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Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält

Vom Schlachthaus des Ersten Weltkrieges bis hinein in die Wirren des Japanisch-Chinesischen Kriegs, von Sarajevo bis nach Manila. In seinem Roman Die Welt und alles, was sie enthält wagt Aleksandar Hemon den ganz großen Wurf und schickt einen jüdischen Apotheker auf eine weltumspannende Schmerzensreise. Erträglich wird all das erfahrene Leid nur durch die Liebe zu einem Mann.


Es ist nur ein kleiner Moment, der den Apotheker Rafael Pinto hineinkatapultiert in einen der entscheidenden Momente des 20. Jahrhunderts. Eigentlich müsst er in der familieneigenen Apotheke in Sarajevo hinter dem Tresen stehen, Pulver mischen und Kunden beraten. Doch wir schreiben den 28. Juni 1914 und die ganze Stadt ist auf den Beinen und vibriert vor Erregung. Der Grund dafür ist der bevorstehende Besuch des österreichisch-ungarischen Erzherzogs Franz Ferdinand.

Rafael Pinto interessiert das allerdings überhaupt nicht. Vielmehr ist es ein Rittmeister, der sein Interesse auf sich zieht. Der im militärischen Dienst der Monarchie stehende Mann sucht den sephardischen Juden Pinto in dessen Apotheke auf, um von ihm ein Mittel gegen seine Kopfschmerzen zu erhalten.

Doch es ist nicht nur ein Mittel gegen die Kopfschmerzen, das der Rittmeister vom Apotheker erhält. Es kommt zu einem Kuss zwischen Pinto und dem Rittmeister. Ein kleiner Moment, der sich fast anfühlt, als würde die Welt kurz stillstehen.

Ein Kuss, ein Schuss und der Krieg

Ganz betört vom gerade Erlebten folgt Pinto dem Rittmeister hinaus auf die Straßen der bosnischen Hauptstadt, als sich die gerade noch stillzustehende Welt geradezu explosiv beschleunigt. Denn Pinto wird unmittelbar Zeuge des Attentats auf den zu Besuch weilenden Thronfolger, das zugleich den Beginn des Ersten Weltkriegs markiert. Vom Kuss zum verheerenden Schuss in nur wenigen Momenten – und kurz darauf hinein in das, was später als Großer Krieg und noch etwas später als Erster Weltkrieg bezeichnet werden sollte. Schnell geht es in Hemons Romans zur Sache – ein Merkmal, das auch die weiteren Lebensstationen Pintos kennzeichnen wird.

Aleksandar Hemon - Die Welt und alles, was sie enthält (Cover)

Als Soldat findet Pinto sich auf den Schlachtfeldern des Krieges wieder, als er in Galizien als eingezogener Soldat Dienst tut. Die Schrecken, die inkommensurable Gewalt, die Hoffnungslosigkeit in den Schützengräben erfährt er am eigenen Leib. Doch wo die Gefahr ist, da wächst auch das Rettende. Im Falle von Pinto hört jenes Rettende auf den Namen Osman Karišik . Er ein Muslim, Rafael Pinto ein sephardischer Jude, und zusammen ein Liebespaar, das in der gegenseitigen Liebe ein Mittel gegen la gran eskuridad – die große Leere – findet.

Zusammen überleben sie auf den Schlachtfeldern und schlagen sich von Galizien und der Bukowina bis nach Taschkent durch. Es ist nur eine Station auf einer wahren Schmerzensreise, die Pinto und Karišik immer weiter weg führt von Zuhause. Sie begegnen Bolschewiken, blutrünstige Banden, trennen sich in den Bergen Turkestans, Pinto schlägt sich schließlich durch die Wüste Taklamakan bis nach Schanghai durch, wo er aber, wie immer wieder auf seiner Reise, mit Krieg und Gewalt konfrontiert ist.

Die Schmerzen des 20. Jahrhunderts

Aleksandar Hemon erzählt vom allgegenwärtigen Leid des 20. Jahrhunderts, das Pinto bei so gut wie allen Lebensstationen, egal wo auf dem Erdball begegnet. Zwar kommt es immer wieder zu Umbrüchen, folgen neue Schauplätze oder neue Figuren, gleich aber bleiben stets die zugrundeliegenden Themen der Flucht, Vertreibung und des Gefühls, nie wirklich anzukommen.

Themen, die nur diesen Roman bestimmen, sondern auch in der Biografie ihres Autors eingeschrieben sind. So gab dieser nach der Belagerung Sarajevos 1992 ähnlich wie sein Held Rafael Pinto gezwungenermaßen die Heimat auf, um fortan in den USA zu leben und auf Englisch zu schreiben.

Diese Erfahrung des fremdbestimmt Getriebenen merkt man Die Welt und alles, was sie enthält unmittelbar an. Genauso ist sein Roman aber auch die Geschichte einer großen Liebe. Einer Liebe, die alles erträgt, alles hoffet und die alles duldet, selbst als Osman Pinto verlassen muss und ihm die Verantwortung für sein Kind überträgt.

Schmerzen und Liebe, es ist nur eines von vielen Komplementärbeziehungen in diesem Roman, der mit seiner queeren Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwas an Alice Wills Durch das große Feuer erinnert. Dort wo sich Will allerdings auf den Großen Krieg konzentriert, geht Hemon noch deutlich weiter, indem er die Gewalterfahrungen und Vertreibung seines Helden bis ins Jahr 1949 dehnt und so das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Brutalität eindrücklich schildert.

Fazit

Die Welt und alles, was sie enthält ist die herausfordernde, wirklich globale Reise eines Helden, der über alle Grenzen hinausgeht, der Stürme überlebt und der angetrieben von seiner Liebe zu Osman und zu seinem Kind immer weiter geht. Nicht immer einfach zu lesen, mit vielen fremdsprachigen Wortfetzen, harten Schnitten und Umbrüchen gestaltet bereist dieser Roman eine Vielzahl an Schauplätzen, thematisiert die Gewalt im Chinesisch-Japanischen Krieg 1937 ebenso wie die Entbehrungen während der Durchquerung der Taklamakan-Wüste oder die Verzweiflung in den nassen und kalten Schützengräben des Ersten Weltkriegs.

Mag Hemons Roman auch nicht die ganze Welt enthalten, so steckt doch ein ganzes Stück der globalen Geschichte des 20. Jahrhunderts in diesem Roman. Eine herausfordernde Lektüre, gewiss nichts für Nebenbei, aber voller Intensität, Vielsprachigkeit und queerer Liebe (übersetzt von Henning Ahrens).


  • Aleksandar Hemon – Die Welt und alles, was sie enthält
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-546-10047-2 (Claassen)
  • 400 Seiten. 26,00 €
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Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones

Ein Titel so lang wie die Lebensreise, die der britische Journalist und Werbetexter Owen Booth in seinem Debütroman schildert: Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones erzählt von der Mannwerdung, der Heldenreise und den kuriosen Begegnungen des jungen Daniel Bones, der Ende des 18. Jahrhunderts von seiner englischen Heimat bis nach Südfrankreich und Italien gelangt.


Es ist ein seltsamer Anblick, der sich dem jungen Daniel Bones bietet, als er eines Abends um das Jahr 188- herum mal wieder durch die Marschlandschaft seiner Heimat streift. Ein Mann in einem schwarzen Anzug entsteigt dem Wasser, um sich bei Daniel über den richtigen Weg zum Fluss W. zu erkundigen. Auch wenn er den falschen Abzweig im Wasser genommen hat – Daniel ist von der Erscheinung des Mannes so eingenommen, dass er ihm wenig später auf dessen abenteuerlichen Reise folgen wird.

Als das Etwas näher kommt, erkenne ich, dass es tatsächlich ein Mensch ist, aber er schwimmt nicht, sondern gleitet wie in einem sehr niedrigen Eskimokajak dahin. Er liegt flach auf dem Rücken im Wasser in einer Art aufgepumptem Anzug, hat nur den Kopf angehoben und bewegt sich mithilfe eines kurzen Doppelpaddels vorwärts. Dabei zieht er eine kleine Trage aus Segeltuch, in der vermutlich seine Habseligkeiten oder seine Ausrüstung verstaut sind, an einem mehrere Meter langen Tau hinter sich her.

Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones, S. 20

Die Mutter tot, der Vater ein Schläger und Alkoholiker, der dem kleinen Bruder schon einmal den Arm bricht, wenig Perspektiven außerhalb einer Nachfolge im Austernzucht- und Schmuggelgewerbe – so begibt sich Daniel statt eines ebenso vorhersehbaren wie deprimierenden Lebens auf die Reise mit diesem seltsamen Mann, der aus dem Wasser kam und auf den Marktplätzen des Landes für seine Erfindung, den aufblasbaren Taucheranzug, wirbt.

Aufgemuntert durch die Gemeinschaft seines Heimatdorfs, die durch eine patriotische Rede des tollkühnen Captain Clarke B. in Euphorie versetzt wurde, wird er zum Assistenten des schillernden Captain, der ihn auf seiner Reise begleitet und fortan als dessen Adlatus fungiert.

Mit dem Froschmann von England bis nach Italien

Im Gefolge des tollkühnen Froschmanns reist er durch kleine englische Städte und Weiler, hilft dem Captain bei der Vorführung von dessen Tauchanzug, sammelt Geld ein und lernt das Leben in seiner ganzen Fülle kennen. Per Schlauchboot geht es über den Ärmelkanal, Stationen in Frankreich und Italien werden auf der Reise folgen. Immer zieht der Captain eine Melange aus neugieriger Bevölkerung, Organisierter Kriminalität, faszinierten Würdenträgern und äußerst hingebungsvollen Frauen an.

Owen Booth - Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones (Cover)

Denn dieser Captain, den wir durch die Beschreibungen seines Lehrjungen kennenlernen, er ist vieles: ein Scharlatan, ein Abenteurer, ein Erotomane, eine Glücksspieler und noch so viel mehr. Immer wieder erzählt er fantastische Märchen, will mit der Vorführung seines Anzugs mal Seeleute retten, mal die maritimen Streitkräfte unterstützen – immer aber irgendwie einen eigenen Vorteil herausschlagen, der ihn in Kontakt mit den Reichen und Mächtigen bringt und für eine gefüllte Börse sorgt.

Bis zum König von Italien bringt es der Captain auf seiner Tour, den er mit Daniel im Gefolge in Neapel am Fuße des Vesuvs kennenlernt und der schließlich durch ein Komplott sterben soll, in welchem Daniel eine entscheidende Rolle spielt.

Es sind tolldreiste Episoden wie diese, die den Reiz von Owen Booths Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ausmachen.

Vom Rheinfall bis zum König von Italien

Dieses Buch ist als großer Bilderbogen angelegt, der voller Begegnungen und außergewöhnlicher Momente steckt. Kleinen Prinzessinnen, Mönchen, Räuberbanden oder reiche Witwen, Daniel Bones lernt sie alle kennen. Eine lebensgefährliche Fahrt den Rheinfall hinab, die Explosion eines Schiffs mit anschließender Rettung oder spätrömisch-dekadente Orgien sind nur einige Episoden in diesem an Geschichten und Figuren reichen Roman.

Das ist nicht frei von Komik und Sinn für Skurrilität, die mich persönlich manchmal an den lakonischen Witz Wes Andersons erinnerte. Als Referenzpunkte kann aber auch ebenso Esi Edugyans Washington Black herangezogen werden, mit dem sich Booths Buch in meinen Augen die Anklänge an Jules Vernes technologieoffene Reiseliteratur á la In 80 Tagen um die Welt teilt.

Doch nicht nur an diese Erzähltradition knüpft Booths Roman an. Wenn man wollte, könnte man Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones auch in der Erzähltradition des Barock verorten, und das nicht nur des Titels wegen.

Reiseliteratur mit Anklängen an die Barockliteratur

Aventüre und Heldenreise sind das Motto, das über den drei Büchern steht, die den Roman unterteilen (und die selbst wiederum jede Menge kleine Kapitel mit sprechenden Titeln aufbieten). Ähnlich wie Grimmelshausens Simplicissimus oder Swifts Gulliver ist auch Daniel Bones ein ständig Reisender, der die Lande durchmisst und dem die unglaublichsten Dinge auf seiner Reise widerfahren, wovon er in diesem Buch Zeugnis ablegt.

Bei diesem Fokus auf Vorankommen, Erleben und Staunen ist es die charakterliche Entwicklung und die im Vergleich zu diesem immensen Schilderungswillen manchmal etwas Zeichnung der Figuren, die bei Booths Debüt ins Hintertreffen gerät und manchmal etwas flach ausfällt. Auch sprachlich geht Booth den einfachen Weg, indem er Daniel als manchmal etwas naiven und nicht allzu gebildeten Jungen zeigt, dessen Sprache frei von historisierenden Burlesken ist und den Blick auf die Handlung wirklich nicht verstellt. Als Unterhaltungsroman mit rasantem Plot funktionieren diese wirklich wahren Abenteuer aber hervorragend. Stets treibt die Handlung voran, immer wieder warten neue Figuren und Episoden am Wegesrand. Langweilig wird es hier nie!

Fazit

Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ist ein Abenteuerroman alter Schule, der die Retro-Anmutung des Covers auch im Inneren einlöst. Originell und von großer Handlungsfülle ist die Welt an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert, in die uns Owen Booth in seinem Abenteuer mitnimmt. Mit Daniel Bones und Captain Clarke B. kann man wirklich in diese historischen Welten eines wirklich ausgezeichnet, nämlich abtauchen!


  • Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-86648-663-8 (Mare)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €
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Annika Büsing – Koller

Erzählte Annika Büsing in ihrem Debüt Nordstadt eine widerborstige Romanze am Beckenrand eines Hallenbads, so schickt sie in ihrem zweiten Roman Koller zwei junge Männer auf einen Roadtrip von Leipzig bis ins Ahrtal.


„Ich bin Koller“, hattest du gesagt, als hinter den Bäumen die Sonne unterging.

Auf dem Bild an der Wand sahst du aus wie der, der du gewesen warst, bevor dir jemand deinen Spitznamen gabe. Während ich dich betrachtete, standst du plötzlich hinter mir.

„Das war an der Ostsee“, sagtest du.

Dein Atem streifte meinen Nacken. Wir sahen beide auf das Bild an der Wand. Ein glücklicher, junger Mann, lachend auf einem Gartenstuhl in einer Pose zwischen Zurücklehnen und Aufstehen. Ich drehte mich zu dir um. Du küsstest mich. Ich kann das nur hart und klar, doch dein Kuss war weich und trüb. Er ließ keine klaren Absichten erkennen, er floss über vor Gefühl. Mit dem Daumen strichst du über die Falte zwischen meinen Augen. Dann zimmerten wir ein Frühstück hin: Eier, Brot, eine Kanne Kaffee. Du sahst verschlafen aus, trugst noch immer das T-Shirt vom Abend zuvor.

„Ich muss dich mal was Ernsthaftes fragen“, sagtest du kauend. „Wie dringend willst du ans Meer?“.

„Sehr dringend“, sagte ich.

„Dann sollten wir das angehen“, sagtest du. „Meiner Oma, die, von der ich dir erzählt habe, gehört ein Haus in Klütz. Wir können dahin, wenn du willst.“

Annika Büsing – Koller, S. 14 f.

Gesagt, getan. so schnell kann es gehen. Am Nachmittag zuvor haben sich Chris und Kolja alias Koller noch in einem Park in Leipzig kennengelernt, am nächsten Tag soll es schon auf eine Fahrt an die Ostsee gehen. Doch so leicht, wie der Plan auf den ersten Seiten von Annika Büsings neuem Roman erscheint, so leicht ist es dann doch nicht.

Von Leipzig nach Klütz (eigentlich)

Annika Büsing - Koller (Cover)

Das beginnt schon mit dem Reisevehikel, einem nahezu prähistorischen Polo II mit vier Gängen, vierzig PS und einer losen Beifahrertür. Mit diesem Gefährt soll es nach Klütz gehen, doch schon am ersten Tag des Roadtrips geht es für Chris und Koller statt in den Norden erst einmal in den Südwesten der Bundesrepublik. Denn Koller steckt voller Überraschungen. So hat er nicht nur eine Partnerin namens Ella, auch eine Schwester namens Birte gibt es. Diese lebt in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderung in Ludwigsburg, wohin sich die beiden Männer nun als erstes aufmachen.

Doch nicht nur mit der Enthüllung der Existenz einer Schwester überrascht Koller Chris vollkommen. Auch ist Koller Vater eines vierjährigen Kindes, das bei seinen Großeltern wohnt, und das ausgerechnet im Ahrtal, das zum Zeitpunkt der Handlung im Sommer 2021 überschwemmt wurde und nun kaum betretbar ist.

So machen sich Chris und Koller nach der Stippvisite bei seiner Schwester auf, Kollers Kind dort im Ahrtal zu besuchen und sich zu versichern, dass es Hannah gutgeht. Es wird nicht das letzte überraschende Moment dieses Roadtrips sein, dessen Ziel und Umfang zu Beginn des Romans noch ganz überschaubar erschien.

Ein Roadtrip in sieben Tagen

Doch so verschlungen wie die Wege des Lebens der Protagonisten in Annika Büsings Geschichte sind eben auch die Wege, auf denen die beiden Männer wandeln beziehungsweise mit dem schrottreifen Auto zuckeln. Da führt der Weg zum Ziel dann eben auch einmal über einen Forstweg oder endet in einer Verfolgungsjagd.

All das inszeniert Annika Büsing im biblischen Schöpfungszeitraum der sieben Tagen. Neben der manchmal etwas springenden Chronologie der Tage fügt sie noch kursiv gesetzte Kurzbiografien von drei indirekt an der Handlung beteiligten Frauen ein, die durch ihre kurz angerissenen Lebensgeschichten einen etwas klareren Blick auf Chris und Koller erlauben. So werden die biografischen Hintergründe und Beziehungen der beiden jungen Männer klarer und zeigen die Erfahrungen und Brüche im Leben, die sie erfahren haben.

Annika Büsing gelingt wieder ein komprimierter und schneller Roman mit ebenso schnellen Dialogen und kurzen, aber in markantem Sound gesetzten Sätzen, die die Handlung vorwärtstreiben. Kennenlernen im Park, erstaunliche Enthüllungen aus dem Leben Kollers, Abstecher von Leipzig nach Ludwigsburg, ins Ahrtal und nach Klütz – und das alles in gerade einmal gut 170 Seiten. Annika Büsing verliert hier keine Zeit und drückt aufs erzählerische Gaspedal

Lebenswelten junger Erwachsener

Mit Koller erweist sie sich nach Nordstadt wieder einmal als genaue Beobachterin der Lebenswelten junger Erwachsener, in der nicht mehr alleine binäres Geschlechterdenken die Wahl des Partners beeinflusst und in der noch vieles möglich erscheint.

Ihr gelingt eine queere Lovestory und ein Roadtrip, der natürlich in der Tradition von Tschick steht, und das nicht nur, weil beide Titel auf der onomatopoeischen Vereinfachung der Vornamen der jeweiligen Protagonisten gründen. Der Aufbruch im Sommer mit einem schrottreifen Auto, das schrittweise Eintauchen in die Tiefe ihrer Charaktere, prägende Liebesgeschichten und der Geist von Aufbruch und Abenteuern, der beiden Werken zueigen ist. All das lässt eine gewisse thematische und stilistische Nähe der beiden Roadtrip-Romane erkennen.

Wo man in niedrigeren Klassenstufen Wolfgang Herrndorfs zeitgenössischen Klassiker liest, da kann in höheren Klassenstufen der Lektüreabgleich mit Koller sicherlich reizvolle Unterrichtsstunden und Diskussionen ergeben. Am spannendsten wäre es sicherlich, würde Annika Büsing selbst gleich eine solche Stunde gestalten, ist sie doch als Autorin und gleichzeit Deutsch- und Religionslehrerin an einem Gymnasium in Bochum eigentlich die perfekte Wahl für einen solchen Abgleich beider Werke und der Erfahrungswelt der Schüler*innen.

Fazit

Hier in Koller erweist sie sich abermals als ebenso gute Beobachterin wie Beschreibende der Leben junger Menschen. War es in Nordstadt die Enge des Schwimmbads, das sie für eine konzentrierte Liebesgeschichte als Kammerspiel nutzte, so setzt sie nun in ihrem zweiten Roman auf das genaue Gegenteil und erzählt von Entgrenzung, Weite und den nahezu unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten eines Roadtrips in der Tradition von Wolfgang Herrndorfs Tschick.

Ihr gelingt ein überraschender, schneller Roman zur Zeit der Ahrtalflut und des Coronasommers 2021, der zwei junge Männer immerhin sieben Tage ihres Lebens begleitet und das in einer ebenso prägnanten wie treffenden Sprache. Rau, aber ehrlich. So fühlt sich dieser Roadnovel mit Chris und Koller an.


Eine weitere Meinung zu Koller gibt es im Gespräch auf Deutschlandfunk Kultur mit Rainer Moritz, er schlug Annika Büsings Debüt Nordstadt im vergangenen Jahr für den Bayerischen Buchpreis vor. Zwar erhielt das Buch diese Auszeichnung nicht, dafür wurde Annika Büsing mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Mara Cassens-Preis ausgezeichnet.


  • Annika Büsing – Koller
  • ISBN 978-3-96999-196-1 (Steidl)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sarah Winman – Lichte Tage

Vincent van Goghs Leben und Werk als Inspiration für ganz unterschiedliche Menschen im Oxford zu Beginn der 90er Jahre. Davon erzählt Sarah Winman in ihrem Roman Lichte Tage auf berührende Art und Weise.


Es ist ein Zufallsfund, den Dora bei einer kleinen Tombola in Oxford zu Beginn 50er Jahren macht. Denn nach dem Ziehen ihrer Losnummer entscheidet sie sich kurzerhand statt des von ihrem Mann präferierten Scotches, einem Radio oder einer Packung Butterkekse für ein Ölgemälde. Ein Fall für „Bares für Rares“ ist das Gemälde allerdings kaum, vielmehr handelt es sich um eine unbedeutende Kopie eines der wohl berühmtesten Gemälde der Kunstgeschichte, nämlich den Sonnenblumen von Vincent van Gogh, die dieser in einigen Variationen in der Provence anfertigte.

Sinnstiftende Sonnenblumen

Für die von Schwangerschaftsübelkeit gepeinigte Dora wird das Bild zu einem Rettungsanker in ihrer wenig freudvollen Ehe. Und auch für ihren Sohn Ellis wird das Bild zu einem Ankerpunkt, den er mit dem kargen und wenig liebevollen Zuhause auch über den Tod seiner Mutter hinaus verbindet.

Sarah Winman - Lichte Tage (Cover)

Er arbeitet als sogenannter Tin Man in der Lackiererei der örtlichen Autofabrik im Schichtbetrieb. Virtuos erkennt er Dellen und schadhafte Stellen in Autokarosserien, die er mit viel Feingefühl und Geschick ausklopft und repariert. 45 Jahre ist er alt, als der Hauptteil des Buchs im Jahr 1996 einsetzt. Ihn umweht ein Gefühl der Melancholie und Einsamkeit, deren Gründe Sarah Winman im Folgenden behutsam erklärt.

Denn Ellis hat nicht nur bereits seine Mutter verloren, auch seine Frau Annie ist bereits vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mit an Bord des Unfallwagens befand sich auch Michael, ein ganz besonderer Freund für Ellis. Ihre Liebe und die besondere Beziehung zwischen Ellis, Annie und Michael erzählt Lichte Tage, wofür Winman für die Perspektive von Michael die Form eines Tagebuchs wählt, das im November 1989 einsetzt.

Eine besondere Beziehung

So gelingt ihr die Gegenperspektive auf eine besondere Beziehung, die von queerer Liebe, Sehnsucht, nicht erfüllten Begehren und dem Verpassen der richtigen Momente geprägt ist. Man sollte an dieser Stelle nicht viel von der Handlung und ihren sich langsam öffnenden Beziehungsebenen preisgeben, um den Leküregenuss dieses großartigen und emotional eindringlich geschilderten Roman zu schmälern. Aber dennoch lässt sich über das ungewöhnliche Dreiergespann und ihre Geschichte sagen, dass in dieser bittersüßen Erzählung über das Miteinander viel um Nicht-Ausgesprochenes kreist.

Obwohl sich Michael und Ellis schon so lange kennen und dieser als Best Man, also Trauzeuge für die Ehe von Ellis und Annie fungiert, verschwindet er doch wieder spurlos für viele Jahre aus dem Leben der zwei Partner. Was er in dieser Zeit gemacht hat, welche Erfahrungen ihn prägen und was ihn damit mit dem Schöpfer der berühmten Sonnenblumen, Vincent van Gogh, verbindet, das fügt sich mit dem Schicksal von Ellies und Annie zu einem runden Buch, das vom Anfang bis zum Zirkelschluss des Buchs in sich stimmig ist und bleibt.

Nicht zuletzt schafft es Sarah Winman, unkitschig von Liebe, queerem Begehren und Männlichkeitsbildern der verschiedenen Generationen zu erzählen, etwa in den Passagen, die im Oxforder Arbeiterviertel spielen und die das monotone täglichen Tun am Fließband der Autofabrik einfangen (womit Sarah Winman auch an Douglas Stuarts Beschreibung der hypermaskulinen und homophoben Arbeiterwelt Glasgows erinnert). Wie sie Worte findet, mal sonnendurchflutete, mal oxofordgraue Stimmungsbilder malt und drei so unterschiedliche Leben in gar nicht einmal vielen Seiten einfängt, das ist beeindruckend.

Damit ordnet sich Lichte Tage in meinen Augen irgendwo zwischen Polly Samsons Der Sommer der Träumer, John Boynes Cyril Avery und Rebecca Makkais Die Optimisten ein.

Fazit

Auch wenn ich mich persönlich mit Floskeln wie „eindringlich“ und „emotional berührend“ schwertue, da sie gerade durch ihre salzstreuerhafte Verwendung in der Buchwerbung zu Schlagworten geworden sind, die abgenutzt und ungriffig erscheinen, so möchte ich sie im vorliegenden Fall doch ganz bewusst verwenden. Denn das was Sarah Winman mit Lichte Tage schafft, ist dass sie ganz unkitschig von verpassten Chancen, ungelebten Leben und unausgesprochener Liebe erzählt, für die so kein wirklicher Platz vorgesehen ist.

Ein Buch, das zu Herzen geht, das aufgrund seiner Kompositionsstruktur auch bei einer wiederholten Lektüre neue Blicke eröffnet und das in meinen Augen als wirklich gelungen zu bezeichnen ist. Eine große Empfehlung!


  • Sarah Winman – Lichte Tage
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-12034-9
  • 232 Seiten. Preis: 22,00 €
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Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Kaum ein Buchtitel verursacht einem Buchblogger ein derartig flaues Gefühl als der des Romans der Niederländerin Hanna Bervoets. In Dieser Beitrag wurde entfernt erzählt sie aber nicht von der immanenten Bedeutung von Back-Ups und Sicherungskopien, die digitales Schreiben und Publizieren erheblich vereinfachen, sondern wirft einen Blick hinter die Kulissen des Arbeitsalltes von Content Moderator*innen, die in sozialen Netzwerken gemeldete Beiträge sichten und kategorisieren – mit schlimmen Folgen für die Psyche, wie Bervoets zeigt.


Fand das Themenfeld der Digitalität zunächst recht spärlich einen Widerhall auf dem Feld der Literatur, so lässt sich in letzter Zeit hier langsam ein echter Wandel beobachten. Berit Glanz überführte in ihrem Debüt Pixeltänzer die Welt des Digitalen in die der Literatur und beschrieb eine Schnitzeljagd zwischen digitaler und echter Welt. In ihrem zweiten Buch Automaton, das in diesem Frühjahr im Berlin-Verlag erschien, zeigt sie in Form einer Spurensuche die Abgründe eines jener Tätigkeitsfelder auf, das uns die Digitalisierung beschert.

Bei ihr ist es die junge alleinerziehende Tiff, die für eine anonyme Firma als Micro-Job Überwachungsvideos hinsichtlich bestimmter Merkmale sichtet. Eine ebenso eintönige wie schlecht bezahlte Arbeit, die Glanz sehr eindrücklich schildert.

Im Buch von Hanna Bervoets steht nun eine sogenannte Content-Moderatorin im Mittelpunkt, die wie eine Schwester zur Heldin aus Glanz‘ Roman wirkt. Dass Glanz selbst einen Werbespruch für Bervoets Roman auf dem Buchumschlag beisteuert, ist da angesichts der Kongruenz der Themen nur konsequent.

Schöne neue Arbeitswelt

Okay. Und jetzt ein paar Dinge, die Sie bestimmt brennend interessieren, Herr Stitic – sind Sie bereit? Also: Alles, was meine ehemaligen Kollegen über die schlechten Arbeitsbedingungen erzählen, ist wahr. Hatten wir wirklich nur zwei Pausen, eine davon kaum sieben Minuten, die damit vergingen, dass wir an den zwei einzigen vorhandenen Toiletten anstehen mussten? Jep. Saßen sie uns im Nacken, wenn wir weniger als fünfhundert Tickets pro Tag schafften? Natürlich. Bekamen wir eine ernste Verwarnung, sobald unsere Trefferquote auf unter neunzig Prozent sank? Ganz bestimmt. Kam es zu Entlassungen, wenn manche regelmäßig einen zu niedrigen Score hatten? Ist vorgekommen. Und eine Stoppuhr, die anfing zu laufen, sobald wir unseren Bildschirm verließen, und sei es nur, um kurz mal die Beine zu strecken? So war das bei Hexa.

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt, S. 19

So war das bei Hexa, wie uns Kayleigh berichtet. Sie schreibt einen langen Brief über die 107 Seiten des Buchs, gerichtet an Herrn Stitic, einen Rechtsanwalt, der gerade eine Sammelklage gegen die Firma Hexa vorbereitet. Warum Kayleigh trotz aller Erfahrungen nicht Teil dieser Sammelklage sein möchte, das legt sie im Folgenden dar.

Ich bin doch keine Maschine

Hanna Bervoets - Dieser Beitrag wurde gelöscht (Cover)

Sie erzählt von den harten Arbeitsbedingungen und den noch härteren Belastungen für die Psyche, die die Arbeit der Content-Moderatorinnen bedeutet. Tag für Tag sichten sie als menschliche Maschinen gemeldete Beiträge, überprüfen sie hinsichtlich alles andere als nachvollziehbarerer Richtlinien, heben oder senken den digitalen Daumen, ob die Inhalte weiterhin auf den digitalen Plattformen gezeigt werden dürfen.

Sie erzählt von den Verformungen der Seele, die diese Arbeit bedeutet. Immer wieder gleiten psychisch Kolleg*innen ab, reagieren zunehmend rassistisch, stumpfen ab oder erleiden anderweitigen Schaden an Körper und Seele.

Ehemalige Kollegen gehen nur noch mit Elektroschocker ins Bett oder vor die Tür, andere finden gar keinen Schlaf mehr, so hat sie das Erlebte und das Gesehene mitgenommen. Aber inmitten dieser Menschenpresse aus Unmenschlichkeit, Leid und jedweder Grausamkeit ist auch Platz für die Liebe.

So verliebt sich Kayleigh an ihrem Arbeitsplatz in Sigrid, eine Kollegin, mit der sie eine stürmische Romanze beginnt. Doch ist die Beziehung der Beiden vor dem Druck ihres täglichen Erlebens und der Flut der Bilder gefeit? Oder kann man den Verformungen der eigenen Seele durch die Arbeit nicht einmal durch die Kraft der Liebe entkommen?

Wie kann ein Mensch das ertragen?

Das ist die Frage, die für mich den Kern von Dieser Beitrag wurde entfernt ausmacht. Was kann man als Mensch ertragen, wann schaut der Abgrund aus einem heraus, in dem man bei solcher Arbeit tagtäglich stundenlang hinschaut und sich dabei auf Regeln stützt, die ebenso widersinnig wie willkürlich sind?

Das beleuchtet Hanna Bervoets in ihrem Briefroman, ihrer langen Selbsterklärung ihrer Heldin Kayleigh sehr eindringlich. Sie richtet ähnlich wie Berit Glanz ihren Blick auf ein Tätigkeitsfeld, das durch die (vermeintlich) Sozialen Netzwerke erst erschaffen wurde, und das die meisten von uns weit wegschieben. Wen interessiert schon, was nach dem Klick auf einen „Melden“-Button auf einer Plattform passiert? Was sich Menschen anstellen von Maschinen ansehen, sichten und bewerten müssen?

Es ist so weit weg und fern von uns, ganz wie andere Teilbereiche – vom Sterben bis hin zur Fleischherstellung, deren Hintergründe wir so gut es geht ausblenden und uns nur mit den Endprodukten solcher Prozesse befassen wollen, seien es nun Würste, ein Grabstein oder eben eine saubere Timeline, in der alle zweifelhaften oder gewaltverherrlichenden Beiträge verschwunden sind.

So blenden Facebook, Twitter und Co ja alle weiteren Schritte nach dem Melden eines Beitrags aus und wahrscheinlich hat man selbst die Meldung rasch wieder vergessen. Aber wenn diese Meldungen dann eben Tag für Tag in höchster Schlagzahl auf fühlende Menschen einprasseln, hier lässt es sich eindrücklich nachvollziehen.

Fazit

In diesem Sinne ist Dieser Beitrag wurde entfernt ein aufklärerisches und engagiertes Buch, das für die Arbeit von Content-Moderator*innen sensibilisiert und die prekären Arbeitsbedingungen und das völlige Fehlen von psychologischer Unterstützung und Supervision beleuchtet. Und ein Buch, das inmitten von allem psychischen Leid und Druck aber auch die Möglichkeit einer Liebe eröffnet und so nuanciert von Schönem in Schrecklichem erzählt – und das knapp und präzise, ohne viel Rahmenhandlung oder Ausdeutungen. Fokussiert auf den Kernkonflikt zwischen Leid und Begehren, stabiler Arbeit und Druck auf der Seele erzählt Bervoets eine eindringliche Geschichte, die durch Form und Inhalt besticht.


  • Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt
  • Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
  • ISBN 978-3-446-27379-5 (Hanser)
  • 112 Seiten. Preis: 20,00 €

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