als es die Frontlinien vor der Haustür in Agnetendorf sind. Mal ganz stolz-national, dann aber wieder mit dem kommunistischen Dichter Johannes R. Becher befreundet und in Austausch stehend – Hauptmanns Leben ist kompliziert und findet in Wiesenstein ein angemessenes literarisches Abbild.

Immer schwankend lässt Pleschinski seinen greisen Dichter räsonieren, umgeben von seiner zweiten Ehefrau und einem Ensemble von Figuren mit ganz eigenen Schicksalen. Neben der angemessen-ambivalenten Annäherung an Hauptmann gelingt Pleschinski über diese Figuren auch eine höchst eindrückliche Schilderung der Schrecken und des Terrors, der durch den Begriff der Vertreibung noch viel zu harmlos umschrieben ist. Das unermessliche Leid der Menschen, aber auch das Mitläufertum und die Verehrung der Nationalsozialisten in der breiten Bevölkerung – Pleschinski bringt hier ein ebenso glaubhaftes wie detailliertes Zeit- und Sittengemälde aufs Tapet.

Margarete und Gerhart Hauptmann

Er findet hierfür genauso wie für das alltägliche Leben in Wiesenstein eindrückliche Bilder und inszeniert seine Erzählung meisterhaft. Immer wieder fließen bisher unveröffentlichte Stücke aus dem Tagebuch Margarete Hauptmanns in die Erzählung ein, die das fiktionale Werk stringent ergänzen. Auch fügt Pleschinski immer wieder Auszüge aus dem reichhaltigen und teilweise schon wieder vergessenen Ouevre des Dichters ein (das in seiner Qualität und Stilistik nicht minder schwankend wie Hauptmanns Haltung und Einstellung ist). Dem normalen Leser mögen naturalistische Werke wie Der Biberpelz oder das eingangs erwähnte Sozialdrama Die Weber wenn schon nicht aus dem Schulunterricht, dann zumindest dem Namen nach bekannt sein. Andere Werke aus dem Schaffen des schlesischen Dichters hingegen sind schon lange dem Vergessen anheimgefallen und dürften wirklich nur noch in Germanistenkreisen bekannt sein. Ein Beispiel hierfür ist das mehrmals im Buch zitierte dichterische Werk Till Eulenspiegel. Hier lässt sich vieles entdecken, was auch Pleschinski in seinem Nachwort noch einmal betont. Wiesenstein steckt voller Wiederentdeckungen und lädt zum erneuten Kennenlernen dieses Dichters ein, den einige Protagonisten im Buch auch als Sprachmagier rühmen.

Der Fairness halber sollte man aber auch erwähnen, dass die Bezeichnung des Sprachmagiers nicht nur auf Hauptmann zutrifft, sondern auch auf Hans Pleschinski selbst. Denn die Sprache, in die er seine Annäherung an Gerhart Hauptmann kleidet, ist von größter Brillanz und Eindringlichkeit. Wiesenstein bietet Sprachkino auf höchstem Niveau. Wie fein der Münchner seine Sätze, Sprachbilder und Szenen webt, das ist mehr als meisterlich. Auf jeder Seite versteckt sich eine Fülle an Anspielungen und Metaphern, sodass man diesen 520 Seiten starken Roman wirklich langsam und aufmerksam genießen sollte, um die ganze Detailfülle an Eindrücken aufnehmen zu können.

Wiesenstein ist so vieles: Dokumentation des Kriegsjahres 1945 und der Vertreibung im Osten, Hauptmann-Biografie, Sprachfest – schon jetzt ein Anwärter für den Roman des Jahres (mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse oder den Deutschen Buchpreis sollte man auf alle Fälle rechnen) – und ein Geschenk für jeden Germanisten und für alle Liebhaber guter Literatur!

 

 

 

[Quelle Foto Margarete und Gerhart Hauptmann: Bundesarchiv, Bild 102-14016 / CC-BY-SA 3.0]

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