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Serhij Zhadan – Internat

Am 24.02.2022 begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Satz, den man so seit Kriegsbeginn immer wieder lesen konnte. Doch dass in Teilen der Ukraine schon deutlich länger zuvor kriegsanähnliche Zustände herrschten, diesen Zustand blendeten die westlichen Staaten weitgehend aus, ehe man dann im Feburar durch den direkten russischen Angriffskrieg nicht mehr wirklich die Augen vor den Zuständen im Land verschließen konnte.

Serhij Zhadan, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022, beleuchtet diese Zustände in seinem bereits 2017 erschienen Roman Internat eindrücklich. Ihn jetzt zu lesen, macht betroffen und lässt die Schrecken des Krieges für die Zivilbevölkerung eindrücklich erlebbar werden.


„Fahr und hol ihn“, brüllt der Alte.

„Ist doch ihr Sohn“, brüllt Pascha zurück, „soll sie ihn doch selbst holen.“

„Er ist dein Neffe“, erinnert ihn der Alte.

Serhij Zhadan – Internat, S. 7

So hebt der 2017 im Original und 2018 schließlich in der preisgekrönten Übersetzung von Juri Durkot und Sabine Stöhr erschienene Roman Internat von Serhij Zhadan an. Lehrer Pascha soll sich im Auftrag seines Vaters aufmachen, und seinen Neffen aus dem Internat heimholen, in dem sich dieser befindet. Denn der Krieg ist über das Land gekommen. Plötzlich haben Truppen Teile der Ukraine besetzt – und das Internat befindet sich hinter der Kampflinie. Der Junge schwebt in großer Gefahr. Und so ist es an Pascha, die Worte Hölderlins mit Leben zu füllen, der einst feststellte, dass auch da das Rettende wächst, wo die Gefahr ist.

Ein Höllentrip durch besetztes Gebiet

Widerwillig beginnt er seine Reise, die zu einem mehr als bedrohlichen Trip wird. Per Bus und Taxi gelangt Pascha ins Kriegsgebiet, schlägt sich unter ständiger Gefahr bis zum Bahnhof vor, von wo aus er in Richtung Internat gelangen möchte. Doch selbst als die gefährliche Mission gelingt und er das Internat erreicht, ist damit die Gefahr nicht gebannt, im Gegenteil. War der erste Teil seiner Reise schon riskant, so steigert sich die Gefahr noch einmal, als er den Jungen nun heimbringen möchte. Denn marodierende Truppe, ausgebrannte Häuser, herumstreundende Hunde und eine völlig zerstörte Umgebung lassen die Heimreise zu zweit vollends zu einem Höllentrip werden, die an manchen Stellen wie ein Computerspiel in einem Endzeit-Setting wirkt.

Sie treten aus dem Park auf die Straße, gelangen durch die Lindenallee zur Wendeschleife der Straßenbahn, springen geduckt auf die Fahrbahn, laufen in kurzen Etappen bis zum Platz und versuchen dabei, an keiner ungeschützten Stelle anzuhalten. Beliben unter den Tannen stehen, verstecken sich.

Auf der anderen Seite des Platzes der Kulturpalast. Schwarz von innen ausgebrannt. Die Fenster von einer Druckwelle weggefegt. Sieht wie ein Fernseher ohne Bildröhre aus. Dahinter schon die Höfe der fünfstöckigen Backsteinhäuser, duch die man weiter in Richtung Boulevard gelangen kann. Nachdem man es über den Platz geschafft hat. Pascha schaut sich aufmerksam um. Anscheindend keiner da. Der Platz ist ruhig und leer. Ihn rennend überqueren ist eine Sache von Minuten. Trotzdem haben sie Angst: Niemand sieht dich, aber auch du siehst niemanden. Der Mond hängt direkt über dem Palastgebäude, als wolle er ihnen sagen: Los, verschwendet keine Zeit, lauft direkt auf mein totes Licht zu. „Laufen wir“, flüstert Pascha, ohne die Hand des Jungen loszulassen, und sie stürmen voran. Sobald die rettenden Tannen, hinter denen sie sich versteckt haben, zurückbleiben, hören sie irgendwo jenseits des Platzes das scicksalhafte Rattern von Raupenketten auf dem Asphalt.

Serhij Zhadan – Internat, S. 164 f.

Wenig Realien, dafür umso mehr Zeitlosigkeit

Serhij Zhadan - Internat (Cover)

Serhij Zhadans Prosa ist eine, die auf Realien wie Lokalkolorit oder klare Benennung der Figuren weitgehend verzichtet. Erscheint die Kriegssituation anfangs noch unspezifisch, schält sich aber bald der Ukrainekrieg im Oblast der besetzten Krim als Handlungsort heraus.

Ganz eng auf seinen Helden Pascha auf dessen Heldenreise fokussiert erzählt er von der ständigen Gefahr, die das Leben und Überleben im Kriegsgebiet bedeutet. Wie ein Tier muss sich der kurzsichtige Pascha durch das Gelände schlagen, immer wieder abtauchen, sich verstecken oder auch gegen andere Menschen und Tiere wehren. Die Gefahr ist in diesem schon fast dystopischen Setting omnipräsent.

Bestes Beispiel ist das Internat, das Pascha und der Junge dann bei einem ersten Versuch verlassen, um wenige Stunden später noch einmal hier zurückzukehren, als sich das Vorhaben, die besetzte Stadt hinter sich zu lassen, als unmöglich herausgestellt hat. Plötzlich ist auch das Internat zerstört und von seinen Bewohnern keine Spur mehr. Rasend schnell ändern sich die Zustände hinter der Frontlinie, werden Häuser zerbombt, marodieren die Truppen, fliehen Menschen, wie man es seit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs eigentlich überwunden glaubte.

Die Prophetie Serhij Zhadans

Der hier beschriebene Zustand ist einer, der sich nun fünf Jahre nach dem Erscheinen des Buchs in anderen Teilen des Landes leider wiederholt hat, man denke nur an Butscha oder die Schlacht um Mariupol. Alles liegt hier in diesem Roman schon offen und lesbar, nur verschlossen wir trotz der eindrücklichen Mahnung des Dichters und Romanciers Serhij Zhadan konsequent die Augen.

Aber man kann Internat nicht nur als frühe Dokumentation und Mahnung der Kriegszustände lesen. Auch heute angesichts des über ein Jahr andauernden Kriegs besitzt Internat eine große Wucht, die sich vor allem durch die Allgemeinheit der Erzählung dieses Überlebenskampfs im Krieg speist. Immer wieder schafft Zhadan eindringliche Bilder, zeigt, wie Pascha ums Überleben seines Neffen und sein eigenes Überleben kämpft. Wie die Zivilbevölkerung unter der Gewalt und Zerstörung leidet, das macht der ukrainische Autor hier eindringlich bemerkbar.

Und auch die Übersetzung von Juri Drukot und Sabine Stöhr bildet diese eindringlichen Bilder und die dystopische Szenerie großartig ab. Dass sie für ihre Übersetzung den Preis der Leipziger Buchmesse erhielten, erscheint mir (allerdings ohne Kenntnis des ukrainischen Originals) richtig.

Fazit

So wohnt dieser Prosa über die konkrete Situation im Kriegsgebiet auf der Krim hinaus etwas Zeitloses inne. In starken Bildern zeigt Zhadan den Kampf eines Mannes in einem Krieg, dessen Regeln nicht immer klar sind. Nur ein Primat gilt – und das ist das des Überlebens. Davon erzählt Internat beeindruckend und widerspricht öffentlichen Erkärungen, dass der russische Angriffskrieg überraschend über das Land kam.


  • Serhij Zhadan – Internat
  • Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
  • ISBN 978-3-518-47233-0 (Suhrkamp)
  • 300 Seiten. Preis: 12,00 €
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Lisa Weeda – Aleksandra

Eine Frau mit Mission unterwegs in Richtung Volksrepublik Lugansk. Doch statt im Schoß der Familie findet sie sich plötzlich wieder in einem ominösen Gebäude voller Erinnerungen, das auf den Namen Palast des verlorenen Donkosaken hört und in dem die ganze wechsel- und leidvolle Geschichte der Ukraine anhand einer Familie offenbar wird. Aleksandra von Lisa Weeda (übersetzt von Birgit Erdmann).


Nein, der Soldat am Checkpoint in Richtung der sogenannten Volksrepublik Lugansk am Übergang von der Ukraine zum von Russland annektierten Gebiet der Krim will die junge Erzählerin im August 2018 partout nicht passieren lassen. Dabei hat sie eine wichtige Fracht und Aufgabe im Gepäck, für die sie den Checkpoint passieren möchte.

Mit ernster Miene hole ich ein längliches Leinentuch aus der Tasche und zeige es dem Soldaten.

„Dieses Tuch ist fast ein Jahrhundert alt. Es hat Tausende Kilometer zurückgelegt. Sie dürfen ihm nicht seine letzte Reise nach Hause verwehren.“

Das weiße Tuch ist mit schwarzen und roten Linien bestickt, die Ränder mit blauen, roten und schwarzen Blumenmustern. Ich deute mit dem Zeigefinger auf das Tuch. „Sie Sie diese Linie hier, über der der Name Kolja steht, die Linie, die 2015 endet? Meine Oma Plemplem hat mich gebeten, das Tuch zu seinem Grab zu bringen, um die Zeit zu flicken. Sonst ist er verloren.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 15

Doch trotz der Erklärung ist der Soldat nicht zu erweichen – und so setzt die Erzählerin Lisa auf die normative Kraft des Faktischen und sprintet einfach kurzerhand durch den Checkpoint und schlägt sich trotz Minenwarnung ins dahinterliegende Getreidefeld, um auf diesem Wege zum Grab ihres Großonkels zu gelangen.

Im Palast des verlorenen Donkosaken

Doch statt eines Weges oder Minen findet sich mitten im Getreidefeld plötzlich die Tür zu einem hohen Turm, den Lisa kurzerhand betritt. Dadurch findet sie sich im sogenannten Palast des verlorenen Donkosaken wieder, wie ihr ihr Urgroßvater Nikolaj erklärt, der sie in diesem rätselhaften Haus willkommen heißt, das auf Lisa wie eine hysterische Geburtstagstorte oder eine schlanke Version des Turmbaus zu Babel wirkt. Sowjetische Kunst mit Lenin-Porträts oder Arbeitern und Bauern an den Wänden – und dazu noch verschiedenste Räume und Zeitebenen, in denen man sich schon einmal verirren kann, wie auch Lisa im Lauf des Romans feststellen muss.

Lisa Weeda - Alesandra (Cover)

Gemeinsam durchwandert sie mit Nikolaj die verschiedenen Räume des Palastes – und damit auch die Erinnerungen und Erfahrungen ihrer Großfamilie, in der sich alle Verwerfungen und Schmerzen des 19. und 20. Jahrhunderts abbilden und wiederspiegeln. Denn ausgehend von Lisa als jüngstem Spross der Großfamilie Krasnov entwirft Lisa Weeda in Aleksandra einen Familienstammbaum, der sich über ganze fünf Generationen erstreckt.

Das Leitmotiv ist dabei das eingangs erwähnte Tuch, das als eine Art gewebtes Familienstammbuch die verschiedenen Linien und Generationen des Krasnovs zusammenführt und von Aleksandra, der Großmutter der Ich-Erzählerin, im Geheimen bestickt wurde. Schwarze und rote Fäden stehen dabei für Glück und Leid, das die Familie in mannigfaltiger Form erfahren musste. Und schwarz und rot ist nicht nur das Tuch, sondern die ganze Ukraine, wie der in den Niederlanden lebenden Ich-Erzählerin vermittelt wurde.

Das Land ist immer schwarz und rot, brachte Baba Mari mir bei. Schwarz steht dabei nicht nur für unsere Erde, es steht auch für den Tod. Unser Landstrich mag zwar launisch sein, aber er ist immerhin unser Land, sagte sie häufig. All unsere Geschichten liegen hier begraben und alle Geschichten sind hier letztendlich zu Hause, auf diesen Feldern. Die Linien auf diesem Tuch sind schöne und schaurige Geschichte, und es kommen immer mehr hinzu. Weißt du, was meine Baba Mari zu mir gesagt hat, Lisa?

Dieses Stück Land kriegt man nicht aus uns heraus, es steckt in unserem Blut.“

Lisa Weeda – Aleksandra, S. 101 f.

Leider zu viel Themen und Personen für zu wenig Seiten

Ja, die Erinnerungen stecken im Boden – und auch in jeder Seite des Romans. Und das ist in meinen Augen auch das Kernproblem dieses Romans, der an seiner völligen Überfrachtung laboriert. Denn jede Seite und jeder Raum im Palast des verlorenen Donkosaken ist mit Erinnerungen aufgeladen, die die wechselvolle Geschichte der Ukraine zwischen der Teilannektion durch Russland, die Befreiung aus dem russischen Großreich und die Zeiten der Weltkriege und der der Sowjetunion zeigen sollen.

Lisa Weeda erzählt von der bitteren Armut, der sich die Familie nicht einmal mit dem Verstecken von Getreidesäcken entziehen konnte, sie erzählt vom ebenso absurden wie fanatischen Stalinismus und Leninismus, von grausamen Pogromen an der jüdischen Bevölkerung (die Erinnerungen an die Massaker in Butscha und anderen Orten wecken), sie schildert die Deportationen während des „Dritten Reichs“, die Revolution, die sich am Maidanplatz entspann, die Zerrissenheit, der sich die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Besetzung ihrer Krim ausgesetzt sahen.

Das und noch viel mehr sind die Themen, die Lisa Weeda auf gerade einmal knapp 290 Seiten in sehr verknappter und verdichteter Form abhandelt und die sie neben der realistischen Schilderung der historischen Begebenheiten noch um eine zweite, magische Ebene in Form des Palastes und der immer wieder auftretenden leuchtender Hirsche, die auch stellenweise als Erzähler agieren, ergänzt.

Dabei wirkt das Ganze an manchen Stellen so, als wenn eine Entscheidung für die Form eines erzählenden Sachbuch die klügere Wahl für die Bearbeitung ihres Stoffs gewesen wäre. Und auch wenn ihr Palast des verlorenen Donkosaken in ihrer Schilderung unermesslich hohe Decken und unendlich viele Räume aufweist, so ist es ebenjener große Raum, der im Handlungsüberschwang dieses Buchs auf der Strecke bleibt.

Vieles, das die niederländisch-ukrainische Autorin und Filmemacherin hier vorbringt, ist in meinen Augen zu gehetzt und schnell aneinandergereiht, als das es wirklich Wirkung entfalten könnte. So bräuchte der „Jahrhundertroman der Ukraine“ (so der Verlag in seiner Werbung) eben mehr Zeit und Raum, um genauer auf Figuren und ihr Erleben eingehen zu können. Aber durch die thematische Überfrachtung und unübersichtliche Personalführung geht der erzählerische Fokus verloren, selbst wenn dem Roman der große Stammbaum vorangestellt ist

Der Familienstammbaum der Krasnovs

Die fünf Generationen und ihr Erleben in Schlaglichtern rasen einfach am Leser vorbei – und werden durch fehlende literarische Gestaltungsmittel auch nicht wirklich unterscheidbar, was insbesondere durch die Namensgleichheit vieler Aleksandras oder Nikolajs dann wirklich zu einem Problem wird (zumindest bei meiner Lektüre).

Fazit

Auch wenn das Ansinnen der Autorin (die, so viel darf man auch aufgrund des Vorworts spekulieren, als relativ deckungsgleich mit der im Buch geschilderten Familie anzusehen sein dürfte) mehr als ehrenwert ist: vielleicht braucht Literatur doch einfach mehr Zeit, als sie sich Lisa Weeda wahrscheinlich unter Eindruck der jüngsten Ereignisse des letzten Jahres gegeben hat. Mehr Raum für die Figuren, weniger Hatz durch die wechselvolle ukrainische Geschichte und mehr Fokus auf weniger Episoden, das wäre hier vielleicht der Schlüssel zum Erfolg gewesen. So bleibt zumindest bei mir der Eindruck eines überfrachteten Familienromans, zu dessen Personal und Erlebnissen ich leider zu keinem Zeitpunkt eine Bindung aufbauen konnte.


Eine weitere spannende Perspektive auf den Roman gibt es auch auf dem Blog Tralalit, der sich insbesondere mit Übersetzungen beschäftigt. So auch hier mit der Übertragung von Aleksandra ins Deutsche durch Birgit Erdmann. Klare Leseempfehlung!


  • Lisa Weeda – Aleksandra
  • Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
  • ISBN 978-3-98568-058-0 (Kanon-Verlag)
  • 290 Seiten. Preis: 25,00 €
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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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