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Anuk Arudpragasam – Nach Norden

Eine Reise zu den Schmerzpunkten verschiedener Leben und denen eines ganzen Landes. Anuk Arudpragasam schickt in Nach Norden seinen Protagonisten auf eine Reise durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Sri Lanka und spürt dabei dem Schmerz in vielen Facetten nach.


Fast sechs Stunden dauert es laut Google Maps, möchte man mit dem Auto von Colombo bis nach Kilinochchi im Norden Sri Lankas reisen. Begibt man sich in die Hände des Reiseleiters Anuk Arudpragasam, so wird aus dieser knapp 340 Kilometer langen Strecke eine Lesereise von annähernd ähnlich vielen Seiten, die tief in die Geschichte Sri Lankas führt.

Dabei beginnt alles mit zwei Nachrichten, die in Krishan, dem Helden von Anuk Arudpragasams Roman, starke Erinnerungen und Bewegungen auslösen.

Zwei Nachrichten und eine Reise

So schreibt ihm Anjum, seine ehemalige Geliebte, die er einst in Indien kennenlernte und die sich nun nach langer Stille bei Krishan über dessen Verbleib erkundigt. Und dann stirbt auch noch Rani, die die Betreuung von Krishans pflegebedürftiger Großmutter Appamma übernommen hat.

Rani stammte aus dem Nordosten Sri Lankas, ein Gebiet, das lange vom Bürgerkrieg und dem Kampf der tamilischen Tiger geprägt war. Sieverlor in diesem Krieg ihre beiden Söhne, den jüngeren tragischerweise noch am vorletzten Tag jenes Krieges, der viele zehntausende Opfer forderte und erst 2009 nach fünfundzwanzig Jahren des blutigen Kampfes beendet wurde. Dieser Kampf, die Erinnerungen an Anjum und sein eigenes kurzzeitiges Engagement dort im Norden lösen vielfältiges Erinnern aus.

In den Jahren seit dem Ende der Kämpfe war er besessen geworden von den Massakern, die im Nordosten stattgefunden hatten, mehr und mehr hatte ihn die Schuld des Überlebenden ergriffen, und er sehnte sich nach der Art Leben, die er vielleicht führen könnte, wenn er die träge akademische Welt verließ, in die er sich abgesondert hatte, und an einem Ort lebte und arbeitete, der ihm etwas bedeutete.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 21

Von Colombo nach Kilinochchi

Anuk Arudpragasam - Nach Norden  (Cover)

Krishan beschließt, sich von seinem aktuellen Wohnort Colombo an der Westküste Sri Lankas nach Kilinochchi im Norden der Insel zu begeben. Von dort stammt Rani, dort verunglückte sie und dort soll sie nun im Kreis ihrer Familie beerdigt werden. Und dorthin zieht es nun auch Krishan, der sich dort seinen Gedanken und Erinnerungen stellen möchte.

Während er also per Bahn in den Norden reist, stürmen die Erinnerungen immer stärker auf ihn ein. Seine Großmutter Appamma und ihr Abgleiten in die Hilflosigkeit und ihr Schwanken zwischen Selbstbehauptung und dem Einfordern von Hilfe. Die Anstellung von Rani, die nach dem Tod ihrer Söhne in Depressionen verfiel, die sie mit immer stärker werdender Elektroschocktherapie zu bekämpfen versuchte, ehe sie in der Anstellung als Betreuerin von Rani in Colombo neuen Sinn fand. Die Erinnerungen an Anjum, ihr gemeinsames Kennenlernen in Indien, die langsame und intensive Romanze, die sich entspann. All diese Erinnerungen stürmen auf den Erzähler ein – genauso wie zahlreiche Erinnerungen an Gedichte, Dokumentarfilme und Legenden, derer sich der junge Mann erinnert.

Eine Reise zu den Schmerzpunkten eines ganzen Landes und seiner Bewohner

Dabei ist Nach Norden ein Buch der Erinnerung, das konsequent die Schmerzpunkte eines Landes und seiner Bewohner umkreist und auch berührt. So schon sich schon Krishan wenig, wenn er mit akribischer Genauigkeit der verflossenen Romanze zwischen Anjum und ihm nachspürt, sich ihr ganzes Kennenlernen noch einmal vor Augen führt, was den Schmerz der Trennung noch einmal deutlicher werden lässt.

Auch das familiäre Gefüge mit der verfallenden eigenen Großmutter und den notwendigen Kraftanstrengungen, die die heimische Pflege erfordert, beschreibt uns Krishan ungeschönt. Er führt dies von der persönlichen Ebene dann auf die nationale Ebene, wenn langsam die ganze Bedeutung des Bürgerkriegs, die Zerstörung, das persönliche Leid und das der Gesellschaft in Nach Norden offenbar wird. Hier schon jemand weder sich noch sein Land, um die einschneidende Bedeutung des Bürgerkriegs dort im Norden der Insel zu vermitteln.

Ein genauer Beobachter

Zudem ist erweist sich der junge 1988 geborene Tamile Arudpragasam hier auch als genauer Beobachter, der seine Sprache bewusst wählt und bei der es ein Fehler wäre, allzu schnell über sie hinwegzugehen oder sie nur als Vehikel der Erzählung zu begreifen.

Egal ob erotisch aufgeladene nächtliche Begegnungen im Schlafwagen oder die Bestattungszeremonie von Rani – diese Prosa der Gedanken- und Erinnerungsschleifen gleicht in manchen Szenen einer hochauflösenden Zeitlupe, in der sich der tamilische Erzählung manchmal schon schmerzhaft viel Zeit nimmt, um die Handlung und inneren Bewegungen zu schildern.

Nach Norden ist ein Roman, der sich Zeit lässt, der seine Themen genau umkreist und der alle Wahrnehmungen in langen Satzperioden genau nachzubilden und abzubilden versucht (Übersetzung durch Hannes Meyer):

Als er sie beobachtete und sie ihn, hinter ihr die Landschaft vorbeirauschte, er aber nur das Blinzeln ihrer Augen und das Schlagen seines Herzens wahrnahm, war Krishan dankbar, dass sie beide Teil desselben Ortes und derselben Zeit waren, dass sie zumindest jetzt diesen Augenblick teilten, einen Augenblick, der nicht nur Nahes und Fernes enthielt, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges, ein Augenblick ohne Länge und Breite und Höhe, der aber alles von Bedeutung in sich barg, so als wären alle anderen Bestandteil der Welt bloß kosmische Kulisse, eine Illusion, die nun verschwinden konnte, da sie entlarvt war. Was man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks oft Liebe nannte, das wurde ihm in jener Nacht klar, war weniger die Beziehung weiter Menschen an und für sich als vielmehr eine Beziehung zwischen zwei Menschen und der Welt, deren Zeugen sie waren, einer Welt, deren Oberflächen und Äußerlichkeiten sich allmählich auflösten, währen die beiden Menschen tiefer und tiefer in ihrer Liebe versanken.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 176 f.

Fazit

Mit Nach Norden nimmt uns Anuk Arudpragasam mit auf die zerrissene Insel Sri Lanka und zeigt ein Land fernab der touristischen Glanzpunkte. Vielmehr sind es die Schmerzpunkte, die Arudpragasam auf persönlicher genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene interessieren. Seine Reise wird zu einer Reise in die Vergangenheit eines vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes und auch zu einer Reise des eigenen seelischen Schmerzes. Gewiss keine leichte Literatur, aber ein Buch, auf das man sich mit genügend Zeit einlassen sollte und dessen Sprache das ideale Vehikel für Arudpragasams Erzählansatz der Langsamkeit und Nachdenklichkeit ist.


  • Anuk Arudpragasam – Nach Norden
  • Aus dem Englischen von Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-446-27381-8 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall

Wenn ein Senfwickel das ganze Weihnachtsfest in Gefahr bringen kann. Davon erzählt Anthony Trollope in seiner Geschichte Weihnachten auf Thompson Hall und legt damit seinen Fokus weniger auf das Weihnachtsfest selbst, als vielmehr auf den Anreisestress, der sich manchmal aus unvorhergesehenen Ereignissen entwickeln kann, wie Trollopes nostalgische Erzählung beweist.


Auch wenn es Chris Rea gelungen ist, die weihnachtliche Heimreise in den Schoß der Familie mit seinem Evergreen Driving home for christmas zu romantisieren und zu verklären, so sieht die Realität doch meistens anders aus. Vollgepackte Autos, Staus auf der Autobahn, ausfallende Züge und viel Hektik, die solch eine Anreise begleiten. Bei Mr. und Mrs. Brown in Anthony Trollopes Erzählung Weihnachten auf Thompson Hall ist das nicht anders.

Thompson Hall war ein altes Herrenhaus, ein Backsteingemäuer mit einer Kiesauffahrt, das hinter einem riesigen Eisentor lag. Es hatte schon dort gestanden, als Stratford noch keine Stadt oder auch nur ein Vorort gewesen war, und hieß damals Bow Place. Doch seit dreißig Jahren war es im Besitz der jetzigen Familie und weit und breit unter dem Namen Thompson Hall bekannt – ein gemütliches, geräumiges, altmodisches Haus, vielleicht ein bisschen dunkel und langweilig anzusehen, aber viel gediegener gebaut als die meisten unserer modernen Villen.

Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall, S. 80

Dorthin nach Thompson Hall zieht es vor allem Mrs. Brown in Trollopes Geschichte. Sie entstammt der Familie, in deren Besitz das Anwesen ist – und nun, nach Jahren der Abwesenheit, möchte sie dort zusammen mit ihrem Mann wieder einmal das Weihnachtsfest im Schoß der Familie begehen.

Der eingebildete (?) Kranke

Anthony Trollope - Weihnachten auf Thompson Hall (Cover)

Ihr Mann, seit der Hochzeit mit Mrs. Brown aller materiellen Sorgen und der Erwerbstätigkeit enthoben, hat darauf allerdings so gar keine Lust. Bislang verbrachte er als Anhängsel seiner Frau die Winter immer in Südfrankreich, womit er sich sehr gut arrangiert hat. Doch nun soll es wieder Weihnachten auf Thompson Hall sein, und so tritt man in einem Winter des Jahres 187 an (über genauere zeitliche Angaben schweigt sich Trollope aus, genauso wie sein Erzähler für das begüterte Ehepaar nur ein Alias wählt, um von den Begebenheit zu berichten).

Mrs. Brown vorfreudig eilend, ihr Mann eher resignativ bis widerwillig, so geht es gen England. Doch dann kommt es noch weit vor der Überquerung des Ärmelkanals zu einem Zwischenfall im am Boulevard des Italiens gelegenen Grand Hotel. Denn Mr. Brown entwickelt plötzlich ein besorgniserregenden Kratzen im Hals, das ihm eine Weiterfahrt verunmöglicht.

Mrs. Brown beschließt daraufhin, diesem etwas an eine Frühform von Corona erinnernden Krankheitsbild (welches Mr. Brown verdächtig gelegen kommt) mit einem alten Hausrezept zu begegnen. Sie beschließt, den schmerzenden Hals mit einem Senfwickel zu kurieren, den sie auf den Hals ihres zu applizieren beschließt. Doch infolgedessen kommt es zu nächtlichen Unbill im Hotel, als sich die Suche nach einem Senftopf zu weitreichenden Verwicklungen und hochnotpeinlichen Begebenheiten führt, bei der es Mrs. Brown zunehmend schwerfällt, die Contenance zu wahren.

Nostalgisch und altmodisch

Beschreibt Anthony Trollope das Anwesen auf Thompson Hall als altmodisch, so gilt das auch für seine Erzählung, was ich allerdings auf positive Art und Weise verstanden haben möchte. Denn Weihnachten auf Thompson Hall ist eine Erzählung, die erstmalig 1876 im britischen illustrierten Wochenmagazin The Graphic abgedruckt wurde. Dementsprechend atmet diese Erzählung den Geist, den Serien wie etwa Downton Abbey dieser Tage noch einmal nachbilden möchten.

Man artikuliert sich vornehm (was in Wahrheit ein ums andere Mal eher umständlich ist), die Krisis von Mrs. Brown ob des nächtlichen Malheurs rund um den Senfwickel und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Heimreise nach Thompson Hall werden ausführlich geschildert – und durchaus mit Ironie für den möglicherweise eingebildeten Kranken und das Chaos im Grand Hotel, das mit den heute geläufigen Schlüsselkarten nicht passiert wäre.

In dieser schönen Ausgabe der Insel-Bücherei wird die von Andrea Ott ins Deutsche übertragene Erzählung um Illustrationen von Irmela Schautz ergänzt, die den etwas steifen Geist des Personals gekonnt in Bilder überführt.

Fazit

Wer sich nun eine nostalgische Erzählung von weihnachtlichen Tafeleien in einem englischen Herrenhaus nach alter Sitte erwartet, der wird hier enttäuscht werden, obgleich das Cover diesen Verdachte nahelegt. Denn das Geschehen auf Thompson Hall ist eher das Ziel, auf das zumindest eine Hälfte des Personals beständig entgegen aller Widerstände hinarbeitet. Vielmehr ist Anthony Trollopes Erzählung eine, die von Irrungen und Wirrungen im Zuge der Weihnachtsreise erzählt, deren hauptsächlicher Schauplatz gar nicht in England, sondern in einem französischen Hotel liegt.

Weihnachten auf Thompson Hall hat Charme, setzt dem Senfwickel ein eindrückliches Denkmal und ist ein vorzügliches Geschenk, das zu Ablenkung bei akut auftretenden Reisestress oder für eine vergnügliche Lektürestunde unter dem Weihnachtsbaum angeraten sei.


  • Anthony Trollope – Weihnachten auf Thompson Hall
  • Aus dem Englischen von Andrea Ott
  • ISBN 978-3-458-19492-7 (Suhrkamp)
  • 96 Seiten. Preis: 14,00 €
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Ein Schrumpfkopf erzählt

Jan Koneffke – Die Tantsa-Memoiren

Als Gregor Tstantsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schrumpfkopf verwandelt.

So verballhornt könnte man eine Pointe des an Pointen nicht armen Romans von Jan Koneffke zusammenfassen. Denn im neuesten Roman des 1960 geborenen Autors und Übersetzers begegnen wir einem mehr als außergewöhnlichen Erzähler. Es handelt sich um einen sprechenden Schrumpfkopf, auch genannt Tsantsa, der uns hier seine Tsantsa-Memoiren präsentiert.

Dabei erfährt der sprechende Schrumpfkopf im venezuelanischen Cumaná um 1780 seine Erweckung durch einen sprechenden Ara. Dieser ist neben einem Affen und einem Jaguar eines der Haustiere, die sich Don Francisco in seinem herrschaftlichen Haus hält. Jener Don Francisco stammt eigentlich aus Spanien, ist nun in Venezuela allerdings im Dienst der spanischen Krone abgeordnet. In seinem Dienstzimmer baumelt auch der Schrumpfkopf, der sich untätig im Wind wiegt, ehe der Ara in sein Leben tritt. Dessen Spracharabesken stimulieren die kognitiven Fähigkeiten des Schrumpfkopfs. Und damit nicht genug. Neben der Gabe des Verstandes erwacht auch die Fähigkeit zum Sprechen des Tantsa – was dann postwendend gleich einmal für den Tod Don Franciscos sorgt.

In der Folge beginnt eine wahre Odysee, die uns der sprechende Schrumpfkopf weitestgehend chronologisch erzählt. Eine Odyssee, die bis ins Augsburg dieser Tage führt.

Von Südamerika bis nach Augsburg

Der Schrumpfkopf gelangt von Südamerika nach Europa, verlebt einige Zeit in Rom, gelangt nach Bamberg, Norddeutschland, reist im Gepäck von Scharlatanen, Bahningenieuren und erlebt Hinrichtungen, Kriege und den technischen Fortschritt. Ebenso wechselvoll wie seine Provenienz ist auch die seiner Besitzer*innen und deren Absichten mit dem Tsantsa. Mal wird er im Dienste der Wissenschaft gemartert, mal in London im Zuge der Weltausstellung im Crystal Palace als Kuriosum gezeigt. Immer wieder erlebt der Schrumpfkopf neue Abenteuer und erfährt so verschiedene Jahrhunderte aus einer ganz eigenen Perspektive.

Jan Koneffke - Die Tsantsa-Memoiren (Cover)

Koneffke lässt seinen Tansta dabei ein antiquiertes Deutsch sprechen, der Schrumpfkopf selbst gibt Auskunft, dass er ein um 1820 gebräuchliches Idiom gebraucht. Sprachlich werden uns so sehr elaboriert die Abenteuer geschildert, die in ihrer thematischen und zeitlichen Fülle ein höchst abwechslungsreiches Leseerlebnis ergeben.

Ein abwechslungsreiches Leseerlebnis, in das sich leider mit zunehmender Zeit tatsächlich dann aber auch einige kleine Längen einschleifen. Koneffke weicht dann allerdings auf einen Trick aus, indem er mithilfe der Psychoanalyse den Schrumpfkopf seine eigene Geschichte und Herkunft ergründen lässt. Diese liegt zu Beginn des Buchs nämlich noch im Dunkeln.

Erst allmählich lichtet sich das Dunkel um das Vorleben des Schrumpfkopfs, ehe er dann dieser Tage in Augsburg seinen Moment der Rückführung erlebt.

Zwar hätten ein paar Straffungen im Text speziell ab der Hälfte des 560 Seiten starken Romans gutgetan. Durch seine Fabulierfreude und den Erfindungsreichtum gleicht Koneffke dieses Manko in meinen Augen aber aus. Und mit der Erfindung seines besonderen Erzählers ist dem Autor ein wirklicher Coup gelungen. So viel Fabulierfreude liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten.

Fazit

In der Gesamtheit ist Jan Koneffke ein bunter, ja geradezu barocker Bilderbogen mit einem ganz besonderen Erzähler gelungen. Ein sprachlich ansprechender Unterhaltungsroman, der durch seine opulente Fülle an Themen und zeitgeschichtlichen Momente besticht.


  • Jan Koneffke – Die Tsantsa-Memoiren
  • ISBN 978-3-86971-177-5 (Galiani)
  • 560 Seiten. Preis: 24,00 €

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Kann man ein Herz reparieren?

Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson

Ist ein Leben ohne Schmerz ein erstrebenswertes? Die österreichische Autorin Valerie Fritsch in „Herzklappen von Johnson & Johnson“ über das Verbindende von Generationen, Muttergefühle und ein Kind, das keinen Schmerz kennt.


Dass ein Indianer keinen Schmerz kennt, das wird besonders Jungen zuweilen immer noch eingeimpft. Doch was ist, wenn ein Junge tatsächlich keinen Schmerz kennt? Wenn er sich beim Schaukeln einen Arm bricht, und es nicht merkt? Wenn er stundenlang in der Sonne tobt, den schmerzhaften Sonnenbrand aber nicht fühlt? Oder wenn er einem Zauberkunststück gleich seinen Körper verstümmelt, um andere zu beeindrucken? Was macht das mit dem Kind, und was mit seinen Eltern?

Valerie Fritsch - Herzklappen von Johnson & Johnson (Cover)

Valerie Fritsch hat darüber einen zugleich zarten und doch mit rauschhafter Sprache ausgestatteten Roman geschrieben. Er rückt drei unterschiedliche Generationen in den Mittelpunkt. Da sind zunächst die Großeltern Almas. Er Soldat, der im Zweiten Weltkrieg die Hölle Stalingrads geschaut hat, Sie eine mondäne Erscheinung. Gottesgläubig, nicht-fürchtig, wie es im Roman heißt. Die Vergangenheit hat die beiden nie wirklich losgelassen, zu präsent sind die Schrecken des Erlebten zu Zeiten des Dritten Reichs.

Es sind die titelgebenden Herzklappen von Johnson & Johnson, die dem Großvater das Weiterleben ermöglichen. Die Grauen des Kriegs und die Folgen haben das Herz angegriffen. Nur die mechanischen Herzklappen halten das Herz am Laufen und ermöglichen so das Überleben des Großvaters. Manchmal kann man ein Herz eben doch reparieren.

Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper

Das Misstrauem gegenüber dem eigenen Körper, es ist auch drei Generationen weiter wieder ein Thema. Denn als Alma Emil zur Welt bringt, stellt er sich schnell als schmerzunempfindlich heraus. Eine große Herausforderung für Alma, ihren Mann Friedrich und die gesamte Familie. Nach einer Stunde Spiel ruft Alma Emil zu sich, tastet ihn auf eventuelle Frakturen oder anderweitige Verletzungen ab. Denn Emil selbst bemerkt diese nicht. So musste er zeitweise sogar eine Taucherbrille tragen, um sich nachts nicht aus Versehen selbst die Augen auszureiben. Eine Herausforderung, der sich Alma stellen muss.

Wenn Alma mit Emil bei den Großeltern zu Besuch war, schien der Schmerzkosmos der einen mit jenem der Schmerzlosigkeit des anderen auf wunderliche Art und Weise zu kollidieren. Der Bub stürmte durch die Erstarrtheit des Hauses, rannte durch den Korridor der alten Dinge, als wäre er auf einer Zeitreise in die Vergangenheit, und nichts tat ihm weh. Die jahrelange Leidens- und Verfallsgeschichte der Alten mit dem kindlichen Unverständnis für jedes Leid auszusöhnen war keine leichte Aufgabe. Ständig musste Alma ihren Sohn zur Vorsicht anleiten, damit er nicht zu grob war mit der alten Frau, und oft musste sie der Großmutter erklären, dass die Abwesenheit des Schmerzes kein Segen war, auch wenn die sich an schlechten Tagen nichts mehr als das wünschte. Die Alten und ihr jünster Nachfahr waren Antipoden, die Gegengestalten der Familiengeschichte, der eine die Folge der anderen. Der Großbater und Emil standen sich gegenüber als Spiegelfigur der Zeit, mit einem jungen und einem alten Gesicht, voller Ersatzteile innen drin, Schrauben, die sie zusammenhielten, und einem falschen Herzen.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 125 f.

Ein Fest der Sprache und der originellen Bilder

Hier in diesem Ausschnitt zeigt sich schon die wahre Stärke des Romans. Diese besteht nicht in ihrer Geschichte, denn die geschilderten Schicksale etwa von Almas Großeltern kennt wohl jeder aus der eigenen Familie oder aus dem erweiterten Umfeld. Und auch Emils Schicksal wird, abgesehen von der außergewöhnlichen Krankheit, nicht wirklich tief ausgelotet. Selbst die Reise der Familie am Ende des Romans wirkt nur hingetupft. Vielmehr ist der herausragende Aspekt dieses Buchs die Sprache.

Wie es Valerie Fritsch gelingt, die Leben und Schicksale in eine wortmächtige Prosa zu kleiden, das ist große Kunst. Hinter jeder Ecke der Geschichte lauert eine originelle Formulierung oder Metapher. Stets gelingt es ihr, auch abgenutzte Bilder oder Abläufe neu zu betrachten oder durch ihre Sichtweise neue Aspekte zu vermitteln. Sätze wie dieser sind es, die die Klasse von Herzklappen von Johnson & Johnson begründen:

Mit jedem Jahr, das sie älter wurde, erschien sie mehr auf der Welt. Mit jedem Jahr wurde sie sichtbarer auf ihr, wuchs in die eigenen Formen, nahm ihren Platz ein, hineingeboren ins Fragen und in die Lücke, die auf der Welt war, bevor ein Mensch sie füllte.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 9

Hier schreibt eine Autorin mit einem genauen Blick auf die Welt und einer eigenen Sichtweise, die sie auch in Worte überführen kann. Wenn man wie im meinen Falle dieses schwer greifbare Wort Literatur mit Sprachgefühl, ästhetischer Empfindsamkeit, Präzision und kreativer Wortmacht definiert, dann kann man gar nicht anders als Herzklappen für Johnson & Johnson als große Literatur zu rühmen. Valerie Fritsch ist eine ganz eigene Sprachkünstlerin und dieses Buch belegt das nach Winters Garten einmal mehr.

Ähnlich sehen das im Übrigen auch Marina Büttner, Anne Fuxbooks und Tobias vom Buchrevier.


  • Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson
  • ISBN: 978-3-518-42917-4, Suhrkamp-Verlag
  • Gebunden, 174 Seiten
  • Preis: 22,00 €
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Einen Flügel kann man nicht reparieren …

Daniel Mason – Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.

Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.

Daniel Mason - Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (Cover)

Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.

Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.

Der Kampf um Birma

Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.

Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.

Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung

Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“

„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.

„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“

„Aber auch gute.“

Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281

Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.

Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.

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